Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1

„Kurzflüge von Stuttgart nach Frankfurt


oder München sind Unsinn. Aber auf


Flüge nach Berlin kann ich aus


Zeitgründen nicht verzichten.“


Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs Ministerpräsident,
lehnt ein Verbot von innerdeutschen Flügen ab.

Worte des Tages


Großbritannien


Bluffen bis


zum Ende


A


us Sicht vieler Briten hat der
Streit um den Brexit nun
wirklich seinen absoluten

Höhepunkt erreicht: Wenn der


neue Premierminister nicht auf das


Parlament hören will – das einen


No-Deal-Brexit verhindern will –,


muss eben die Queen einschreiten


und Boris Johnson entlassen, for-


dern Brexit-Gegner. Die 93-jährige


Monarchin in politische Streitereien


zu involvieren ist für viele Briten so,


als würde man sie auffordern, ihren


Fünf-Uhr-Tee selbst aufzugießen:


undenkbar.


Doch der Vorschlag zeigt, wie


entschlossen die Brexit-Gegner vor-


gehen wollen, um den gefürchteten


No-Deal-Brexit zu verhindern. Die


Abgeordneten in Westminster ha-


ben den Kampf nicht aufgegeben:


Sie sind vielmehr bereit, bis zum


Äußersten zu gehen.


Genau das ist auch die Taktik des


neuen Premierministers. Johnson


gibt den Brexit-Hardliner, der zwar


gerne einen Deal mit der EU schlie-


ßen würde – aber nur zu seinen


Konditionen. Und wenn die Europä-


er nicht auf diese eingehen, gibt es


keine Verhandlungen. Dann werde


Großbritannien am 31. Oktober


eben ohne Deal aussteigen. Basta.


Diensteifrig erklären seine Minister


schon, wer schuld an dem ganzen


Brexit-Chaos wäre: die EU.


Doch so wie kaum ein Brite tat-


sächlich damit rechnet, dass die


Queen sich in den Brexit-Streit ein-


mischen wird, so unwahrscheinlich


ist es auch, dass Johnson mit seiner


Taktik durchkommt. Der Wider-


stand im Parlament ist zu groß.


Würde er das aber schon jetzt aner-


kennen und einknicken, würde ihm


das zum Verhängnis: Bei den nächs-


ten Wahlen würden viele Wähler


zur Brexit-Partei überlaufen. Nur


wenn Johnson bis zuletzt den un-


nachgiebigen Hardliner gibt, kann


er auf einen Wahlsieg hoffen, wenn


er dann doch – ganz der vernünftige


Politiker – Neuwahlen einberuft. Bis


es so weit ist, wird Johnson die Vor-


bereitungen für den No-Deal-Brexit


vorantreiben. Erst wenn das Parla-


ment ihn stoppt, wird er anbieten,


eine Verlängerung in Brüssel zu ver-


langen und Neuwahlen einberufen.


Und die Queen bleibt unbehelligt.


Der neue Premierminister Boris
Johnson wird erst in letzter Minute
vom britischen Parlament
gestoppt, meint Kerstin Leitel.

Die Autorin ist Korrespondentin in


London.


Sie erreichen sie unter:


[email protected]


D


ie Zuwanderungspolitik von Staaten
durchläuft meist einen Zyklus, das
zeigt die Geschichte. Auf Phasen der
Offenheit gegenüber Fremden folgen
Jahre des Einigelns, des Selbstverge-
wisserns der Gesellschaften. Irgendwann sind diese
dann bereit, die Grenzen wieder weiter zu öffnen.
Die jüngste Phase der Offenheit in Europa war
kurz und heftig – mehr als 1,5 Millionen Menschen
suchten 2015 in der EU Asyl. Heute befindet sich die
EU im Stadium des Einigelns, des Abschottens. Sie
macht es Migranten und Flüchtlingen extrem
schwer, sich bis dorthin durchzuschlagen. Im Osten
versperren den Asylsuchenden das Rückführungs -
abkommen mit der Türkei und scharfe Grenzkon-
trollen den Weg, im zentralen Mittelmeer kreuzen
nur noch private Seenotretter, und im Westen
schickt Spanien die meisten Bootsflüchtlinge umge-
hend nach Marokko zurück. In diesem Jahr wurden
daher nur noch 42 000 irreguläre Migranten an den
Außengrenzen aufgegriffen, obwohl die Zahl der
Flüchtlinge weltweit immer weiter steigt.
Diese Politik genießt die Unterstützung großer Tei-
le der Bevölkerung, die der unkontrollierte Zustrom
des Jahres 2015 nachhaltig verunsichert hat. Aber die
Abschottung birgt auch für Europa Kosten, ethische
wie wirtschaftliche. Sie wurden von vielen bislang
ausgeblendet, drängen nun aber nach und nach in
die öffentliche Wahrnehmung. Im Laufe der Zeit,
wenn die negativen Folgen stärker sichtbar werden
und die Erinnerung an 2015 verblasst, dürfte das
Pendel wieder in die Gegenrichtung schwingen.
Einiges, was derzeit an den EU-Außengrenzen pas-
siert, lässt sich mit dem Gerechtigkeitsempfinden
der meisten Menschen kaum vereinbaren. Dazu zäh-
len die furchtbaren Bedingungen in den libyschen
Haftzentren, in die die libysche Küstenwache abge-
fangene Migranten bringt. Zudem häufen sich die
Hinweise auf brutales Vorgehen von Grenzschützern
und rechtswidrige Zurückweisungen etwa in Bulga-
rien, Ungarn oder Kroatien. Die europäische Grenz-
schutzagentur Frontex hat die Praktiken der natio-
nalen Beamten wohl ignoriert. Die Agentur wird der-
zeit massiv ausgebaut. Die EU-Kommission als deren
Aufsichtsbehörde muss dafür sorgen, dass auch die
Kontrollmechanismen mitwachsen.
Die wirtschaftlichen Kosten der Abschottung wie-
derum werden in wenigen Jahren unübersehbar
sein. Die Bevölkerung altert in den meisten EU-Staa-
ten, der zunehmende Fachkräftemangel bremst das
Wirtschaftswachstum. Mehr gesteuerte Zuwande-
rung von Arbeitskräften wäre ein Teil der Antwort,
aber darüber mag auf EU-Ebene derzeit kaum eine

