Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1

entwickelten Ländern, und das gilt gerade auch


für die EZB, immer gesagt, dass sie nicht die ein-


zigen Spieler in dem Geschehen sein können.


Die Zentralbanken sagen das, doch keiner hört zu.


Die EZB wird bisher alleingelassen. Wie sie selbst


immer wieder betont, kann das nicht immer so


weitergehen – sonst werden wir die nächste tiefe


Krise erleben. Alle anderen Akteure müssen auch


ihre Rolle spielen. Vor allem eine höhere Dyna-


mik bei Löhnen, Gehältern und Lohnstückkosten


in den Ländern mit Vollbeschäftigung und Ex-


portüberschüssen würde es der Notenbank erlau-


ben, die Zügel deutlich weniger zu lockern.


Folgen die Notenbanken mit den niedrigen Zin-


sen einem Trend, oder setzen sie selbst den


Trend?


Das ist die Frage nach dem realen neutralen Zins,


also dem Satz minus Inflationsrate, bei dem die


Wirtschaft im Gleichgewicht ist. Ich bin kein An-


hänger der These einer säkularen Stagnation – ei-


nes anhaltenden Zustands mit sehr niedrigem


Wachstum also. Aber wir haben gute Gründe zu


der Annahme, dass der reale Zinssatz deutlich


niedriger ist als früher. Der Grund dafür ist vor al-


lem die miserable Entwicklung der Produktivität,


die wir trotz bemerkenswerter Fortschritte in


Wissenschaft und Technik seit 2005 beobachten.


Aber selbst bei einem niedrigen Realzins könnten


die ausgewiesenen Zinsen höher sein, wenn die


Inflation höher wäre.


Sind Minuszinsen über Jahre schädlich?


Ich habe immer eingeräumt, dass Geldpolitik


auch Belastungen mit sich bringt – vor allem,


wenn andere ihrer Verantwortung nicht gerecht


werden. Es gibt eine schlechte Seite der Medail-


le. Entscheidend ist, dass der Nutzen den Scha-


den überwiegt. Das ist bisher der Fall in Europa,


und ich vertraue in dem Punkt auch dem EZB-


Rat.


Wäre es sinnvoll, die Belastung der Minuszinsen


durch Freibeträge für die Banken abzumildern?


Es erscheint nicht abwegig, die Finanzbranche in


dieser Situation zu schützen.


Wenn die EZB wieder Wertpapiere zukauft, wel-


che Papiere sollten das sein?


Dazu habe ich keine Meinung.


Viele Leute fordern von Deutschland einen stär-


keren Einsatz der Finanzpolitik. Zu Recht?


Deutschland hatte in der Vergangenheit eine ge-


sunde Finanzpolitik, und das ist gut. Aber jetzt ist


eine aktivere Finanzpolitik angebracht, zum Nut-


zen der öffentlichen Infrastruktur und zur Stär-


kung der Nachfrage. Nach einem deutlichen Über-


schuss 2018 wäre eine expansive Politik in diesem


Jahr empfehlenswerter. Ein sehr deutlich aktiver


Beitrag würde gebraucht, wenn sich erweist, dass


ein starker Einbruch der Weltwirtschaft Europa


und Deutschland trifft. Wobei ich glaube, dass ei-


ne höhere Dynamik im Lohnsektor noch wichti-


ger wäre.


Wo wir gerade von Politik reden: Wie würden Sie


die heutigen Beziehungen zwischen Frankreich


und Deutschland beschreiben. Haben die Fran-


zosen Grund, von der Regierung in Berlin ent-


täuscht zu sein?


Ich empfinde eine gewisse Nostalgie, wenn ich


daran zurückdenke, wie Valéry Giscard d’Estaing


und Helmut Schmidt sowie François Mitterrand


und Helmut Kohl ihre freundschaftlichen Bezie-


hungen in den Dienst von Europa gestellt haben.


Auf der anderen Seite dürfen wir nicht die bemer-


kenswerte Stärke von Europa und dem Euro-


Raum in der letzten Krise übersehen.


