Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1

D


er Franzose Jean-Claude Trichet ist
einer der Architekten der Euro-Zo-
ne. Er hat als Chef der französischen
Notenbank, deren Ehrenpräsident
er heute ist, den Franc so weit ge-
härtet, dass er reif für den Übergang zum Euro
wurde. Der ehemalige EZB-Präsident beobachtet
die aktuelle Geldpolitik immer noch sehr genau.
Von seinem Feriendomizil in Saint-Malo an der
bretonischen Küste aus erläutert er Handelsblatt-
Redakteur Frank Wiebe am Telefon die gewalti-
gen Herausforderungen für seine Nachfolger.

Herr Trichet, die EZB will die Geldpolitik noch
weiter lockern. Ist das wirklich nötig?
Die EZB steht vor einem viel größeren Problem,
als viele Leute glauben. In den meisten entwi-
ckelten Ländern sehen wir eine anomal niedrige
Inflation und deswegen eine sehr großzügige
Geldpolitik, um das Risiko einer möglichen Defla-
tion abzuwenden. In Europa steht die EZB nicht
allein damit: Dänemark und Schweden haben
auch Minuszinsen. Die Schweiz, einst das Boll-
werk orthodoxer Geldpolitik, geht am weitesten
mit dem Einsatz konventioneller und unkonven-
tioneller Mittel.

Ist das eine ganz neue Entwicklung?
Das ist anders als in der Vergangenheit. Als ich
2011 die EZB verließ, hatten wir in einigen Mona-
ten bis zu drei Prozent Inflation.

Was hat sich denn grundlegend geändert?
Vieles: die intensivere Globalisierung, das Auf-
kommen neuer Technologie, die fortschreitende
Alterung der Bevölkerung. Aber ein Punkt ist be-
sonders wichtig: Das Verhalten der Sozialpartner
hat sich geändert. Es gibt eine gewisse Angst bei
Arbeitgebern und -nehmern, auch durch neue
Konkurrenz aufstrebender Mächte wie China
und Brasilien bedingt. Viele Arbeitnehmer in
den entwickelten Ländern haben mehr Interes-
se, ihre Jobs zu behalten, als höhere Löhne zu
verlangen.

Ist die Angst der entscheidende Faktor?
Ja, ich glaube, die Sorge, den Job zu verlieren,
trägt zu der abnorm niedrigen Inflation bei. Und
die Angst hat nicht nur wirtschaftliche Folgen.
Sie ist auch einer von mehreren Faktoren für das
Aufkommen des sogenannten Populismus – und
das selbst in Deutschland, trotz dessen wirt-
schaftlichen Erfolgs.

Wie sehen Sie die Position Deutschlands?
Deutschland spielt eine spezielle Rolle in der Eu-
ro-Zone. Nicht nur, weil es die größte Volkswirt-
schaft ist, sondern vor allem, weil es, gemessen
an den Lohnstückkosten, am wettbewerbsstärks-
ten ist. Um aufzuholen, müssen daher die ande-
ren Länder ihre eigenen Lohnkosten senken –
und damit auch ihre Inflation. Das ist übrigens ge-
nau der Weg, auf dem Deutschland 1999 bis unge-
fähr 2009 die eigene Wettbewerbsfähigkeit wie-
dergewonnen hat.

Was bedeutet das für die Euro-Zone?
Die deutsche Inflation ist de facto eine Obergrenze
für fast alle anderen Länder. Durch diese niedrige
Grenze drückt Deutschland die Inflation im gesam-
ten Euro-Raum auf ein sehr niedriges Niveau.

Warum ist niedrige Inflation ein Problem?
Wenn sie zu lange zu niedrig bleibt, kann sie zu
Perioden von Deflation, also insgesamt fallenden
Preisen führen. Und das wäre wirtschaftlich ex-
trem schädlich, wie wir aus Erfahrung wissen.

Wie kann man gegensteuern außer mit großzü-
giger Geldpolitik?
Vor allem vier Faktoren beeinflussen die wirt-
schaftliche Entwicklung, die Nachfrage und die
Preise: Geldpolitik, Finanzpolitik, strukturelle Re-
formen und das Verhalten der Sozialpartner. Aus
Sicht der Notenbanken haben sie selbst zweifellos
am meisten geleistet, während die anderen drei
Bereiche vernachlässigt wurden. Sie haben in den

„Lässt man die


EZB allein,


folgt die Krise“


Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank spricht


über die wesentlichen Gründe für die niedrige Inflation und


die expansive Geldpolitik. Er warnt davor, den Notenbanken


zu viel Verantwortung aufzubürden.


Jean-Claude Trichet:
Heute Ehrenpräsident
der Banque de France.

AFP/Getty Images

Jean-Claude Trichet


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DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151


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