Regierung reden – die Asyldebatte hat das Klima da-
für vergiftet.
Umso löblicher ist es, dass die Große Koalition in
Deutschland kürzlich das Fachkräfteeinwanderungs-
gesetz verabschiedet hat. In anderen EU-Staaten
dürfte die Wirtschaft den Druck auf die zögerlichen
Regierungen ebenfalls erhöhen. Denn auch in migra-
tionskritischen Boomländern wie Polen oder Ungarn
werden die Arbeitskräfte knapp.
Europa braucht weder Abschottung noch grenzen-
lose Offenheit. Europa braucht eine geregelte Zu-
wanderung, die seinen eigenen Interessen und sei-
nen Werten gerecht wird. Die Bausteine einer sol-
chen Politik sind kein Geheimnis, sie liegen auf dem
Tisch. Dazu gehören engmaschige, aber die Mensch-
lichkeit wahrende Kontrollen an den EU-Außengren-
zen. Dazu gehören gemeinsam betriebene Asylzen-
tren auf europäischem Boden, in denen unweit der
Grenze die Anträge geprüft werden. Wem Schutz ge-
währt wird, sollte auf die anderen Mitgliedsländer
verteilt werden. Nicht mit der Gießkanne, sondern
entsprechend der unterschiedlichen Aufnahmebe-
reitschaft der jeweiligen Länder und Gesellschaften.
Wer sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen zurück-
hält, sollte dafür mehr Geld und Personal zur Verfü-
gung stellen.
Zu einem funktionierenden System gehören auch
Kooperationsabkommen mit den Herkunfts- und
Transitländern, vor allem in Afrika. Deren Regierun-
gen werden sich aber nur zur Rücknahme abgelehn-
ter Asylbewerber bereit erklären, wenn auch ihre
Länder profitieren. Die Europäer müssen ihnen da-
für neben finanziellen Hilfen auch weit mehr legale
Einreisemöglichkeiten als bisher für Arbeitskräfte,
Studenten und Auszubildende anbieten. Um mehr
Arbeitsplätze vor Ort in Afrika zu schaffen, sollte die
EU schließlich reformwillige Staaten massiv dabei
unterstützen, ein investitionsfreundlicheres Umfeld
zu schaffen.
Vieles davon ist nicht einfach umzusetzen. Bislang
aber scheitert es schon am fehlenden politischen
Willen, die Aufgabe überhaupt anzugehen. Viele Re-
gierungen haben Angst vor Populisten, in Italien
oder Ungarn sitzen die Fremdenfeinde selbst in der
Regierung. Die neue Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen wird versuchen, die Regierungen zum
gemeinsamen Handeln zu bewegen. Aber vermutlich
wird es noch einige Zeit dauern, bis sich die EU vom
Schock von 2015 erholt hat.

Leitartikel


Der Preis der


Abschottung


Europa verschanzt
sich und macht es
Asylsuchenden
schwer. Die
Kosten dieser
Politik werden
zunehmend
sichtbar, findet Till
Hoppe.

Europa


braucht eine


geregelte Zu-


wanderung,


die seinen


eigenen


Interessen und


seinen Werten


gerecht wird.


Der Autor ist Korrespondent in Brüssel.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151


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