Süddeutsche Zeitung - 31.07.2019

(Darren Dugan) #1
Eine der Bürden, die gekrönte Häupter
tragenmüssen, ist eine gelegentliche Ver-
pflichtung zum Eigenlob. Anders als nor-
male Arbeitnehmer können sie nicht dar-
auf zählen, dass zu besonderen Dienstju-
biläen ein Kollege oder Vorgesetzter wür-
digende Worte spricht. Und so nahm Mo-
hammed VI., König von Marokko und
Oberhaupt der Gläubigen, am Montag in
seiner Sommerresidenz in Tétouan Platz,
um sich zum 20. Jahrestag seiner Thron-
besteigung selbst eine Rede zu halten.
Kronprinz Moulay Hassan und Moham-
meds Bruder Moulay Rachid, die Num-
mer zwei der Thronfolge, saßen hinter
dem Monarchen, wohl um die Kontinuität
des seit 1664 regierenden Hauses der Ala-
widen zu unterstreichen. Für die anderen
34 Millionen Marokkaner wurden die
Worte von „M6“, wie der Regent oft ge-
nannt wird, über sämtliche Radio- und
Fernsehstationen des Landes übertragen.
Man muss Mohammed VI. zugutehal-
ten, dass seine Worte den Zustand des Lan-
des nach zwei Dekaden seiner Herrschaft
relativ akkurat beschrieben: Der König
hob die politischen und ökonomischen Re-
formen hervor, die er angestoßen hat, ge-
stand aber auch ein, dass nicht jeder Ma-
rokkaner ausreichend von ihnen profitie-
re. Aus diesem Grund kündigte er eine Ka-
binettsumbildung und die Schaffung ei-
nes Expertengremiums an, das eine neue
Vision für die Entwicklung des Landes er-
arbeiten soll. Auch dies ist in gewisser Wei-
se typisch für das heutige Marokko: Miss-
stände werden zwar durchaus benannt,
die Verantwortung für sie wird aber den
Berufspolitikern und höfischen Beratern
zugeschoben. Nicht jedoch dem König, ob-
wohl der weiterhin die zentrale Machtpo-
sition im politischen System innehat.

Als Mohammed im Juli 1999 eine Wo-
che nach dem Tod des Vaters den Thron
bestieg, setzten die Marokkaner große
Hoffnungen in den damals 35-Jährigen:
Mit seinem Faible für Jetski und PS-star-
ke Sportwagen war er zwar nicht wirklich
ein Mann des Volkes, schien aber deutlich
nahbarer als Hassan II., der das Land mit
unerbittlicher Härte regiert hatte.
Tatsächlich machte Mohammed vieles
anders: Er heiratete eine Bürgerliche, ließ
das Familienrecht reformieren und die Ge-
schlechter formal gleichstellen, berief ei-
ne Wahrheitskommission ein, um die
Menschenrechtsverletzungen aufzuarbei-

