Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1

Volkswagen


Das neue


Werk hat Zeit


I


n die Türkei oder nach Bulga-
rien? Die Diskussion darüber
scheint in Wolfsburg kein Ende

zu nehmen. Wo soll der Volkswa-


gen-Konzern sein schon länger ge-


plantes neues Mehrmarkenwerk an-


siedeln? Lieber doch in Bulgarien,


weil die EU-Mitgliedschaft mehr


Rechtssicherheit verspricht? Oder


ist die Türkei am Ende vielverspre-


chender, weil dort ein größerer Ab-


satzmarkt lockt?


Seit etwa einem Jahr wird bei


Volkswagen intensiv über diese Fra-


gen nachgedacht. Doch genau in


dieser Zeit hat sich auf dem Weltau-


tomarkt etwas ganz Entscheidendes


getan: Die Automobilindustrie ist


keine Wachstumsbranche mehr. In


den USA, in China und in Europa


geht es mit den Absatzzahlen ab-


wärts. Es hagelt Gewinnwarnungen


in der gesamten Branche. Auch der


VW-Konzern hat aus der Produkti-


onsplanung des laufenden Jahres


gut 400 000 Autos herausgenom-


men.


Warum wird bei VW ausgerech-


net in einer solchen Zeit über ein


neues Werk diskutiert? Allein schon


ein Blick auf die deutschen Werke


macht deutlich, dass die Diskussion


in die falsche Richtung läuft. Im


Stammwerk in Wolfsburg droht die


Gefahr, dass sich die Jahresproduk-


tion von zuletzt 700 000 auf


600 000 Autos zubewegt. Das noch


vor einem Jahr angedachte Produk-


tionsziel von einer Million Fahrzeu-


gen scheint heute unerreichbar.


Die Audi-Werke in Ingolstadt und


Neckarsulm sind ebenfalls schon


lange nicht mehr ausgelastet. Die


Konzernführung muss sich bald et-


was einfallen lassen, damit diese


beiden wichtigen Standorte noch


eine sichere Zukunft haben. Und


nicht nur in Deutschland, sondern


auch an ausländischen Standorten


wie Brüssel oder Bratislava ist die


Auslastung längst nicht mehr gesi-


chert.


Der Volkswagen-Konzern hätte


heute also Besseres zu tun, als sich


über ein neues Werk in Bulgarien


oder der Türkei Gedanken zu ma-


chen. Eindeutig wichtiger wäre es,


die vorhandenen Werke mithilfe ei-


ner realistischen Modellplanung or-


dentlich auszulasten.


VW sollte erst einmal seine
vorhandenen Fabriken füllen,
bevor eine neue gebaut wird,
meint Stefan Menzel.

„Auf den rückläufigen Markt reagieren wir mit


strenger Kostendisziplin und Erhöhung


unserer Wettbewerbsfähigkeit.“


Elmar Degenhart,
Chef von Continental

Worte des Tages


Der Autor ist


Automobilkorrespondent.


Sie erreichen ihn unter:


[email protected]


V


or knapp einem Jahr hat der Zahlungs-
dienstleister Wirecard die Commerz-
bank aus dem deutschen Leitindex Dax
verdrängt. Und die Entwicklung beider
Konzerne könnte kaum unterschiedli-
cher sein. Wirecard hat seinen Gewinn im ersten
Halbjahr kräftig ausgebaut und seine Prognose für
2019 am Mittwoch angehoben. Bei der Commerz-
bank ging der Gewinn dagegen deutlich zurück. Aus
Sicht des Instituts ist es nun deutlich schwerer, das
für 2019 ausgegebene Gewinnziel zu erreichen.
Wirecard ist an der Börse inzwischen rund 18 Mil-
liarden Euro wert. Die Commerzbank kommt aktuell
nur noch auf knapp sieben Milliarden Euro. Und an-
gesichts der Wachstumspläne von Wirecard und der
trüben Aussichten für deutsche Geldhäuser ist klar:
Die Schere zwischen dem Newcomer aus Aschheim
bei München und der Traditionsbank aus dem
Frankfurter Bankenviertel wird in den kommenden
Monaten und Jahren weiter auseinandergehen.
Die Entwicklung beider Unternehmen zeigt dabei
einen übergreifenden Trend in der Finanzbranche:
Vergleichsweise junge Firmen wie Wirecard oder der
Zahlungsanbieter Klarna konzentrieren sich auf
stark wachsende und profitable Bereiche des Finanz-
markts und feiern dort große Erfolge. Sie sind digital
unterwegs und können sehr schnell auf neue Trends
und veränderte Kundenbedürfnisse reagieren.
Alteingesessene Banken tun sich dagegen schwer,
ihre langjährigen Geschäftsmodelle umzukrempeln
und sich in einer neuen Welt zurechtzufinden, in der
viele althergebrachte Grundsätze nicht mehr gelten:
Für Einlagen, die Institute bei der Europäischen Zen-
tralbank (EZB) parken, bekommen diese heute keine
Zinsen mehr gutgeschrieben, sondern müssen Straf-
zinsen bezahlen. Das wird auf absehbare Zeit auch
so bleiben. Zudem rentieren sich viele Bankgeschäf-
te wegen der härteren Auflagen der Regulierungs -
behörden heute einfach nicht mehr.
Doch für das Siechtum der deutschen Banken sind
nicht nur die Rahmenbedingungen verantwortlich,
sondern auch strategische Fehlentscheidungen. Den
Boom im Zahlungsverkehr haben die Banken lange
verschlafen. Deshalb profitieren heute vor allem
Wire card, Ayden und Paypal davon, dass immer
mehr Menschen online und bargeldlos bezahlen


