Handelsblatt - 31.07.2019

(Steven Felgate) #1

Mareike Müller Düsseldorf, Berlin


A


nton A. ist Mitte 30, als
er erfährt, dass er
Krebs hat. Da ist er be-
reits mehrfacher Vater.
Auf die Diagnose folgen
Monate der Ungewissheit. „Ich dach-
te, vielleicht bin ich bald tot“, erzählt
A. „Und ich wollte Gewissheit, ob
meine Familie wirklich meine Familie
ist, weil ich immer ein seltsames Ge-
fühl hatte.“ Gemeinsam mit seinem
Bruder entscheidet sich A., einen
Gentest durchzuführen. Das Ergebnis
schockiert die beiden: Antons Bruder
ist gar nicht sein Bruder. Die beiden
haben unterschiedliche Väter. Anton
A. führt weitere DNA-Tests durch. Er
beginnt, seine Familiengeschichte
aus genetischer Sicht zu erkunden –
und landet in einem digitalen Raum
voll von Erbgut aus aller Welt.
In Wahrheit heißt Anton A. an-
ders, doch seinen echten Namen
möchte er nicht nennen. Zu intim,
zu persönlich sei die Geschichte sei-
ner Krankheit und die seiner Fami-
lie. Dabei ist A. einer von vielen. Ge-
nau wie er suchen Tausende von
Menschen in Deutschland nach ih-
ren Vätern, Müttern, Geschwistern
oder Großeltern, nach einem Stück
Gewissheit über die eigene Her-
kunft, manchmal aus reiner Neugier,
manchmal aus Verzweiflung, bei-
spielsweise nach einer Adoption.
Seit einigen Jahren ist das einfa-
cher geworden, denn das Geschäft
mit kommerziellen Gentests floriert
weltweit: Mit sogenannten Direct-to-
Consumer-Tests (DTC) können Men-
schen ihr Erbgut ganz bequem von
zu Hause aus analysieren lassen.
Die privaten Anbieter heißen An-
cestry, MyHeritage oder 23andMe.
Sie verkaufen DNA-Selbsttests an
Menschen, die ihr Krankheitsrisiko
oder die Herkunft ihrer Vorfahren
erfahren wollen. Gemeinsam besit-
zen sie eine der weltweit größten
Sammlungen von menschlicher
DNA. Und die ist höchst profitabel:
Den globalen Markt im Jahr 2017
schätzte die Marktforschungsagen-
tur BIS Research bereits auf 685 Mil-
lionen Dollar, bis 2028 soll er auf 6,4
Milliarden wachsen. Das entspricht
einer jährlichen Wachstumsrate von
rund 23 Prozent.
Online können die Kunden ihre
Daten mit denen anderer Menschen
aus der ganzen Welt vergleichen. Sie
senden ihr Erbgut sogar in die USA,
nach Israel oder Kanada, denn nicht
alle Auswertungen sind in Deutsch-
land legal. Doch welche Risiken
birgt das Geschäft mit dem Erbgut?

Zwei Anbieter auf Deutsch


Rund 20 große Firmen teilen den
globalen Markt untereinander auf.
Nutzer können sich insgesamt zwi-
schen 400 Tests von 300 teils klei-
nen Firmen entscheiden. Das Ge-
schäftsmodell ist dabei zweiteilig: Ei-
nerseits versprechen die Anbieter,
bei der Herkunftsanalyse herauszu-
finden, woher die Vorfahren der
Kunden stammen und wo auf der
Welt mögliche Verwandte leben. Ein
Ergebnis der Analyse kann dann et-
wa so aussehen: „62 Prozent Skandi-
navien, 21 Prozent Italien/Griechen-
land, 11 Prozent Kenia, 6 Prozent
Südasien.“
Die dazugehörigen Datenbanken
liefern Auskunft darüber, mit wem
genau man verwandt ist. Denn
durch den direkten Vergleich mit
dem Erbgut anderer Kunden kön-
nen signifikante Ähnlichkeiten im

