Süddeutsche Zeitung - 31.07.2019

(Darren Dugan) #1
Das zufriedene, leicht gerötete Gesicht
und dieentspannte Körperhaltung erzäh-
len von einem erfüllten Tag. Die Jagd
dürfte an den Kräften gezehrt haben. Sie
wird aber wohl auch von Erfolg gekrönt ge-
wesen sein. Darauf verweist das Perlhuhn,
das sich am linken Bildrand befindet, fast
etwas versteckt. Der französische Maler
Louis Tocqué (1696 – 1772) platziert den
königlichen Sekretär Pierre Simon Mirey
sitzend, leicht nach links geneigt, samt
Hund und Gewehr vor einem diagonal
nach rechts oben strebenden Baum.
Damit ist ihm die Darstellung einer har-
monischen Beziehung zwischen Mensch
und Natur ausgezeichnet gelungen. Der
Jäger erfreut sich einer geradezu wohligen
Erschöpfung – das Bild zählt zu den Glanz-
stücken in der Ausstellung „Passion. Bil-
der von der Jagd“ im Bündner Kunstmuse-
um Chur. Die freundlichen Augen des
Jägers suchen den Blick des Betrachters.
Der Maler hat den bourgeoisen Jäger mit
diesem meisterlichen Porträt in einem
Zustand der Hingabe festgehalten.
Mirey war 1743, als das Gemälde ent-
stand, für die Hypothekenverwaltung am
Hof von Louis XV. verantwortlich. Sein Va-
ter hatte die Stellung als des Königs erster
Weinhändler inne. Das mag die steile Karri-
ere des Sohnes erklären, die, so kommt es
einem jedenfalls vor, im Halali der königli-
chen Jagden ihre Vollendung fand.
Im europäischen Adel war die Jagd
während Jahrhunderten ein alltägliches
Vergnügen. Für viele Männer war es eine
regelrechte Leidenschaft, in der man sich
gegenseitig zu übertrumpfen versuchte.
So lesen wir auf einem kleinen Zettelchen
in der Ausstellung, dass Franz Joseph I.,

der letzte Kaiser aus dem Hause Habsburg,
mehr als 30 000 Stück Wild erlegt haben
soll. Je nach Quelle waren es noch viel
mehr.
Graubünden selbst wies die adelige
Jagdlust hingegen relativ früh schon in
ihre Schranken. Seit 1526 gilt hier die freie
Volksjagd. Und heute gibt es wohl keinen
Schweizer Kanton, in dem die Jagd eine
ähnlich hohe gesellschaftliche Bedeutung
hat. Genügend Anlass für den nie um eine
anregende Ausstellung verlegenen Ste-
phan Kunz, Direktor des Kunstmuseums
in Chur, die Jagd zum Thema seiner neu-
esten Ausstellung zu machen.

Weit ausgreifend und frei assoziierend
kreist er das Thema ein. Er kombiniert alt
und neu. Werke aus der eigenen Samm-
lung treten in Dialog mit Leihgaben aus al-
ler Welt. Manches kommt aus dem Musée
de la Chasse et de la Nature in Paris, wie et-
wa das am Anfang beschriebene Werk, das
erst 2017 für die Sammlung des kleinen,
aber feinen Hauses im Quartier Marais an-
gekauft wurde. Anderes kommt aus der
Sammlung des Fürsten zu Liechtenstein in
Vaduz, die ebenfalls reichhaltige Bestände
mit Jagdmotiven aufweist.
Am Anfang steht ein mit Eitempera
gemalter Waldweg des Schweizers Franz
Gertsch aus dem Jahr 2013/14. Das Gemäl-
de macht deutlich, dass die Jagd immer
auch eine Störung der Natur bedeutet. Es
macht auch deutlich, dass es hier trotz vie-

ler historischer Perspektiven um eine Aus-
stellung geht, die immer wieder das Werk
von zeitgenössischen Künstlern befragt.
So gafft die Betrachter nur wenige Meter
neben dem Gertsch ein ausgestopfter Wolf
ins Gesicht, der auf einem kleinen Anhän-
ger samt zugehörigem Waldboden befes-
tigt ist. Künstlicher geht es nicht, aber
dieses Diorama von Mark Dion aus dem
Jahr 2006 zeigt, dass Wildnis zu einer
Denkfigur geworden ist, die man wie einen
Wagen an jeder gerade passenden Stelle
an- und abkoppeln kann. Ein Gedanke, der
überall geparkt werden kann. Das zeigt