  • und nicht Deutsche Bank und Commerzbank.
    Der Zug ist inzwischen abgefahren. Der Versuch
    der deutschen Banken, mit dem Online-Bezahl -
    system Paydirekt eine gemeinsame Lösung im
    E-Commerce zu etablieren, kam viel zu spät. Selbst
    bei den Banken glaubt kaum jemand daran, dass aus
    Paydirekt noch eine Erfolgsgeschichte wird.


Auch in anderen Bereichen haben deutsche Groß-
banken Fehler gemacht. Die Deutsche Bank setzte
viel zu lange darauf, dass sich das Investmentban-
king erholt und wie vor der Finanzkrise Milliarden-
gewinne abwirft. Erst vor wenigen Wochen, also elf
Jahre nach dem Höhepunkt der weltweiten Finanz-
krise, hat sich der Vorstand zu deutlichen Einschnit-
ten durchgerungen. Im Rahmen des Umbaus, von
dem nicht nur das Investmentbanking betroffen ist,
sollen rund 18 000 Stellen gestrichen werden.
Der kleinere Nachbar Commerzbank, der in der
Finanzkrise vom Staat vor dem Aus gerettet wurde,
hat bereits früher tiefe Einschnitte vorgenommen.
Doch die Zahlen des ersten Halbjahres unterstrei-
chen, dass es auch bei den Gelben kein „Weiter so“
geben darf. Mit der bisherigen Strategie hat das Insti-
tut zwar zahlreiche neue Kunden gewonnen. Aber es
hat es bisher nicht geschafft, dies auch in deutlich
steigende Gewinne umzumünzen.
Hinzu kommt, dass die Herausforderungen für die
Commerzbank und andere deutsche Geldhäuser in
den kommenden Jahren größer werden. Im Zuge des
Konjunkturabschwungs wird es mehr Firmenpleiten
und Kreditausfälle geben. Und die Hoffnung, dass
die Europäische Zentralbank in naher Zukunft die
Zinsen anhebt, müssen nach den jüngsten Ankündi-
gungen von EZB-Chef Mario Draghi auch die optimis-
tischsten Banker aufgeben.
Bei der Commerzbank darf es vor diesem Hinter-
grund keine Denkverbote geben. Das Netz mit rund
1 000 Filialen muss genauso auf den Prüfstand ge-
stellt werden wie das kostenlose Girokonto und un-
rentable Bereiche im Firmenkundengeschäft. Gegen
Wachstum ist grundsätzlich nichts einzuwenden.
Aber Vorstandschef Martin Zielke sollte bei der neu-
en Strategie, die im Herbst vorgestellt wird, einen
stärkeren Fokus auf profitables Wachstum legen.
Zielke und viele andere Bankchefs haben erkannt,
dass sich ihre Geldhäuser verändern müssen. Die In-
stitute kooperieren mit Fintechs. Und sie versuchen,
selbst schneller und digitaler zu werden. Doch Ver-
änderungen sind bei Großbanken stets komplex und
langwierig. Und angesichts der mauen Ergebnisse
fehlen vielen Instituten schlichtweg die Ressourcen,
um so viel Geld in Digitalisierung und andere Zu-
kunftsthemen zu investieren, wie eigentlich nötig
wäre. Die Banken müssen sich also auf schwierige
Zeiten einstellen. Jubelmeldungen wie von Wirecard
sind von ihnen auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Leitartikel


Zweigeteilte


Finanzwelt


Traditionellen
Banken fällt es
schwer, sich an
neue Realitäten
anzupassen, sagt
Andreas Kröner.
Der Rückstand
auf agile
Angreifer wächst.

Bei der


Commerzbank


darf es keine


Denkverbote


geben.


Das Filialnetz


und das kosten-


lose Girokonto


gehören auf den


Prüfstand.


Der Autor ist Finanzkorrespondent in Frankfurt.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151


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