Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1

Pierre Heumann Tel Aviv


W


ährend eines Helikopter-
flugs entlang der Küste zwi-
schen Tel Aviv-Jaffa und
dem nördlich gelegenen
Caesarea zeigt uns Moshe
Yanai, wie Israel zum Innovationshotspot mit
der weltweit höchsten Start-up-Dichte wurde.
Mehr als ein Dutzend Einhörner gibt es dort, al-
so junge Firmen mit einer Bewertung von mehr
als einer Milliarde US-Dollar. Es bestehe ein en-
ger Zusammenhang zwischen dem Ausbrechen
aus alten Denkmustern und dem technischen
Fortschritt, fasst er seine Theorie zusammen.
Um uns das in einer historischen Perspektive
vorzuführen, hat er hinter dem Pilotenknüppel
Platz genommen und kreist über der alten Ha-
fenstadt Caesarea. Hier habe König Herodes vor
2000 Jahren mit dem Aquädukt, der noch heute
deutlich zu erkennen ist, Wasser aus den umlie-
genden Bergen transportiert und damit den Bür-
gern einen hohen Lebensstandard ermöglicht:
„Die hatten sogar Toiletten mit fließendem Was-
ser.“ Südlich von Caesarea, über dem 4000 Jah-
re alten Hafen von Jaffa, beschreibt er die da-
mals aufkommende Seefahrt als Motor für das
anschließende Wachstum.
Sprung in die Gegenwart: In Israel ist eine
High-Tech-Szene entstanden, die den Vergleich
mit dem Silicon Valley nicht zu scheuen
braucht. Nirgends gibt es pro Kopf mehr Start-
ups, die an der Zukunft des Lebens und der Ar-
beit forschen. In der ersten Jahreshälfte 2019
sammelten High-Tech-Firmen insgesamt 3,9 Mil-
liarden Dollar Venture Capital ein – Insider spre-
chen von einem Rekordergebnis.
Seine Hubschrauber-Show sieht Yanai auch als
Protest gegen den politischen Einfluss der Ultra-
orthodoxen im Land, die nichts anderes als die
Heilige Schrift im Kopf haben. Deren Absage an
die Technologie und ihr Verzicht auf die ständi-

ge Suche nach Innovationen hätten einen „ver-
heerenden Einfluss“ auf das Land, schimpft er,
während unter uns Segelschiffe und Surfer die
Freuden genießen, die das Meer bietet.
Auch wichtigen Kunden führt Yanai seine et-
was handgestrickt anmutende Theorie über
Triebfedern der Innovation gern auf seinen
Rundflügen vor. Die Klientel kommt zu ihm, weil
er einen beachtlichen Leistungserfolg beim Um-
gang mit dem stetig und rasant anschwellenden
Datenstrom hat.
Die digitale Transformation verändere die
Komplexität und das Ausmaß der Datenspeiche-
rung, sagt der erfahrene Speicher-Guru. Er wol-
le deshalb helfen, das Wissen der Menschheit zu
speichern und neue Formen des Computings
möglich zu machen, sagt er. Dazu hat er ein Sys-
tem perfektioniert, an dem er zuvor mehr als 40
Jahre gearbeitet hatte.

In zwei Jahren an die Börse


Sein Start-up Infinidat gründete der 70-Jährige vor
acht Jahren. Heute wachse es jährlich um über 30
Prozent bei Umsätzen von mehreren Hundert Mil-
lionen Dollar. Mit dem Unternehmen, dessen
Wert auf rund 1,6 Milliarden Dollar taxiert wird,
will er in zwei Jahren an die Börse. Derzeit hält er
eine Kontrollmehrheit von mehr als 50 Prozent.
Seine Angestellten besitzen weitere 20 Prozent,
den Rest halten Goldman Sachs und TPG Capital.
Yanai arbeitete in den 1970er-Jahren in den
USA für IBM, ab 1984 für Nixdorf, bevor er 1987
zu EMC wechselte. Dort war er bei der Entwick-
lung des Storagesystems Symmetrix beteiligt,
das Dell/EMC heute noch als führendes Quali-
tätsprodukt vermarktet. Damals schon ermög-
lichte sein System trotz niedrigerer Kosten höhe-
re Leistungen.
Der Absolvent der technischen Hochschule in
Haifa, der im Laufe der Jahre 40 Patente gesam-