sich auch im Begleitbuch, das wie ein Kata-
log die Werke in der Ausstellung nochmals
vor Augen führt und zusätzlich mit anre-
genden Essays das Thema beleuchtet.
Gegliedert ist das Buch entsprechend den
Kapiteln der Ausstellung, sodass die Leser
vom Glück im Freien und der Jagd nach
dem Archaischen erfahren, aber auch von
Mythen und Metaphern, von Eros und Tha-
natos, von der Bühne der Macht, den Jagd-
trophäen und den Tieren, die zurNature
mortegeworden sind.
Da begegnet man Paul Klee und Peter
Paul Rubens, Robert Mapplethorpe und

Balthasar Burkhard, Félix Vallotton und
Gustave Courbet, Albrecht Dürer und Not
Vital, der mit einem eisernen Hirschge-
weih zur Stelle ist, auf dessen Enden der
Ausdruck „Fuck you“ zu lesen ist. Was
fehlt, das ist Tizians großartiges Gemälde
„Diana und Actaeon“, entstanden in den
Jahren 1556 bis 1559, das man nicht von
der National Gallery in London ausleihen
konnte. Auch wenn man für das Museum
in Chur nicht jede Leihgabe bekommt, ist
dieses Bild nun immerhin im Begleitband
zu finden.
In der Ausstellung aber steht Pierre
Klossowskis Skulpturengruppe „Diane &
Actéon“, entstanden 1990, aus einer Kölner
Privatsammlung. Klossowski gibt dem an-
tiken Mythos vom Jäger, der die Jagdgöttin
Diana entjungfern will und dabei von die-
ser in einen Hirsch verwandelt wird, der
wiederum von den Hunden des Jägers auf-
gefressen wird, eine völlig neue Wendung:
Sein zum Hirsch gewandelter Jäger wird
von der nackten Jagdgöttin, die sich mit
ihrem Hubertushut selbst als Jägerin zu
erkennen gibt, zum Liebesspiel empfan-
gen, während die Hunde gewissermaßen
als geil gewordene Natur das Geschehen
interessiert verfolgen.
Und so kann man diese Ausstellung all
jenen, die auf der Fahrt in die Sommer-
frische der Schweiz noch ein bisschen
Kunst auftanken wollen, nur empfehlen.
So erfrischend, inspirierend, ja geradezu
aufregend war ein Zwischenhalt in Chur
selten. christoph heim

Passion. Bilder von der Jagd.Bündner Kunst-
museum, Chur. Bis 27. Oktober.

von fritz göttler

E


in Film, der sich nicht fassen lässt,
unbeschreiblich, was in ihm sich
ereignet, was er mit einem macht in
der Zeit, die man mit ihm verbringt,
13 Stunden, 28 Minuten. Viele Jahre hat
der argentinische Filmemacher Mariano
Llinás mit Freunden und Kollegen und
Akteuren an „La flor“ gearbeitet, nicht am
Stück, aber immer wieder haben sie sich zu-
sammengefunden und gedreht. Der Film
wurde auf den Festivals in Locarno und Ber-
lin in konzentrierten Block-Vorführungen
gezeigt, und so wird er nun in den nächsten
Wochen bei uns zu sehen sein, am Freitag
auch in München, im Werkstattkino. Aber
ein Durchlauf kann natürlich nicht genug
sein für das Werk, für all die vielen Pfade
und die Art, wie sie sich verzweigen.
Die Blume dieses Films hat Widerha-
ken, sie gleicht einer Harpune mit vier
Zacken. Der Filmemacher selbst entwirft
sie für uns zu Beginn seines Werks, er sitzt
in einer Allee an einem Steintisch und skiz-
ziert in klaren Strichen seinen Film: Sechs
Geschichten sind es, die nichts miteinan-
der zu tun haben. Vier davon haben einen
Anfang, aber kein Ende, sie hören mitten-
drin auf – das sind die vier Zacken, die er
aufwärts malt –, die fünfte hat einen
Anfang und ein Ende – dafür malt er unter
die Zacken einen Kreis –, die letzte beginnt
in der Mitte und beendet den Film – dafür
zieht er einen Strich unter dem Kreis nach
unten. Und während er den Film skizziert,
der in diesem Moment noch nicht existiert,
blättert er ein dickes Notizbuch durch, mit
Zeichnungen und Sätzen: „Ich kam zur
Welt, sehr jung in eine sehr alte Zeit.“