ten, die im Namen seines Vaters begangen
worden waren. Er ließ Straßen, Häfen, Zü-
ge und Solarkraftwerke bauen, und als
2011 der Wind der Veränderung durch die
Region wehte, modernisierte „M6“ auch
die Verfassung – wohl um zu verhindern,
dass sich ein Sturm entwickelt, der die
Monarchie hinwegfegen könnte.
Tiefgreifend demokratisch waren die-
se Reformen jedoch nie. Und auch, als die
Medien ihm den Beinamen „König der Ar-
men“ verliehen, weil er anprangerte, dass
der Reichtum im Land wächst, aber nur
wenige etwas davon merken, belegte das
eine gewisse Doppelmoral: Mohammed
VI. ist Milliardär, einer der reichsten Mon-
archen der Welt. Als Unternehmer ist er in
fast jedem Wirtschaftssektor engagiert,
die Einnahmen, die ihm seine Untertanen
in ihrer Doppelrolle als Kunden besche-
ren, sind für Majestät steuerfrei.
Zuletzt stand „M6“ eher wegen priva-
ter Dinge im Fokus: Viel Zeit verbringt er
in seinem Schloss Betz bei Paris, zumin-
dest lassen unzählige im Netz kursieren-
de Selfies darauf schließen. Auf ihnen po-
sieren stolze Diaspora-Marokkaner mit
dem Regenten, der zu Hause traditionelle
Roben trägt und im Ausland modisch äu-
ßerst gewagte Kombinationen. Und als
der Hof 2018 ein Foto aus einem Kranken-
haus veröffentlichte, sahen viele Marok-
kaner zwei lange kursierende Gerüchte
belegt: Zum einen ist Mohammeds Ge-
sundheit angegriffen, dem Vernehmen
nach war er am Herzen operiert worden.
Zum anderen ist „M6“ wohl wieder Sin-
gle. Auf dem Bild war der König von Fami-
lienmitgliedern umringt, nur die Ehefrau
fehlte, Prinzessin Lalla Salma. Mittlerwei-
le hat ein Anwalt des Paares die Trennung
bestätigt. moritz baumstieger

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von constanze von bullion

E


motion ist in der Politik ein Wegbe-
gleiter, der so hilfreich wie gefähr-
lich ist. Wer es versteht, Gefühle zu
transportieren, kann aus einer mittelmä-
ßigen Rede eine große machen. Wer im
politischen Geschäft sein Mitgefühl nicht
verliert, sorgt dafür, dass Menschlichkeit
die Oberhand behält. Wer vor lauter An-
teilnahme allerdings jene Grenze über-
quert, die den gerechten Zorn vom Hass
trennt und das Engagement von der Ma-
nipulation, der macht Emotion zum Ge-
fahrengut. Es kann eine ganze Gesell-
schaft vergiften. So wie jetzt das Beispiel
Frankfurt zeigt.
Ein Mann hat da eine Mutter und ihr
Kind vor einen Zug gestoßen. Das Kind
ist tot, die Mutter fürs Leben gezeichnet.
Das Entsetzen ist so groß im Land, dass
vielen die Worte fehlen. Kein Wunder.
Wer kann schon den Schmerz ermessen,
den eine solche Gewalttat hinterlässt?
Und wem ginge nicht die Galle über ange-
sichts der Aggression des Täters? Keine
noch so schwierige Biografie wird Ver-
ständnis erwecken können für das, was
da geschehen ist. Und doch.
Und doch tut innere Abkühlung not
nach der Attacke in Frankfurt. Denn was
sich jetzt in Gang setzt, ist neben echter
Anteilnahme auch hämisches Triumph-
geheul: Ein gebürtiger Eritreer! Da seht
ihr’s! Schuld ist der Fremde, teilten AfDis-
ten erwartungsgemäß mit. Migration
wird da als Mutter aller Probleme ausge-
macht, frei nach dem Horst Seehofer des
Jahres 2018. Und die Angst vorm schwar-
zen Mann? Hat jede Menge neue Nah-
rung.
In einer solchen Situation ist es ein
Leichtes, in bewährte Erklärungsmuster
zu flüchten. Mancher, der rechts von der
Mitte politisch daheim ist, wird Einwan-
derung, das Bekenntnis zu Vielfalt für sol-
che Verbrechen verantwortlich machen.

Als Feind gelten da alle, die mit Weltoffen-
heit gut leben können. Auf der Gegensei-
te, in linken und grünen Biotopen, wird
ähnlich reflexhaft diskutiert. Hier regt
man sich aber lieber über Wächtersbach
auf, wo ein Eritreer aus einem Auto be-
schossen wurde. Der Feind Nummer
eins, klar, ist da der Rechtsextremist.
Hier Frankfurt, dort Wächtersbach,
hier Kampf gegen angebliche Überfrem-
dung, dort heiliger Zorn gegen die Rassis-
ten im Land – die Feindbilder verhärten.
Und in Zeiten schwindender innerer Si-
cherheit, der gefühlten, flüchten viele
sich in die Wagenburg der Emotion. Dort
kann man mit Seinesgleichen ungestört
hassen, die anderen. Nur gegen die Wirk-
lichkeit wird es halt nichts helfen.