Erbgut festgestellt werden. So kön-
nen beispielsweise entfernte Cousi-
nen oder Cousins identifiziert wer-
den.
Die Kunden können die Tests im
Internet bestellen. Aktuell kostet ein
einfacher Test zur Herkunftsanalyse
bei AncestryDNA 89 Euro, bei My-
Heritage im Sonderangebot 59 Euro.
Speziellere Varianten können mehr
als 1 000 Euro kosten. Im Testkit be-
findet sich ein Röhrchen für eine
Speichelprobe. Reinspucken, zu-
schrauben, zurückschicken, warten.
Das Ergebnis erhält der Kunde weni-
ge Wochen später per Mail. Viele An-
bieter werben zudem außerhalb
Deutschlands damit, auch medizini-
sche Tests durchzuführen und gar
künftige Erkrankungen vorherzusa-
gen. Die individuell richtige Ernäh-
rung oder Sportart empfehlen sie
gleich mit. In Deutschland ist das
verboten, hierzulande gilt das Gen-
diagnostikgesetz. „Das bedeutet,
dass nur Ärzte unmittelbar medizi-

nisch relevante Tests veranlassen
dürfen“, erklärt Uwe Kornak, Profes-
sor und Facharzt für Humangenetik
an der Berliner Charité.
In anderen Ländern hingegen sind
die Angebote auch deshalb weiter
verbreitet, weil die Datenschutzrege-
lungen meist lockerer sind. Rund 100
Millionen Menschen weltweit sind
mit DNA-Selbsttests auf der Suche
nach der eigenen Vergangenheit und
Zukunft. 26 Millionen sind es allein in
den USA, also etwa acht Prozent der
dortigen Bevölkerung. Forscher des
renommierten Massachusetts Institu-
te of Technology (MIT) schätzen, dass
sich diese Zahl in den USA in den
kommenden zwei Jahren vervierfa-
chen wird. Das entspräche einem
Drittel der US-Bevölkerung.
Dort sind auch die meisten Fir-
men ansässig, die solche Tests an-
bieten. Am schnellsten wächst der
Markt aber im Mittleren Osten und
in Afrika. Zum deutschen Markt gibt
es keine verlässlichen Angaben.

Mit MyHeritage und Ancestry bie-
ten nur zwei der Branchengrößen
ihre Dienstleistungen auf Deutsch
an. Beide bewerben in Deutschland
aber nur die Herkunftsanalyse. Die
Firmensitze befinden sich in Israel
beziehungsweise den USA. In
Deutschland nutzen die meisten
Kunden die Angebote, um Ahnen-
forschung zu betreiben. Anton A.
fand so zum Beispiel heraus, aus
welcher Region seine Familie väterli-
cherseits stammt. Er nutzte dafür ei-
ne Vielzahl verschiedener Tests, in-
vestierte über die Jahre hinweg viel
Geld, arbeitete auch mit Hinweisen
aus seinem Umfeld, führte Gesprä-
che und sichtete Dokumente. Andere
Nutzer sind beizeiten enttäuscht:
„Von Skandinavien über Nordafrika
bis hin zu Südamerika ist da alles mit
dabei, ich weiß gar nicht, was ich da-
mit anfangen soll. Das ist völlig vage“,
findet eine Nutzerin.
Ortrud Steinlein, die das Institut
für Humangenetik an der Universität

Kommerzielle DNA-Tests


Das fragwürdige


Geschäft mit Genen


Firmen versprechen Gewissheit über die Herkunft der


eigenen Familie, manche sogar über zukünftige Erkrankungen.


Doch Mediziner warnen vor den DNA-Tests – und auch


rechtlich bewegen sich die Anbieter in einer Grauzone.


Gläser im Labor: Das
Geschäft mit kom-
merziellen Gentests
floriert weltweit.

6,4


MILLIARDEN


Dollar könnte das
Volumen des globalen
Marktes mit DNA-
Selbsttests bis 2028
betragen.

Quelle: BIS Research


Digitale Revolution


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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145


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