Anfang des Jahrhunderts, erzählt Maria-
no Llinás in einem großartigen Interview
in der ZeitschriftCinemascope, war die
Fiktion in großen Schwierigkeiten, stark
gefährdet, das hat ihn schwer beschäftigt,
bis zur Besessenheit. Eine Besessenheit,
die er mit den großen südamerikanischen
Erzählern des magischen Realismus teilt,
von Borges über Márquez zu Cortázar. End-
loses Erzählen! 2006 hat Llinás dann die
vier Frauen gesehen, die nun seinen Film
über viele Stunden gestalten und tragen,
sie spielten in einem Stück mit dem Titel
„Neblina“ – Nebel, Dunst –, und er wusste,
„diese vier könnten die Fiktion an neue
Orte führen“. Zusammen bilden sie die
Gruppe „Piel de Lava“ – Laura Paredes,
Elisa Carricajo, Pilar Gamboa, Valeria Cor-
rea –, sie übernehmen immer neue Rollen
in den komplexen Gespinsten des Films –
aber im Grunde handelt der Film immer
nur von eben diesen Frauen. Aus ihren
Gesten, Blicken, Tränen, ihrem Schweigen
ist dieser behutsame Film gebaut.
Sie sind keine konsequenten, in sich
geschlossenen Figuren, eher Schemen, die
sich von Episode zu Episode verwandeln.
Llinás hasst die Psychologie und die narra-
tiven Restriktionen, die sie dem Erzählen
auferlegen, für ihn sind die Figuren Er-
scheinung, Klang, eine Art des Aussehens.
Elisa Carricajo ist anfangs eine emotional
verstörte Wissenschaftlerin und wird in
der nächsten Episode die Führerin eines
Agentenrings, Gamboa beginnt als eine
Sängerin und Songschreiberin, wechselt
zu einer sprachlosen Killerin.
Llinás liebt die Kinogeschichte, und die
Episoden variieren altbekannte Genres des
Kinos, vom Serial bis zum Musical, Kalter
Krieg und Dschungelfilm, Hitchcock und

Fritz Lang, man findet Echos in jeder Ein-
stellung und kann sich an den Bruchstellen
mühelos Fehlendes ergänzen aus der Erin-
nerung. Der erste Teil, sagt er, ist eine Art
B-Movie, wie sie die Amerikaner einst mit
geschlossenen Augen machen konnten und
jetzt nicht mehr hinkriegen. Ein Cineasten-
Traum. Es gibt eine geheimnisvolle Mumie,
deren Fluch wissenschaftlich untersucht
werden soll, dann kommen diversemad
scientistsund Pharmabosse zu Wort, die
sich intensiv mit Skorpionen befassen und
mit der Frage, was man mit dem Gift aus
ihren Stacheln machen könnte, um die alte
Frage der Wissenschaft, die die Quacksal-
berei nicht mehr im Auge hat, zu klären –

die nach der ewigen Jugend. Und man
merkt, das ist genau die Frage, die auch das
Kino beschäftigt, wieder und wieder.
Die fünfte Episode ist an Jean Renoirs
wunderbarem kleinen Film „Partie de
Campagne“ orientiert – keine Hommage,
versichert Llinás, das wäre eine fade Form
der Ehrerbietung. Nein, ein Diebstahl, ein
Insult. Die Brutalität der Kunst, die schon
die Maler praktizierten. Das Kino und die
Malerei durchdringen einander für Llinás,
für ihn ist Hitchcocks „Vertigo“ – auch
dessen Echo durchaus in vielen Einstellun-
gen zu spüren – als Gemälde moderner
und schöner als der ganze Picasso. Und es
steckt eine Menge Manet in „La flor“.