Zur Wirklichkeit gehört, dass keine Vi-
deokamera und keine noch so scharfe
Überwachung überall vor Mördern oder
psychisch vorbelasteten Tätern schützen
kann. Zur Wahrheit gehört auch, dass bei
Gewaltdelikten die Zahl nicht-deutscher
Tatverdächtiger noch überproportional
hoch ist. Gleichzeitig können Nationalität
und Hautfarbe aber keine Erklärungen
liefern für Verbrechen oder Wohlverhal-
ten eines Menschen. Wer aufgrund solch
rassistischer Denkmuster zu Gewaltta-
ten aufruft, muss die ganze Härte des
Rechtsstaats spüren.
Von der Politik und dem Bundesinnen-
minister aber wünscht man sich jetzt vor
allem: Kühle. Nach Jahren der Emotiona-
lisierung und aufgeregter Abgrenzung
von der Einwanderungsgesellschaft ist
ideologiebereinigte Entschlossenheit ge-
fragt, gegen Straftäter und Gefährder al-
ler Sorte. Das Land muss jetzt befriedet
werden. Sonst bricht es auseinander.

von peter münch

N


och längst ist der Wahlkampf zur
vorgezogenen österreichischen
Parlamentswahl am 29. Septem-
ber nicht in seine heiße Phase getreten.
Doch für Karl Nehammer, Generalsekre-
tär der ÖVP, ist dies bereits „die schmut-
zigste Schlacht, die es jemals gegeben
hat“. Der frühe Superlativ mag übertrie-
ben sein. Schließlich geht es hierzulande
beim Streit um die Stimmen stets so derb
zur Sache, dass die „Schmutzkübel-Kam-
pagne“ zu einer feststehenden austriaki-
schen Redewendung geworden ist. Doch
zu erwarten ist in diesem Jahr tatsächlich,
dass im Wettstreit der Dreckschleudern
ein paar neue Negativrekorde erzielt wer-
den. Denn von einem dominierenden
Sachthema ist in diesem Wahlkampf
nichts zu sehen. Die politische Auseinan-
dersetzung dürfte also vor allem ums Per-
sönliche geführt werden.
Als Zielscheibe bietet sich dabei natür-
lich zuvörderst der ÖVP-Spitzenkandidat
Sebastian Kurz an, der sich seit seinem
Sturz durch das Parlament als Kanzler in
Karenz präsentiert und die Neuwahl eher
als lästiges Bestätigungsverfahren anzuse-
hen scheint. In allen Umfragen liegt er mit
36 bis 38 Prozent weit vor der Konkur-
renz. Alle gegen einen ist da die logische
Konsequenz. Irgendwas könnte ja dem Te-
flon zum Trotz hängen bleiben.
Diese Fokussierung auf den Führen-
den ist für die ÖVP so absehbar gewesen,
dass sie ihre Strategie darauf abgestimmt
hat: Kurz tritt im Wahlkampf bislang vor
allem als Opfer in Erscheinung. Begonnen
hat das direkt nach dem verlorenen Miss-
trauensvotum, als er den Slogan ausgab:
Das Parlament hat bestimmt, das Volk
wird entscheiden. Als anschließend aus
anonymen Quellen abstruse bis absurde
Anwürfe auf Kurz einprasselten – mal
ging es um Drogen, mal um Pornos – wur-
de dies vor allem dadurch bekannt, dass

die ÖVP lautstark darauf regierte. Nach
gleichem Muster war zuvor ein „Fäl-
schungsskandal“ ausgerufen worden um
geheimnisvolle E-Mails, die Kurz in die
Ibiza-Affäre hineinziehen sollten.
Mit dieser Strategie verfolgt die ÖVP
gleich drei Ziele: Die öffentliche Opferpo-
se dient zur Ablenkung von unangeneh-
men Themen wie der Affäre um geschred-
derte Festplatten aus Kurz’ Kanzleramt.
Sie schließt die Reihen und befördert die
Mobilisierung der eigenen Anhänger-
schaft. Und nicht zuletzt wird suggeriert,
es müsse da, wo ein Opfer um Aufmerk-
samkeit buhlt, auch Täter geben – und die
sind natürlich in den Reihen der politi-
schen Gegner zu suchen.

