Handelsblatt - 08.08.2019

(Ann) #1
ten, in denen sie Mehrausgaben durch Mehrein-
nahmen stemmen konnte, sind vorbei.
Die konjunkturelle Lage hat sich merklich einge-
trübt, die Wirtschaft steuert auf einen Abschwung
zu, dessen erste Bremsspuren schon jetzt zu sehen
sind. So zeigt ein Papier aus dem Bundesfinanzmi-
nisterium, das dem Handelsblatt vorliegt, nicht
nur, dass im ersten Halbjahr gleich fünf Bundeslän-
der wieder ein Haushaltsdefizit eingefahren haben


  • und das ein Jahr vor Inkrafttreten der Schulden-
    bremse für die Länder. Aus der Vorlage geht auch
    hervor, dass der Bund im ersten Halbjahr völlig
    überraschend 1,4 Milliarden Euro weniger Steuern
    eingenommen hat. Dabei war eigentlich erst ab
    dem nächsten Jahr mit einem Dämpfer gerechnet
    worden.


Einfallstor Energie- und Klimafonds


Obwohl die Einnahmen für jeden ersichtlich nicht
mehr sprudeln, kennen die Ausgabenwünsche in
der Klimapolitik aber kein Halten. Jeder versucht,
über dieses Einfallstor neue Mittel für sich heraus-
zuhandeln. So ist etwa angedacht, künftige Klima-
ausgaben über den bestehenden „Energie- und Kli-
mafonds (EKF)“ zu stemmen. Dieser verfügt der-
zeit über eine Rücklage von 4,5 Milliarden Euro,
könnte aber deutlich aufgestockt werden. So haben
die Ministerien laut Haushältern schon jetzt Wün-
sche für den EKF in Höhe von 30 Milliarden Euro
angemeldet. Entwicklungshilfeminister Gerd Mül-
ler will etwa Klimaschutz im Ausland finanzieren,
Verkehrsminister Andreas Scheuer Bahntickets ver-
billigen, Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner
Hunderte Millionen für die Rettung des Waldes
ausgeben. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus
sprach im Juli in einem überraschend wenig beach-
teten Interview mit der „Rheinischen Post“ sogar
von „mehreren Hundert Milliarden Euro“, die für
den Klimaschutz notwendig seien.
Wie solche Mehrausgaben und angedachte
soziale Abfederungen für untere und mittle-
re Einkommen – etwa bei Einführung ei-
ner CO 2 -Steuer – finanziert werden sollen,
ist völlig unklar. Und neben dem Klima
will die Regierung ja auch noch mehr für
Verteidigung, Bildung oder die Grund-
rente ausgeben. „Wir stehen wirk-
lich vor einem historischen Pro-
jekt“, sagt ein erfahrener Haus-
hälter. „Aber momentan weiß
niemand, wie sich die losen
Enden dieses Projekts zusam-
menführen lassen.“


Kommentar Seite 13



Olaf Scholz:
Der Bundesfinanz -
minister verteidigt
den ausgegliche-
nen Haushalt.

dpa


Steuervermeidung


Steuerdaten mit


Verfallsdatum


Deutschland bekommt Millionen


Steuerdaten aus dem Ausland geliefert,


doch die Behörden haben Probleme mit


der Verarbeitung. Nun rückt bei den


ersten Daten die Verjährungsfrist näher.


Martin Greive, Jan Hildebrand Berlin


B


undesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) sitzt
auf einem gigantischen Datenschatz. Im
Herbst 2017 haben rund 50 Staaten einen
automatischen Informationsaustausch gestartet,
um so Steuerhinterziehern auf die Schliche zu
kommen. Seit 2017 liefern mehr als 90 Länder
Steuerdaten an Deutschland, sie laufen beim Bun-
deszentralamt für Steuern (BZSt) ein. Bislang wur-
den seit vergangenem Jahr rund 6,8 Millionen Da-
tensätze übermittelt. Die Finanzbehörden könnten
nun prüfen, ob sich darin Hinweise auf Schwarz-
geld oder Steuerhinterziehung befinden.
Die Behörde, die dem Bundesfinanzministerium
von Scholz untersteht, ist mit der Auswertung der
wertvollen Datenflut allerdings überfordert. Es
mangelt an Beamten, und es hakt bei der Weiterga-
be der Informationen an die Finanzämter in den
Bundesländern, die Steuerhinterzieher aufspüren.
Und langsam wird die Zeit knapp, denn Ende des
Jahres könnten die ersten Fälle verjähren.
Denn schon vor dem Start des internationalen
Informationsaustauschs hatte Deutschland mit den
USA und mit EU-Staaten Vereinbarungen zur Wei-
tergabe von Daten, die auch fleißig genutzt wur-
den. Beim Bundeszentralamt liegen auch Millionen
von Datensätzen aufgrund dieser Regeln, auch
schon für den Besteuerungszeitraum 2014. Allein
bei den Informationen der EU-Staaten geht es um
1,2 Millionen Datensätze. Und für den endet die so-
genannte Festsetzungsverjährung Ende 2019.
Der Bundesrechnungshof hatte schon vor Mona-
ten auf das Verfallsdatum hingewiesen. „Die Wei-
terleitung dieser Daten an die Länder und die Ver-
arbeitungsfähigkeit in den Finanzämtern ist beson-
ders dringend“, schrieben die Prüfer in einem
Bericht. Der Bund vereinbarte mit den Ländern,
die Daten bis zum 1. Juli zu liefern. Der Rechnungs-
hof hält das für knapp kalkuliert: „Damit verblei-
ben den Finanzämtern nur sechs Monate, um die
steuerlich relevanten Vorgänge aus dem Jahr 2014
aufzuklären und erforderlichenfalls in die Veranla-
gung einzubeziehen.“

