ner Petitesse herunterzuspielen. „Es
ist ein vollkommen normaler Vor-
gang, dass sensibel mit Daten umge-
gangen wird“, sagte er über die auf-
geflogene Schredderaktion seines en-
gen Mitarbeiters. Anfangs tat er das
mutmaßlich ungesetzliche Vernich-
ten von Daten als „Schlamperei“ ab.
Zuletzt redete er vom „Fehlverhal-
ten“ seines Mitarbeiters. Das Ganze
klingt ein wenig nach seinem ehema-
ligen Stellvertreter Strache, der sein
heimlich aufgenommenes Treffen
mit einer angeblichen Nichte eines
russischen Oligarchen auf Ibiza als
„b’soffene G’schicht“ abgetan hatte.
Dabei hatte er der vermeintlichen
Ost-Schönheit im Gegenzug für Wahl-
kampfhilfe zugunsten der FPÖ Vor-
teile in Aussicht gestellt, darunter die
Vergabe öffentlicher Aufträge an ihre
Firmen. Das einst so herzliche Mitei-
nander mit Strache ist für Kurz längst
Geschichte. Der frühere FPÖ-Chef
Heinz-Christian Strache behauptete,
Kurz selbst habe das Schreddern in
Auftrag gegeben. Das weist der Kanz-
lerkandidat strikt von sich. Das sei
„eine absolute Lüge“, sagte er an die
Adresse von Strache, der sich in die-
sem Sommer auf Ibiza erholt.
Strategie Verniedlichung
Wenn die Strategie der Verniedli-
chung des Skandals wie im Fall des
Schredderns von Kanzleramts-Fest-
platten nicht aufgehen sollte, hat
Kurz eine andere Strategie. Dann in-
szeniert sich der ÖVP-Chef gerne als
Opfer ungerechtfertigter Angriffe. So
auch in diesem Wahlkampf. „Die letz-
ten Tage haben das Ausmaß an
Grauslichkeit deutlich gemacht, das
dieser Wahlkampf mit sich bringen
wird“, schreibt Kurz auf Facebook als
Reaktion auf eine Schmuddelseite im
Internet. „Von links und von rechts
hagelt es fast täglich neue Untergrif-
fe, Diffamierungen und Dreck aus
der allertiefsten Schublade.“ Er em-
pört sich über gefälschte E-Mails.
„Dem nicht genug, werden auch Ge-
rüchte über Kinderpornografie, Dro-
genmissbrauch oder Korruption ge-
streut. Frei nach dem Motto: ‚Irgend-
was wird schon hängen bleiben‘,
wird nichts unversucht gelassen, uns
und damit unseren Weg für dieses
Land aufzuhalten.“
Die Strategie, sich als Opfer zu stili-
sieren, ist nicht neu. Bereits im Wahl-
kampf im Jahr 2017, als er gegen den
damaligen Kanzler und SPÖ-Chef
Christian Kern antrat, hat die Wahl-
kampfstrategie funktioniert. Viele
Wähler nahmen dem mit exzellenten
Manieren ausgestatteten damaligen
Außenminister Kurz die Opferrolle
ab. Den damaligen Kanzler Kern mit
seinem offenbar kriminellen Wahl-
kampfberater Tal Silberstein begrif-
fen sie hingegen als Täter. Kern ist
von der politischen Bildfläche längst
verschwunden. Der frühere österrei-
chische Bahn-Chef ist heute als Un-
ternehmer aktiv.
Bis zur Wahl einer neuen Regie-
rung wird Österreich von einer Be-
amtenregierung unter der Über-
gangskanzlerin Brigitte Bierlein ge-
führt oder besser verwaltet. Denn
große Initiativen sind von dieser Re-
gierung aus Staatsdienern nicht zu
erwarten. In der vergangenen Woche
hat sich die Beamtenregierung in die
Sommerpause verabschiedet. Zum
zunehmend unappetitlich geführten
Wahlkampf schweigt die Übergangs-
kanzlerin beharrlich. „Wir erleben ei-
ne Diskussion zwischen der Vorgän-
gerregierung und der Vorvorgänger-
regierung. Das wollen wir nicht
kommentieren“, ließ sie über ihren
Regierungssprecher ausrichten.
Dann ging es in den Urlaub.
Für Kurz ist die parteilose Über-
gangsregierung eine ideale Konstel -
lation. Denn sie unterstützt ihn indi-
rekt. Sein enger Berater und Ver -
trauter Alexander Schallenberg
fungiert als Außen-, Kultur- und Me-
dienminister und macht darin eine
„bella figura“. Kanzlerin Bierlein gilt
ohnehin als konservatives Bollwerk.