Einmal zieht eine Gruppe Filmemacher
los, um Bäume zu filmen, und da gibt es
gleich eine Totale von einem dichten Wald.
Mittendrin scheint sich die Perspektive
nach oben zu schieben ... aber dann merkt
man, es ist die Sonne, die sich kraftvoll
über die Baumwipfel hinunterschiebt. Ein
Film, der an uns arbeitet, von Bild zu Bild.

La flor,Argentinien 2018 – Regie, Buch: Mariano Lli-
nás. Kamera: Agustín Mendilaharzu. Schnitt: Alejo
Moguillansky,Agustín Rolandelli. Artdirection:
Sofía Marramá. Mit: Elisa Carricajo, Valeria Correa,
Pilar Gamboa, Laura Paredes, Esteban Lamothe,
Pablo Seijo. Grandfilm, 13 Stunden, 28 Minuten.

Der Eingang zur Bühne liegt im Park, vor
dem Eingangsitzt Anastassija Tarassowa
wie in ihrem eigenen Garten. Ein Treffen in
Almaty, vor der Wahl im Juni. Damals war
das Theater Artishock in den Fokus gera-
ten. Theaterchefin Tarassowa hatte die
Bühne für eine nächtliche Diskussion ge-
öffnet, mehrere hundert Menschen ka-
men. Es ging um den gerade zurückgetre-
ten Autokraten Nursultan Nasarbajew und
um die Proteste gegen seine inszenierten
Wahlen in Kasachstan.
Proteste in Almaty sind oft kleine, kreati-
ve Einzelaktionen. Ein Künstler zitiert auf
einem Plakat die Verfassung, ein Aktivist
liest ein Gedicht vor. Meistens werden sie
dabei festgenommen. Das war vor der
Wahl so, und es ist jetzt, mit Nasarbajews
ausgesuchtem Nachfolger, nicht anders.
Vor der Wahl hat Anastassija Tarassowa
den vorwiegend jungen Aktivisten, die
sonst nirgendwo hingehen konnten, die
Tür zum großen fensterlosen Theater-
raum geöffnet. Eine „impulsive menschli-
che Entscheidung“ sei das gewesen, an die
Folgen hatte sie nicht gedacht. Die Polizei
übte Druck auf die Vermieter aus, die die
Theatergruppe jederzeit vor die Tür setzen
könnten. „Wenn ich jetzt im Gefängnis wä-
re, würde ich wahrscheinlich sagen, dass
es falsch war“, sagte sie damals im Park.
„Wir sind alle Feiglinge.“

Was ist die Aufgabe eines unabhängigen
Theaters in einem autokratisch regierten
Land? Sie würde die Frage so nicht formu-
lieren, aber genau darüber hat sie viel nach-
gedacht. Im Theater sprächen sie noch
über Probleme, die die Medien, die meis-
tens unter Staatskontrolle stehen, längst
nicht mehr behandelten. Etwa darüber,
warum die kasachische Gesellschaft wie
auf gepackten Koffern sitze. „Darüber,
dass wir nicht an die Zukunft unseres Lan-
des glauben, in Unsicherheit leben.“
In dieser Saison haben sie Hamlet ge-
spielt, und dabei den Ausverkauf des Lan-
des an China kritisiert. Hamlets Familie er-
innerte sehr an die mächtigste Familie Ka-
sachstans. Am Ende wehte eine chinesi-
sche Fahne auf der Bühne. „Viele Jahre
lang beweisen wir hier, dass wir so tapfer
sind. Aber das wird in einer Sekunde zu-
nichtegemacht“, hat sie über die große
Angst gesagt, die sie nach diesem nächtli-
chen Treffen überkam. Über Politik zu dis-
kutieren und über den Präsidenten ist ris-
kant in Kasachstan. Was, wenn sie oder das
Theater bestraft würde? „So schlecht ging
es mir nie“, hat Anastassija Tarassowa ge-
sagt. Später, zum Wahltag, gab es große
Proteste auf den Straßen von Almaty und
Astana. Hunderte wurden festgenommen.
Wenn man Anastassija Tarassowa heute
anruft, ist sie noch unsicherer als damals.
Sie trauten sich nicht mehr wie früher, im
Freien zu proben, sagt sie. „Für alles, was
Aufmerksamkeit auf die Straße zieht, wird
man sofort festgenommen.“ Sie hat den
Kollegen geraten, nicht an Protestaktio-
nen teilzunehmen, die es immer noch gibt,
weil Reisen anstanden, Festivaleinladun-
gen. „Man hat keine Garantie, dass man im
Flughafen nicht festgenommen wird.“
Sie würde die jungen Künstler, die kriti-
sche Lieder komponieren, Gedichte vortra-
gen und Schilder hochhalten, gerne unter-
stützen. Man müsste sich zusammentun,
hat sie vor der Wahl gesagt. „Wir sind
schöpferische Menschen. Es ist interes-
sant zu versuchen, dieses System zu über-
listen.“ Heute sagt sie, niemand tue sich zu-
sammen, auch weil die Angst bremst.
silke bigalke