Diese Stärke wird gerade in Deutschland immer


wieder angezweifelt.


Der Euro blieb trotz Krise eine weltweit bedeuten-


de Währung. Als 2008 die US-Bank Lehman


Brothers zusammenbrach, hatte die Währungsge-


meinschaft 15 Mitglieder. Seitdem sind vier weite-


re hinzugekommen, sodass es jetzt 19 sind. Und
es gab den Aufbruch zu bedeutenden Strukturre-
formen. Dazu gehören die Bankenunion, der Fis-
kalpakt und der Europäische Rettungsfonds
(ESM).

Wie könnten Frankreich und Deutschland mehr
zum europäischen Projekt beitragen?
Es ist klar, dass Frankreichs Präsident Emmanuel
Macron bereit ist, in vielerlei Hinsicht zum Fort-
schritt in Europa beizutragen. Das ist für Europa
ein Gewinn. Je mehr ich die internationale Situa-
tion anschaue, desto mehr bin ich überzeugt,
dass der Zusammenhalt Europas vertieft werden
muss. Aus wirtschaftlichen Gründen, wenn Sie
an den Aufstieg von Ländern wie China, Indien,
Brasilien und Mexiko denken – das betrifft alle
Schwellenregionen. Und aus geostrategischen
Gründen, wenn Sie an die veränderte Einstellung
der USA denken. Oder an das, was in Russland
passiert, in der Türkei, und an all die möglichen
Gefahren im Nahen Osten und in Afrika. Ich glau-
be, Deutschland spielt eine Schlüsselrolle.

Schon wieder Deutschland?
Es hängt viel davon ab, wie weit die gesamte deut-
sche Politik in der Lage ist anzuerkennen, wie
dringend gerade jetzt die europäische Integration
auf breiter Front vorangetrieben werden muss.
Wenn ich in Betracht ziehe, was die Bundeskanz-
lerin neulich über die veränderte Einstellung der
USA sagte, dann scheint mir, dass sie persönlich
in diese Richtung denkt.

Also gibt es eine Chance, dass es vorwärtsgeht.
In der Tat. Eine tiefe und vertrauensvolle Zusam-
menarbeit zwischen Frankreich und Deutschland
ist die notwendige Voraussetzung für jeden Fort-
schritt. Aber das allein reicht nicht aus: Sie müs-
sen auch die anderen Länder überzeugen. Und
das geht nur, wenn sie ihre Energie und Freund-
schaft in den Dienst aller europäischen Länder
stellen.

Zurück zur Geldpolitik: Was sind Ihre Wünsche
für Christine Lagarde als Nachfolgerin von Mario
Draghi als EZB-Chef?
Sie wird einen sehr guten Job machen. Sie ist gut
vorbereitet und war sehr erfolgreich an der Spitze
des Internationalen Währungsfonds. Ich hoffe, sie
hat vollen Erfolg dabei, zum Wohlstand in Europa
beizutragen und zugleich die Preisstabilität zu be-
wahren. Das ist unser Mandat, dafür habe ich ge-
arbeitet und Mario ebenso. Und meine deutschen
Freunde möchte ich an eins erinnern: Für mehr
als 20 Jahre waren jetzt die Preise im Euro-Raum
und besonders in Deutschland stabiler als je zu-
vor in den 40 Jahren der D-Mark-Ära.

Herr Trichet, vielen Dank für das Interview.


Die Fragen stellte Frank Wiebe.