Besonders gern nutzt die ÖVP dafür
den Namen jenes israelischen SPÖ-Bera-
ters, der 2017 eine üble Kampagne gegen
Kurz initiiert hatte. „Silberstein“ ist so zur
Chiffre für alles Böse im Wahlkampf ge-
worden, und dass dabei heute auch ein an-
tisemitischer Unterton mitschwingt, wird
zumindest in Kauf genommen.
Die Schmutzkübel stehen also an vie-
len Ecken in diesem Wahlkampf, und sie
dürften bis zum Finale weiter gut befüllt
und kräftig entleert werden. Ob solche un-
tergriffigen Auseinandersetzungen tat-
sächlich Einfluss auf das Wahlergebnis ha-
ben, ist ungewiss. In jedem Fall aber dürf-
ten die Schlachten auf diesem Niveau die
Politikverdrossenheit der Bürger weiter
wachsen lassen. Die dafür verantwortli-
chen Politiker aber werden sich wohl kurz
schütteln nach dem 29. September und
zur Tagesordnung übergehen. Schließlich
müssen die alten Gegner dann eine neue
Koalition ausverhandeln, und kaum ein
Farbenspiel wird ausgeschlossen.

D


ie USA haben eine falsche Forde-
rung mit einer richtigen Frage ver-
bunden. Zum Schutz der Handels-
wege in der Nachbarschaft Irans ersuch-
ten die Amerikaner ihre Verbündeten,
auch Deutschland, sich an einer mariti-
men Mission zu beteiligen. Die Mission
soll die Schifffahrt schützen, ist aber auch
Teil einer Kampagne des maximalen
Drucks, mit der Präsident Trump die Füh-
rung in Teheran im Atomstreit zum Ein-
lenken zwingen will. Die Bundesregie-
rung hält diese Politik für falsch und lehnt
eine Teilnahme ab. Den Schutz der Seewe-
ge hält aber auch sie für wichtig. Deshalb
ist die Frage der Amerikaner berechtigt:
Wer bitte soll diese Seewege schützen?


Kurzzeitig sah es so aus, als könnte es
darauf eine europäische Antwort geben.
Großbritannien hat eine eigene Mission
der Europäer ins Spiel gebracht, zwischen-
zeitlich aber offenbar das Interesse verlo-
ren. Sei es, weil sich gezeigt hat, wie
schwer ein solcher Einsatz auf den Weg zu
bringen ist. Sei es, weil Premierminister
Boris Johnson die Nähe zu Trump sucht.
Im Ergebnis zeigt sich, wie schon im
ganzen Verlauf der Iran-Krise, wie wenig
die Deutschen, Briten und Franzosen der
brachialen Außenpolitik Trumps entge-
genzusetzen haben. Seine Strategie des
maximalen Drucks zielt auf Iran, aber sie
offenbart auch die Schwäche der Euro-
päer. daniel brössler

Z


ugegeben – das Gefängnis von Alta-
mira im Bundesstaat Pará in Nord-
brasilien liegt schon sehr weit weg
von Deutschland, gut 8300 Kilometer, um
genau zu sein. Trotzdem sollte man ange-
sichts des dortigen Massakers, dem 57
Menschen zum Opfer fielen, kurz innehal-
ten. Auch hierzulande sollte man sich für
diese Toten interessieren.
Zwar haben es mehrere brasilianische
Regierungen versäumt, etwas gegen die
verheerenden Verhältnisse in den Gefäng-
nissen des Landes zu tun; gegen die Über-
belegung und gegen die Perspektivlosig-
keit. Andererseits aber würden die Massa-
ker wohl auch nicht aufhören, wenn die Zu-
stände besser wären. Der brasilianische