Wildnis ist ein Gedanke, den man überall parken kann


Das Bündner Kunstmuseum in Chur zeigt eine großartige Ausstellung über Jagd in der Kunst


Die Blume mit vier Widerhaken


Ewiges Erzählen! Na ja, zumindest 13 Stunden und 28 Minuten: Der Argentinier Mariano Llinás hat mit


„La flor“ ein monumentales Epos aus sechs voneinander unabhängigen Geschichten geschaffen


Der Bildhauer Pierre Klossowski
zeigt den Mythos vom Jäger,
der über die Göttin Diana herfällt

In seinen Augen war die Fiktion
Anfang des Jahrhunderts in
großen Schwierigkeiten

Was würde Mozart wohl zu Deutschrap
sagen? Fände er Streaming-Algorith-
men standesgemäß? Und Auto-Tune
cool? Derlei Gedankenexperimente gibt
es auf „Orsons Island“ (Chimpera-
tor/Vertigo), dem neuen Album der vier
Rapper, die sich unter dem NamenDie
Orsonszu einer Art Hip-Hop-Boygroup
zusammengetan haben und mit ihrem
ironischen, enorm unterhaltsamen Stil
seit Jahren eine Leerstelle des Deutsch-
raps erkunden – nämlich zwischen Fun
und Ernsthaftigkeit, zwischen Old-
School- und Gangsterrap, Popmusik
und Trap, zwischen smartem Wortwitz,
intimer Selbstbeobachtung und Zweifel
als Grundmodus. Meistens treffen ihre
Tracks mit erstaunlicher Zielsicherheit
die goldene Mitte. Wenn sie nun also in
„Dear Mozart“ den „verehrtesten Wolf-
gang“ postum befragen, dann geht es
nicht nur um die musikalische Legitimi-
tät von Computer-Beats, sondern auch
um „Autotune unrelated topics“ wie das
Selbstverständnis der Szene oder die
politische Großwetterlage (Rechtsruck,
Bürgerkrieg in Syrien, Strache auf Ibi-
za): „Diese Na... – ach, was sag ich, Na-
zis? Wolfgang, du weißt ja nicht einmal,
wer Hitler war.“ Und da sind wir erst in
der ersten von vier Phasen, die das Al-
bum durchläuft: „Kapitel 1: Virtuelle
Realität – ewig schon wach“. Auf Party
und Zeitgeist folgt der Abgrund am
Morgen danach, drittens Aufbruchs-
stimmung und schließlich ein paar (wie
immer natürlich
nicht einfache)
Antworten. Dazu
gibt es nebelverhan-
gene Synthie-Flä-
chen, vibrierende
Basslines und reich-
lich Tempowechsel.