Auch wenn sich die Juristin zu der
Schredderaffäre nicht konkret äußert
und auf die Ermittlungen der Wirt-
schafts- und Korruptionsstaatsan-
waltschaft verweist, stellt sie sich hin-
ter die Beamten und Mitarbeiter des
Kanzleramtes, von denen viele aus
der Regierungszeit von Kurz stam-
men. Alle würden „ganz hervorra-
gende Arbeit“ leisten, „sind unglaub-
lich loyal, und ich stehe hinter diesen
Personen“, sagte die 70-Jährige.
Kurz hat über Jahre das Image des
Unantastbaren gepflegt. Doch vor al-
lem die Ibiza-Affäre und das unrühm-
liche Ende der Rechtskoalition haben
ihn entzaubert. Selbst die Medien ge-
hen auf Distanz. Der frühere Heraus-
geber der Zeitung „Kurier“ und jetzige
Neos-Wahlkämpfer Helmut Brandstät-
ter hat ein Buch veröffentlicht. „Kickl
& Kurz – Ihr Spiel mit Macht und
Angst“ heißt es. Es ist eine Abrech-
nung mit Kurz und seinem früheren
FPÖ-Innenminister. Beide hätten Ös-
terreich in eine autoritär-populistische
Republik verwandelt. Der frühere
Chef des Nachrichtensenders N-TV be-
klagt die zunehmende Medienkontrol-
le durch die Regierung. „Medien ha-
ben für ihn keine wesentliche Rolle in
der Demokratie, er sieht sie eher als
Verbreitungsorgane seiner Botschaf-
ten“, resümiert Brandstätter über den
Ex-Kanzler. „Überall dieselben Bot-
schaften, dieselben Formulierungen.
Und wo nicht gespurt wird, erhalten
Vorgesetzte und Eigentümer deutliche
Anrufe.“
Brandstätter hat inzwischen den
Beruf des Journalisten und Medien-
managers aufgegeben und steht auf
Platz zwei der Liste der liberalen Ne-
os. Die Partei, die vom Strabag-Grün-
der Hans-Peter Haselsteiner gefördert
wird, hat gute Chancen, im Herbst ei-
ne Koalition mit Kurz und seiner ÖVP
zu bilden. Im Gedächtnis von Kurz
hat sich tief eingebrannt, dass die Ne-
os die einzige Oppositionspartei wa-
ren, die im Juni gegen seine Abwahl
als Kanzler gestimmt haben.
Kurz kann sich seinen Partner
nach den Wahlen aussuchen. Die Op-
tionen reichen von einer Neuauflage
der Koalition mit der FPÖ über ein
Bündnis mit der SPÖ bis zu einem
Pakt mit den liberalen Neos und/oder
mit den Grünen. „Ich schließe grund-
sätzlich keine Koalitionsvariante
aus“, sagt Kurz. Doch eines ist für ihn
klar, der ehemalige FPÖ-Innenminis-
ter Herbert Kickl ist für den ÖVP-Chef
bei einem Bündnis zur Unperson ge-
worden. „Kickl sollte keinen Platz in
einer Regierung haben“, sagt der
Kanzlerkandidat.
Wirtschaft schwächelt
Kurz gibt sich siegesgewiss – nicht
nur im Silicon Valley, sondern auch
bei seinen inzwischen legendären
Wahlkampf-Bergtouren. 900 Anhän-
ger marschierten mit Kurz am letzten
Julisonntag auf den Kreuzkogel in
Großarl südlich von Salzburg – trotz
des schlechten Wetters. „Es gibt mir
unglaubliche Kraft und Motivation,
dass so viele heute dem Wetter trot-
zen, um mit uns gemeinsam bergauf
zu gehen“, sagt Kurz. Und er ergänzt:
„Während andere sich mit dem Ver-
breiten von Unwahrheiten beschäfti-
gen, bleiben wir unserem neuen Stil
treu und werben für unsere Ideen
und Vorstellungen, um Österreich an
die Spitze zu bringen“, sagt er.
Die wichtigste Idee ist eine steuerli-
che Entlastung der Arbeitnehmer
und eine unternehmensfreund -
lichere Wirtschaftspolitik. Denn die
Schwäche der Weltwirtschaft hat in-
zwischen auch das erfolgsverwöhnte
Österreich erfasst: Im zweiten Quar-
tal ist das Bruttoinlandsprodukt nur
noch um 0,3 Prozent gewachsen.
