Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1
Soldaten in Pakistan: Die Für-
sorgepflicht des Arbeitgebers
für seine Mitarbeiter gilt auch
in Gefahrenregionen.

AFP/Getty Images

Mareike Müller Frankfurt


E


s ist Januar 2012, als Bernd Mühlen-
beck auf dem Flur vor seinem Zimmer
plötzlich Lärm hört. Als Entwicklungs-
helfer arbeitet Mühlenbeck im pakista-
nischen Multan, 8 000 Kilometer ent-
fernt von seiner Heimat in Niedersachsen. Wie je-
den Abend skypt er mit seiner Frau. Als es laut
wird, unterbricht er das Gespräch, öffnet die Tür.
Davor: eine Gruppe pakistanischer Taliban,
schwer bewaffnet. Als die Terroristen Mühlenbeck
verschleppen, hört seine Frau live mit. Es folgen
33 Monate der Ungewissheit, in denen Mühlen-
beck von seinen Entführern als Geisel gefangen
gehalten wird.
Der Fall Mühlenbeck ist keine Seltenheit. Immer
wieder werden Mitarbeiter westlicher Firmen
oder internationaler Organisationen im Ausland
Opfer von Entführungen. Schätzten die Experten
die Zahl 2017 noch auf etwa 750, so sind es heute
bereits rund 1 000 pro Jahr. Die Dunkelziffer liegt
wahrscheinlich noch deutlich höher.
Um Mitarbeiter im Ernstfall zu schützen, kön-
nen sich Unternehmen und Organisationen mit
speziellen Versicherungspolicen für den Entfüh-
rungs- und Lösegeldfall absichern. Die Nachfrage
nach K&R-Versicherungen, kurz für das Englische
„Kidnapping and Ransom“, wächst.
Gleichzeitig hat eine intensive Debatte über den
Einsatz solcher Policen begonnen. Kritiker argu-
mentieren, dass die Versicherungen zur Kommer-
zialisierung des Geschäfts mit Menschenleben bei-
tragen. „Früher wurden weniger Ausländer ent-
führt, das hat in den vergangenen Jahren gefühlt
zugenommen, insbesondere in Afrika“, meint Pas-
cal Michel, Geschäftsführer der Krisenmanage-
mentfirma Smart Risk Solutions.
Michel arbeitete für eine deutsche Sicherheits-
behörde, heute ist er für Lösegeldversicherer bei
Entführungen tätig. Die Folge: Immer mehr Unter-
nehmen schließen K&R-Versicherungen ab, heißt
es aus Branchenkreisen, denn durch die Globali-
sierung hätten mittlerweile auch kleine und mittel-
ständische Unternehmen Büros und Mitarbeiter in
allen Teilen der Welt.
Der Gesamtverband der Deutschen Versiche-
rungswirtschaft äußert sich auf Nachfrage nicht,
Unternehmen halten sich bedeckt. Sie fürchten,
die Aufmerksamkeit von Erpressern zu erregen.
Doch Experte Michel weiß: „Es sind wirklich alle
dabei. Vom wohlhabenden Zahnarzt, dessen
Tochter nach dem Abi ein Jahr um die Welt reist,
bis hin zum multinationalen Konzern.“

Der Service beginnt vor der Reise


Peter Bensmann, Geschäftsführer der Hanseku-
ranz Kontor, bestätigt das wachsende Interesse:
„Besonders beim Mittelstand, Unternehmen mit
Mitarbeiterzahlen zwischen 200 und 1 000, ver-
zeichnen wir eine deutlich höhere Nachfrage.
Denn das Risiko, dass Mitarbeiter entführt oder
erpresst werden, kann für das betroffene Unter-
nehmen durchaus existenzbedrohend sein.“
Im internationalen Vergleich fällt das Versiche-
rungsangebot in Deutschland hinter das in den
USA und in Großbritannien zurück. Dort ist die
Branche weiter entwickelt, erklärt Stefan Sievers.
Bei Hiscox Special Risks, nach eigenen Angaben
weltweiter Marktführer im K&R-Bereich, leitet
Sie vers den Bereich Business Development für Eu-
ropa. „Die Entführungs- und Lösegeldversiche-
rung ist ein hochsensibler Bereich“, erklärt er.
„Deshalb ist es schwierig, die Größe des Markts
und die Anzahl der Versicherten zu definieren,
denn es werden nur sehr wenige Informationen
darüber veröffentlicht.“
Basis für die Leistung ist die Fürsorgepflicht des
Arbeitgebers, sie gilt auch bei Aufenthalten in ris-
kanten Gebieten. Deshalb beinhaltet die Versiche-
rung weitaus mehr als nur die Erstattung von Lö-
segeld: So beginnt der Service bereits bei der Vor-
bereitung auf den Auslandsaufenthalt, mit
speziellen Schulungen zur Krisenprävention, er-
klärt Bensmann. Er versichert unter anderem
Schiffe, die Piraterie-Hotspots wie den Golf von
Aden vor Somalia durchqueren müssen. Nur mit

solchen Konzepten könne man das Risiko bereits
im Vorfeld minimieren. Das Personal werde auf
Gefahren vorbereitet, Krisenstäbe würden einge-
richtet, Vorkehrungen getroffen, oft, ohne dass
der Reisende davon weiß.
Trainings zur Reisesicherheit können Unterneh-
men auch eigenständig anbieten. Die Prämie be-
rechnen Versicherer aus Informationen über die
Unternehmensgröße, Standorte und Niederlassun-
gen sowie die Reiseziele der Mitarbeiter, von Stufe
eins, Orten mit geringem Risiko, bis Stufe fünf, da-
runter Haiti, Syrien und Venezuela.
„Wir decken immer das ganze Unternehmen ab,
vom Pförtner bis zum Vorstand“, so Bensmann.
Ein Unternehmen mit 250 Mitarbeitern, die in
Staaten mit Risikolevel drei bis vier reisten, etwa
nach Thailand oder in die Ukraine, müsse man
16 000 bis 20 000 Euro für die K&R-Versicherung

aufbringen. Die Deckungssumme betrage dann
zwischen fünf und zehn Millionen Euro.
Laut Insidern bewegen sich Versicherungsbei-
träge für K&R generell im vier- bis sechsstelligen
Bereich. Tritt der Ernstfall tatsächlich ein, fallen
hohe Kosten an: „Das reicht von den Umtauschge-
bühren der Währung im jeweiligen Land bis zur
Übergabe des Lösegelds. Aber auch Dolmetscher
und Fahrer werden von dem Geld bezahlt, und
auch die Nachbereitung muss finanziert werden“,
erklärt Sicherheitsmanager Michel.
Während Versicherer wie Hiscox, die Allianz
oder Munich Re Versicherungssummen berech-
nen und Verträge erstellen, ist sein Team für den
Einsatz zuständig: Vom Training zur Vorbereitung,
der Beratung des Krisenstabs, der Lösegeldüber-
gabe vor Ort bis hin zur Evakuierung unterneh-
men sie alles, um die Opfer zurückzubringen.

Risiko


Entführung


Mexiko, Irak, Nigeria: Immer wieder werden


Geschäftsreisende im Ausland entführt.


Mit speziellen Versicherungen können Unternehmen


für ihre Mitarbeiter vorsorgen.


13


PROZENT


der Menschen, die
20 18 in Nahost
und Nordafrika
entführt wurden,
waren Ausländer

Quelle: ControlRisks


Private


Geldanlage


DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151


32

Free download pdf