Geldpolitik


Der lange Weg


der Notenbanken


F


ür Jahrzehnte hatten die Notenbanken vor
allem eine Aufgabe: die Inflation im Zaum
zu halten. Daran wurden sie gemessen.
Um das leisten zu können, setzte sich im Laufe
der Zeit immer mehr die Einsicht durch, sie mög-
lichst unabhängig von den Regierungen arbeiten
zu lassen. Die US-Notenbank (Fed) wurde 1913
schon als unabhängige Institution gegründet, die
Bundesbank 1957 ebenfalls. Die Bank of England
wurde erst 1997 in die Unabhängigkeit entlassen,
wie Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank,
in seinem Blog schreibt. „Ohne die Unabhängig-
keit der Zentralbanken hätte man die modernen
Finanzmärkte kaum entwickeln können“, betont
er. Er hebt die Herausforderungen hervor, vor
denen sie nach dem Zweiten Weltkrieg standen:
zwei Ölkrisen mit jeweils hoher Inflation und
nachfolgender Rezession. Außerdem in den USA
die Folgen des Vietnamkriegs und in Deutschland
die Wiedervereinigung.
Eine entscheidende Wendung kam mit der Fi-
nanzkrise 2008, an die sich sehr bald die Euro-
Krise anschloss. Obwohl die Notenbanken wegen
dieser Krisen selbst auch in die Kritik gerieten,
bewährten sie sich letztlich doch als Institutio-
nen, die im entscheidenden Augenblick in der
Lage waren, den Zusammenbruch des Finanzsys-
tems zu verhindern und in Europa die Euro-Zone
zusammenzuhalten. Dadurch seien Notenbanken
zu „Superinstitutionen“ geworden, die „zweifel-
los eine große Machtfülle“ bekamen, schreibt
Bielmeier. Auch ihre Befugnisse zur Bankenauf-
sicht wurden erweitert, mögliche Interessenkon-
flikte dieser Aufgabe mit der Geldpolitik weitge-
hend ignoriert. Damit, schreibt der Ökonom,
„stellte sich auch zum ersten Mal die Frage nach
der demokratischen Legitimität“.
Geändert hat sich seitdem aber noch etwas:
Nicht zu hohe Inflation ist seither das Problem,
sondern zu niedrige Preissteigerung. Was sich zu-
vor schon in Japan zeigte, drohte auf Europa und
die USA überzugreifen: eine Phase niedrigen
Wachstums, niedriger Zinsen und niedriger Infla-
tion. Seither werden Notenbanker immer wieder
von der Sorge geplagt, in solch eine Situation ab-
zurutschen. Daher sind sie heute bereit, die Geld-
schleusen weiter zu öffnen und beherzter zu un-
gewöhnlichen Mitteln zu greifen, als das in den
Jahrzehnten der D-Mark-Bundesbank denkbar
war – auch wenn die Geldpolitiker damals schon
pragmatischer waren, als viele heute in Erinne-
rung haben.
Bielmeier hat sogar beobachtet: „Die Inflations-
entwicklung scheint sich allen Einflussmöglich-
keiten der Zentralbanken zu entziehen.“ Damit
wäre ein paradoxer Zustand entstanden: Die No-
tenbanken sind mächtiger und virtuoser im Ein-
satz ihrer Mittel denn je, aber gleichzeitig zu
schwach, um ihre eigentliche Zielgröße, die Infla-
tion, zu steuern. Frank Wiebe

Die deutsche


Inflation ist de


facto eine


Obergrenze


für fast alle


anderen


Länder.


Staatsdiener Der 1942 in Lyon geborene Trichet
ist Ökonom und Politologe. Er besuchte die
Elite-Uni ENA in Paris. Ab 1971 arbeitete er in
verschiedenen Positionen im Wirtschafts- und
Finanzministerium.

Notenbanker 1993 wurde Trichet Chef der fran-
zösischen Notenbank. In dieser Funktion arbei-
tete er maßgeblich an der Einführung des Euros
mit. Dazu gehörte auch, den Franc, der traditio-
nell eine weichere Währung als die D-Mark war,
so nachzuhärten, dass er im Euro aufgehen
konnte. 2003 bis 2011 leitete er die Europäische
Zentralbank.

Deutschlandkenner Trichet ist ein Freund der
Poesie – und dabei auch der deutschen Dich-
tung. Er hatte stets große Sympathie für
Deutschland und hat bewundert, wie sich hier-
zulande die Sozialpartner zusammengerauft
und die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt haben.

Vita Jean-Claude Trichet


Abnehmende Schwankungen
Inflationsrate in Deutschland in Prozent

1,8 %


HANDELSBLATT

1950 2018


Quelle: Statistisches Bundesamt

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Finanzen & Börsen


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DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151


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