Doch wie aus einer Antwort auf eine Anfrage des
FDP-Finanzexperten Markus Herbrand hervorgeht,
die dem Handelsblatt vorliegt, wurden bis zu dem
vereinbarten Stichtag 1. Juli nicht mal alle Daten
komplett vom Bundeszentralamt an die Bundeslän-
der gemeldet. Zwar wurden die von den USA gelie-
ferten Daten zu 99,9 Prozent weitergereicht. Doch
bei den Informationen aus den EU-Ländern wur-
den bis zum 30. Juni nur knapp 94 Prozent der ins-
gesamt 1,22 Millionen Datensätze gemeldet. Immer-
hin: Bis zum 25 Juli waren es dann auch hier 99,
Prozent.
FDP-Politiker Herbrand stellt das trotzdem nicht
zufrieden. „Dass die Bundesregierung es erst mit
Verzögerung schafft, die Daten weiterzuleiten, da-
mit man bislang unbekannte Steuersünder dingfest
machen kann, ist ein starkes Stück“, sagte der Fi-
nanzpolitiker. Man dürfe sich von der Anzahl der
weitergeleiteten Daten nicht täuschen lassen.
„Denn hinter der augenscheinlich geringen Zahl
von verspätet weitergeleiteten Meldungen verber-
gen sich viel Geld und ein enormer Arbeitsaufwand
für die Finanzämter, der kaum zu bewerkstelligen
ist“, so Herbrand.
Welche Beträge hinter den verspätet weitergelei-
teten Daten stehen, konnte das Finanzministerium
nicht sagen. Herbrand hat eine Überschlagsrech-
nung angestellt: Danach wurden Daten über Ein-
kommen in Höhe von 500 Millionen Euro und Ver-
mögenswerte in Höhe von 2,56 Milliarden Euro zu
spät weitergeleitet.
Wie der Bundesrechnungshof in seinem Bericht
betont, hat das Bundesfinanzministerium selbst ei-
ne Risikoliste zum automatischen Informationsaus-
tausch erstellt. Eines der laut Rechnungshof größ-
ten Risiken: dass die Landesbehörden nicht in der
Lage sind, die vom Bund weitergeleiteten Daten
rechtzeitig zu empfangen, zu verarbeiten und bei
der Steuerprüfung unter Wahrung der Fristen zu
berücksichtigen.
Im Finanzministerium betont man, dass das Ver-
jährungsrisiko nicht so groß sei wie behauptet.
Denn in Fällen von Steuerhinterziehung komme es
nicht zur Regelverjährung.
Länder, die eine Verjährung befürchten, können
beim Bundeszentralamt für Steuern ein Amtshilfe-
ersuchen stellen, um an Daten zu kommen. Wie
aus der Antwort des Finanzministeriums hervor-
geht, haben Bayern, Hamburg, Niedersachsen und
Rheinland-Pfalz davon Gebrauch gemacht – insge-
samt siebenmal.

Cayman Islands:
Das Finanzministerium
wird der Datenflut aus
dem Steuerparadies
nicht Herr.

imago images / ZUMA Press

Finanz-Musterland Seit 2014 kommt der Bund
ohne neue Schulden aus. Das gibt es so in fast
keinem anderen Industrieland. Die Bundesrepu-
blik hält sogar wieder die Maastricht-Kriterien
ein, der Schuldenstand sinkt in diesem Jahr
unter die Marke von 60 Prozent. Nach der
Finanzkrise 2009 hatte die Bundesrepublik
noch die Marke von 80 Prozent übertroffen.

Internationale Kritik Deutschlands solide
Finanzpolitik wird zwar geachtet, ist aber auch
stetiger Kritik ausgesetzt. So fordern internatio-
nale Organisationen wie OECD oder IWF und
Länder wie Frankreich oder die USA schon
lange, Deutschland müsse im eigenen Interesse
mehr investieren, aber auch, um die Wirtschaft
im gesamten Euro-Raum anzuschieben.

Ökonomen-Kritik Zuletzt forderte auch eine
Reihe deutscher Ökonomen eine Abkehr von
der schwarzen Null, darunter Michael Hüther
vom arbeitgebernahen Institut IW Köln. Sie
halten es für geboten, in Zeiten von Niedrigzin-
sen, in denen sich der Staat nahezu zum Null-
tarif verschulden kann, mehr zu investieren und
die marode Infrastruktur auf Vordermann zu
bringen.

Schwarze Null


Wir wollen


die Schulden-


bremse lösen


und den


Zukunfts-


turbo


einschalten.


Klimaschutz


ist der Fort-


schrittsmotor


unserer


Wirtschaft von


morgen.


Christina Kampmann
SPD-Politikerin

Wirtschaft & Politik


DONNERSTAG, 8. AUGUST 2019, NR. 151


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