melt hat, hatte sich vorübergehend in den Ruhe-
stand zurückgezogen. Aber jetzt sind Petabytes
und Racks wieder seine Welt. Er führt uns in
den Serverraum, zeigt auf einen Serverschrank
und erklärt, ganze Bibliotheken ließen sich in ei-
nem dieser Racks speichern, die sich nahtlos an-
einanderreihen. Zehn Petabytes könne man in
einem Rack unterbringen – was eine für Laien
schier unvorstellbare Datenmenge ist, wie fol-
gende Vergleiche zeigen: Ein Petabyte entspricht
der Menge von 745 Millionen Floppy Disks oder
1,5 Millionen CD-ROMs. Auf einem Petabyte hät-
ten zum Beispiel mehr als eine Milliarde Digital-
fotos Platz.
Wie schon im Hubschrauber lässt Yanai im-
mer wieder das Wort „Innovation“ fallen. Das
rasant wachsende Datenvolumen erfordere un-
konventionelles Denken. Yanai setzt Algorith-
men ein, um die blinde Masse der Hardware ab-
zulösen. Künstliche Intelligenz übernehme als
treibende Kraft die Verantwortung für erhöhte
Leistungen der Datenspeicher, was gleichzeitig
auch geringere Kosten ermögliche.
Im Laufe seiner Karriere, so Yanai, habe er im-
mer wieder nach Lösungen gesucht, die trotz
der Verwendung von kostengünstigem Material
Spitzenleistungen ermöglichen. Lediglich fünf
Prozent seines Speichersystems bestünden aus
teuren Teilen. Er stelle sich damit, sagt er sicht-
lich stolz, quer zur konventionellen Haltung von
Innovatoren. „Wer ein schnelles Auto von der
Qualität eines Porsche entwickeln will, greift in
der Regel auf hochpreisige Teile zurück“, fasst er
den Irrtum vieler Innovatoren zusammen. In
diese Falle tappe er nicht. Dadurch könne er
deutlich bessere Leistungen zu einem Bruchteil
der Kosten anbieten.
In Deutschland, das er als „strategischen
Markt“ bezeichnet, hat seine Firma 50 Petabyte
Speicherkapazitäten installiert. Zu seinen Kun-

Die Serie
Als Einhorn bezeichnet die
Gründerszene junge
Unternehmen, die mit
mindestens einer Milliarde
Dollar bewertet worden
sind. Weltweit ziehen im-
mer mehr Gründungen
Risikokapital an.
Die Handelsblatt-Korres-
pondenten haben Einhör-
ner in ihrem Berichtsge-
biet herausgesucht, deren
Entwicklung sie besonders
beeindruckt. Sie schildern
zudem, wie die Bedingun-
gen für aufstrebende Un-
ternehmen und Investoren
in ihrem jeweiligen Land
sind. Im zweiten Teil der
Serie beschreibt Pierre
Heumann die Trends in der
selbst ernannten Start-up-
Nation Israel.

In der kommenden
Woche berichtet
Korrespondent
Thomas Hanke über das
Medizin-Start-up Doctolib
aus Frankreich.

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Thomas Berger für Handelsblatt (3)

Einhörner in Israel


Krieg und


Hightech


Israel rühmt sich, ein Start-up-Land zu


sein. Die Denkweise der jungen Nation


hilft zwei Unternehmen für Datenspeicher


und Gaming, die Grenze zur


Milliardenbewertung zu durchbrechen.


Blick auf die
israelische
Küste bei
Tel Aviv.

Unternehmen & Märkte
DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151

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