Staat hat es mit einem übermächtigen
Gegner zu tun, und zwar mit dem interna-
tionalen Drogenhandel.
Die lokalen Banden arbeiten eng mit
den großen lateinamerikanischen Kartel-
len zusammen, durch sie bekommen sie
Drogen, Geld und Waffen im Überfluss.
Sie tragen ihre blutigen Kämpfe um die
Vorherrschaft hinein in die Gefängnisse.
Die Großkartelle wiederum wären nie-
mals so mächtig, wenn sie mit ihren Dro-
gengeschäften nicht Milliarden verdienen
würden – dabei spielen die Konsumenten
eine entscheidende Rolle. Wer also illega-
le Drogen kauft, ganz egal wo auf der Welt,
unterstützt letztlich ein Netz des Todes
und der Zerstörung. benedikt peters

W


enn Greta Thunberg demnächst
zum UN-Klimagipfel in New
York reist, will sie das mit einer
emissionsfreien Hightech-Yacht über den
Atlantik tun. Die umweltbewusste Schüle-
rin aus Schweden ist damit natürlich ein
Einzelfall; die Zahl der Flugpassagiere
steigt gleichzeitig weiter an. Davon, dass
nun viele Menschen aus Umweltgründen
das Fliegen lieber vermeiden, ist nicht viel
zu spüren. Gerade jetzt in der Ferienzeit
sind viele Flughäfen überfüllt.
Kein Wunder, denn Fliegen ist noch im-
mer sehr und zu günstig, für knapp 20 Eu-
ro kann man schon nach Mallorca kom-
men. Viele kritisieren inzwischen diese Bil-
ligflüge, doch es tut sich wenig. Im Gegen-


teil: Die Ticketpreise in Europa und
Deutschland sinken sogar. Auch deshalb
hatte Lufthansa jetzt einen deutlichen Ge-
winneinbruch zu verkünden.
Grund dafür ist die große Konkurrenz:
Damit die Maschinen voll werden, locken
Airlines wie Ryanair, Easyjet, Lufthansa
oder deren Billigtochter Eurowings die
Passagiere mit günstigen Preisen, die
manchmal nicht mal die Kosten decken.
Sinnvoll für Klimaschutz und Wettbe-
werb wäre es, die Start- und Landerechte
knapper und teurer zu machen. Dann gä-
be es weniger Flüge und folglich höhere Ti-
cketpreise. Die Folge wäre aber auch, dass
am Ende nicht mehr wie bisher jeder
Mensch fliegen könnte. caspar busse

M


it einigen mahnenden Wor-
ten, immerhin, haben
Deutschlands höchste
Richter die Europäische
Bankenunion durchge-
winkt. Das klingt wie eine Meldung aus
dem Betrieb, weit weg von den Menschen.
Dabei war dieses Verfahren und sind die
anderen Verfahren, über die derzeit vor
dem Bundesverfassungsgericht verhan-
delt wird, für jeden Bürger wichtig. Es
geht um Europas Zukunft, um deutsche
(Rest-)Kompetenzen – und um viel Geld.
Die (jetzt bejahte) Frage, ob die EU auch
zulasten deutscher Einflussmöglichkei-
ten Banken beaufsichtigen darf, ist das ei-
ne. Die Frage, wie sehr sich die Europäi-
sche Zentralbank (EZB) in die Finanzpoli-
tik einmischen darf, das andere. So hat die
EZB mit Wohlwollen der Regierungen für
bisher 2,6 Billionen Euro Wertpapiere ge-
kauft, um die Wirtschaft zu stimulieren
und die Schulden vor allem in Südeuropa
abzusichern. Das ist eine Zahl mit elf Nul-
len. In Ziffern geschrieben sieht sie so aus:
2600 000 000 000. Euro!