Der Schlafzimmer-Pop für das Jahr
2019 kommt von einer jungen Amerika-
nerin: Auf ihrem Debütalbum „Immuni-
ty“ (Caroline) spielt und singt Clairo
einen charmant zwischen Lustlosigkeit
und Intimität oszillierenden Lo-Fi-Pop.
Bekannt geworden ist die 20-Jährige
2017 mit einen Youtube-Hit: Der wun-
derbar dilettantische Webcam-Clip, in
dem sie mit selbstverlorenem Blick und
Kopfhörern in den Ohren ihren Song
„Pretty Girl“ runterträllert, zählt mittler-
weile mehr als 36 Millionen Aufrufe auf
Youtube. Das Geheimnis von Clairos
immer melodischen, aber vage und
vernebelt wirkenden Pop-Miniaturen
ist das Nebeneinander von Alltäglichkei-
ten (runtergeschluckte Kaugummis,
„Flaming hot Cheetos“) und den zwi-
schenmenschlichen Frustrationen eines
Teenagers. Dass auf Albumlänge der
Versuch glückt, Sounds aus dem Post-
Internet-Fundus einzubauen (Trap-
Beats, verschlisse-
ne Synthesizer,
Stimmverzerrung),
bringt Clairo in
Stellung: als Indie-
Pop-meets-Main-
stream-Star einer
neuen Dekade.


Erinnert sich eigentlich noch jemand,
wann es zuletzt eine so vibrierende
lokale Jazzszene gab wie derzeit in Lon-
don? Muss irgendwann in den Siebzi-
gern gewesen sein. Nun gibt es alle paar
Monate neue aufregende Platten, die
zudem in einem breiteren, popmusikali-
schen Kontext Beachtung finden. Dazu
gehört auchNérija, ein Septett, das auf
seinem Debüt „Blume“ (Domino) mit
derart furiosen, agilen Jazzkompositio-
nen aufspielt, dass es nahezu unmög-
lich ist, nicht mindestens mit den Fin-
gerspitzen mitzuwippen. Tief im Inne-
ren der kaleidoskopischen Fusion-Melo-
dien steckt eine Vielzahl von Einflüs-
sen, die aber weniger konkrete Referen-
zen als Dialekte einer musikalischen
Sprache der Band zu sein scheinen:
Man hört Afrobeat, Soul und Hip-Hop,
UK Garage, den exzentrischen Miles
Davis, Blaxploitation-Soundtracks und
hier und da – wie im weitschweifigen
Siebenminüter „EU (Emotionally Un-
available)“ – sogar Spuren von Post-
Rock-Klangschleifen, wie sieSigur Rós
in den Nullerjahren
spielten. All das
existiert bei Nérija
gleichzeitig – und
verdichtet in einer
warmen, sprudeln-
den Unterwasser-
stimmung.


Zum Schluss sei unbedingt noch auf
Rico Nasty hingewiesen: Die Amerikane-
rin steht im Zentrum einer Gruppe von
talentierten Rapperinnen, die das män-
nerdominierte Genre mit einer Vielzahl
neuer Perspektiven und Kreativansätze
beleben. Bemerkenswert war bereits
das Mixtape „Anger Management“, auf
dem sie sich in 18 rasant, heiser, über-
steuert, aber immer reflektiert gerapp-
ten Minuten mit dem Thema Wut aus-
einandersetzt. Für die neue Single
„Times Flies“ (Sugar Trap) hat Rico
Stimme, Themen – und Möglichkeiten



  • noch einmal enorm ausgedehnt: Hier
    geht es um den Mut, sich das Leben in
    großen Dosen zu nehmen, als würde
    man abends bereits tot sein, hier geht
    es um den Kampf mit sich selbst, um
    Emanzipation einer jungen afroameri-
    kanisch-puertoricanischen Frau. Man
    schreibt das als
    Popkritikerin nicht
    gerne, aber... Mer-
    ken Sie sich diesen
    Namen, Sie werden
    von dieser Frau
    hören!annett
    scheffel


Sie gaben Hamlet. Damit
kritisierten sie den Ausverkauf
Kasachstans an China

10 HF2 (^) FEUILLETON Mittwoch,31. Juli 2019, Nr. 175 DEFGH
Krimi, Liebesfilm, Musical, Hitchcock, Serial – Elisa Carricajo, Laura Paredes,
Pilar Gamboa, Valeria Correa (von links nach rechts) spielen keine festen Rollen, sondern
verwandeln sich von einer zur anderen Episode.FOTOS: VERLEIH
Vom Glück im Freien und der Jagd nach dem Archaischen: „Mobile Wilderness
Unit – Wolf“ (2006) von Mark Dion. FOTO: MUSEUM; GALERIE GEORG KARGL, WIEN
POPKOLUMNE SCHAUPLATZ ALMATY
Gesellschaftauf
gepackten Koffern

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