Kurz, der Ex-Kanzler, weiß, dass es
die Entwicklung der Wirtschaft ist,
die die Menschen wirklich umtreibt.
Und er, der Macher, gibt ihnen das
Gefühl, dass er die ökonomischen
Probleme anpackt. Und Skandal hin
oder her – das sollte reichen für seine
Wiederwahl.
Boris Johnson:
Sein Brexit-
Kurs stößt auf
Widerstand.
AFP
2004 2010 2019
+
+
±
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%
%
%
%
2004 2010 2019
6
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2
0
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2004 2010 2019
90
60
0
%
%
%
%
Österreich
Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Veränderung zum Vorjahr
+1,5 %
Arbeitslosenquote
in Prozent
4,7 %
70 %
Staatsverschuldung
in Prozent des BIP
HANDELSBLATT Quelle: EU-Kommission
Großbritannien
Brexit-Gegner
planen die
Wende
Kerstin Leitel London
G
erade einmal 84 Tage sind es
noch bis zum geplanten EU-
Austritt Großbritanniens – und
noch immer steuert das Land auf ei-
nen ungeordneten Brexit ohne Han-
delsabkommen zu. Der britische Able-
ger des US-Pizza-Lieferdiensts Domi-
no’s hat jedenfalls schon mal Toma-
tensoße, Ananas und Thunfisch ge-
bunkert, um für Lieferunterbrechun-
gen gewappnet zu sein. Doch die
Brexit-Gegner im Parlament haben
noch nicht aufgegeben.
Hinter den Kulissen überlegen sie,
wie sie Premier Boris Johnson von
dessen Kurs abbringen können. Zur
Not, warf der konservative Abgeord-
nete Dominic Grieve in die Debatte,
müsse die Königin eben Johnson ent-
lassen. Ein ungewöhnlicher Schritt,
gab er selbst zu. Aber die Stimmung
ist aufgeheizt.
Für Aufregung hatte vor allem ge-
sorgt, dass Dominic Cummings, ein
Berater des neuen Premiers, erklärte,
das Parlament sei nicht mehr in der
Lage, einen Brexit am 31. Oktober zu
verhindern. Johnson würde nicht zu-
rücktreten, wenn er ein Misstrauens-
votum im Parlament verlieren würde.
Genau dazu wollten Abgeordnete den
Premier aber zwingen.
Ein Misstrauensvotum sei eine dras-
tische Option, sagt Brexit-Experte
Alan Wager vom Londoner Thinktank
„The UK in a Changing Europe“, aber
wohl die einzige Möglichkeit, einen
ungeordneten EU-Ausstieg zu stop-
pen. Verliert die Regierung das Vo-
tum, haben die Abgeordneten 14 Tage
Zeit, eine neue Regierung zu bilden –
auch die Opposition. Findet sich in-
nerhalb von zwei Wochen keine neue
Regierung, die von einer Mehrheit der
Abgeordneten gewählt wird, kommt
es zu Neuwahlen. Diese, so erklärte
Regierungsberater Cummings Berich-
ten zufolge, müsste aber Premier
Johnson anberaumen, und der würde
sich dafür Zeit bis nach dem 31. Ok-
tober lassen. Und da bislang le-
diglich gesetzlich festgelegt
ist, dass Großbritannien zu
diesem Termin aus der EU
ausscheidet, aber keine zu-
sätzlichen Abkommen wie
der Brexit-Deal vereinbart
worden sind, gäbe es auto-
matisch einen No-Deal-Brexit.
So weit wird es aber nicht kom-
men, sind Brexit-Gegner wie Grieve,
ehemaliger Generalstaatsanwalt und
bis zur Brexit-Debatte loyaler Anhän-
ger der Regierungspartei, überzeugt.
Johnson könne gestoppt werden, auch
wenn die dafür nötigen Schritte nicht
einfach seien. Von dem Premier selbst
ist in dieser Debatte wenig zu hören.
Auch Gespräche mit Brüssel hat er of-
fenbar nicht eingeplant – vielmehr ge-
hen seine Minister auf Konfrontations-
kurs zur EU, indem sie dieser man-
gelnden Verhandlungswillen
vorwerfen. Die EU habe bisher „keine
Bewegung, keinen Kompromiss, keine
Flexibilität“ gezeigt, sagte der neue
Außenminister Dominic Raab bei ei-
nem Auslandsbesuch in Kanada.
„Wenn sich die EU nicht bewegt“,
werde Großbritannien eben ohne
Deal aus der EU ausscheiden, erklärte
er der BBC.
Kommentar Seite 12
Europa
DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151
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