Euro-Kritiker – konservative Politiker,
Juristen, Professoren, Unternehmer – ver-
suchen seit Jahren, die europäischen Insti-
tutionen bei dieser gigantischen Geldver-
mehrung vor Gericht zu stoppen. Ihr Argu-
ment: Das Finanzkarussell, maßgeblich
betrieben vom jetzt scheidenden EZB-Prä-
sidenten Mario Draghi, sei extrem ris-
kant, für Deutschland schädlich und nicht
vom europäischen Recht gedeckt. Das
stimmt und stimmt auch wieder nicht.
Was die Kläger zu gering gewichten:
Die Europäische Union ist eine historische
Chance. Sie ist, nur zwei Generationen
nach dem Ende des letzten Weltkriegs, ein
Friedensprojekt und ein Katalysator für
Wohlstand. Davon profitiert das kleine
Griechenland nicht anders als das große
Deutschland. Wer aber in einer solchen Ge-
meinschaft organisiert sein will, muss zu
Kompromissen bereit sein. Das gilt auch
für die stärkste Volkswirtschaft des Ver-
bundes, Deutschland. Dazu waren die eta-
blierten Politiker immer bereit, und sie
werden es weiter sein müssen, erst recht
seit der Einführung der gemeinsamen
Währung ab dem Jahr 1999.
Der Euro kam, wie wir heute wissen, zu
früh. Er setzt eine gemeinsame Finanz-,
Wirtschafts- und Sozialpolitik voraus, für
die die Mitgliedstaaten noch nicht bereit
sind. Die Hoffnung, das werde sich in der
Praxis schon richten, hat getrogen. Nun
aber ist der Euro da, und ihn aufzukündi-


gen, hieße, die EU dramatisch zu beschädi-
gen – längerfristig ganz sicher zum Scha-
den Deutschlands.
Auch die lockere Geldpolitik der EZB ist
gegen die konkreten Interessen vieler
Deutscher, mindestens sofern sie Sparer
sind. Wenn die Zinsen gegen null tendie-
ren oder sogar zu Negativzinsen werden,
dann schrumpft die Vorsorge vieler Men-
schen zusammen und das Geld verliert sei-
ne Funktion als Anreizsystem im Markt.
Beispielsweise existieren Unternehmen
weiter, die eigentlich nicht mehr kredit-
würdig wären, und Grund und Boden wird
immer teurer. Wenn diese Blase platzt,
können die Folgen dramatisch sein.
Die EZB-Politik bewegt sich, vorsichtig
formuliert: an der Grenze des rechtlich Zu-
lässigen. Denn die unabhängige und
kaum kontrollierte EZB soll nach den Ver-
trägen das Geld stabil halten, nicht aber Fi-
nanz- und Wirtschaftspolitik betreiben,
dafür sind dann doch die vom Volk gewähl-
ten Politiker da. Obwohl das alles viel dis-
kutiert wird und einige Mitglieder im EZB-
Rat, darunter der deutsche Bundesbank-
präsident Jens Weidmann, opponieren,
treibt die Draghi-Mehrheit ihr Spiel im-
mer weiter. Kürzlich sind erneut Locke-
rungen der Geldversorgung in Aussicht ge-
stellt worden, und in Frankfurt kursieren
die wildesten Gerüchte, was den Noten-
bankern noch einfallen könnte in ihrem
immer verzweifelteren Versuch, die Wirt-
schaft zu stimulieren.
Es naht der Moment, von dem an die
konkreten Nachteile für Deutschland
nicht mehr durch die allgemeinen Vorteile
für Europa kompensiert werden. Wenn
beispielsweise die Akzeptanz von Europa
in Deutschland weiter schwindet, ist der
Euro, ist die EU womöglich schneller am
Ende, als mancher sich das jetzt vorstellen
mag. Und auch wenn es in Deutschland
verdächtig ruhig ist: Die Lage ist ernst.
Wenn die EZB sich nicht besinnt und eine
Kehrtwende wenigstens in Aussicht stellt,
dann hilft bald nur noch ein Schuss vor
den Bug. Und da sie unabhängig ist und
die Politik sich besser nicht einmischt,
kann dieser Schuss nur vom Bundesver-
fassungsgericht kommen, das jetzt ver-
handelt und in einigen Monaten seine Ent-
scheidung verkündet.
Wenn der Warnschuss nicht fruchtet,
wäre der nächste Schritt eine Notbremse.
In Fachkreisen heißt das:ultra vires.Die
Karlsruher Richter würden dann urteilen,
dass sich die EZB außerhalb ihrer Zustän-
digkeiten bewegt und würden die deut-
schen Organe – etwa die Bundesbank – an-
weisen, dem nicht mehr zu folgen. Das wä-
re die größte denkbare Krise der EU und
womöglich ihr Ende. Die EZB hat es jetzt
in der Hand, eine solche verrückte Zuspit-
zung zu verhindern.

Wenn etwas passiert irgend-
wo im Lande, was das Ein-
schreiten der Polizei erfor-
dert, dann stehen die Beam-
ten mal vor Opfern, mal vor
Tätern – und immer vor einer Lage. Eine
Lage, auf Polizeideutsch auch Einsatzla-
ge genannt und per Beurteilung der Lage,
Behördenkürzel BdL, eingeschätzt, kann
vieles sein: von der Verkehrskontrolle bis
zum Amoklauf. Die Polizei unterscheidet
zwischen Zeitlage und Sofortlage. Zeitla-
gen geben der Behörde die Zeit, sich lan-
ge darauf vorzubereiten – etwa auf Staats-
besuche oder Demonstrationen. Die So-
fortlage dagegen entsteht plötzlich und
sofort, des Lateinischen mächtige Büro-
kraten nennen sie Ad-hoc-Lage. Sie ist ei-
gentlich auch die Regel im Alltag von Poli-
zisten. Verkehrsunfälle, Raufhändel, aus
dem Ruder gelaufene Ehestreitigkeiten –
der Großteil der Sofortlagen wird als
sogenannte „Lage des täglichen Diens-
tes“ von Streifenbeamten bewältigt. Da-
neben aber gibt es eben „Besondere Ein-
satzlagen“, die meist Sofortlagen sind
und zu groß, um von einzelnen Beamten
gehandhabt zu werden. Ein Terroran-
schlag wie das Weihnachtsattentat 2016
in Berlin, das Hunderte Polizisten in ei-
nen Soforteinsatz zwingt, gehört dazu.
Als Konsequenz auf damalige Fehler hat
Berlins Polizei für solche Fälle eine „Füh-
rungsgruppe für Sofortlagen“, die nun ih-
re erste Bilanz vorgelegt hat. jbb

4 HF3 (^) MEINUNG Mittwoch,31. Juli 2019, Nr. 175 DEFGH
FOTO: AP
GEWALTTAT IN FRANKFURT


Entschlossen, aber besonnen


ÖSTERREICH

Kurz und Böse


GOLF-MISSION

Maximaler Druck


BRASILIEN

Netz des Todes


FLUGVERKEHR

Knapper und teurer


Eignungsprüfung sz-zeichnung: pepschgottscheber

EUROPAS ZENTRALBANK


Warnschuss


von marc beise


AKTUELLES LEXIKON


Sofortlage


PROFIL


König


Mohammed VI.


Machtbewusster
Reformer auf
Marokkos Thron

Politiker müssen nach solchen
Taten hart durchgreifen – und
die Emotionen runterkühlen

Dieser Wahlkampf wird
die Politikverdrossenheit
im Land wachsen lassen

Die Verfassungsrichter


sollten der EZB dringend


ihre Grenzen aufzeigen

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