Handelsblatt - 31.07.2019

(Steven Felgate) #1
München leitet, bestätigt diesen Ein-
druck: „Die Tests zur biogeografi-
schen Herkunft sind völliger Unfug.
Die Unternehmen teilen nicht ein-
mal die Art und Weise mit, wie sie
auf diese Daten kommen. Das ist
wissenschaftlich nicht haltbar.“
Auch Uwe Kornak ist skeptisch:
„Ständig werden den Nutzern ‚Ver-
wandte‘ vorgeschlagen, die statistisch
gesehen Cousins oder Cousinen vier-
ten oder fünften Grades sein könn-
ten. In einer solchen genetischen
Entfernung wird die Vorhersage sehr
ungenau, aber die Plattformen wol-
len möglichst viel Betrieb auf ihren
Seiten und auf Social Media“, erklärt
er. „Da wird der wissenschaftliche
Anspruch sofort dem wirtschaftli-
chen untergeordnet.“ In Internetfo-
ren berichten Nutzer darüber, wie sie
bei den DNA-Tests ständig unter-
schiedliche Ergebnisse erhalten.

Und: „Mit den Daten aus der Her-
kunftsanalyse können auch die
Krankheitsrisiken abgeleitet wer-
den“, erklärt Frank Tüttelmann, Pro-
fessor für Humangenetik am Univer-
sitätsklinikum Münster. Das macht
das System anfällig für Missbrauch.

Nutzen umstritten
Wer mithilfe dieser Plattformen Aus-
kunft über die eigene Gesundheit er-
halten will, muss die strikten Daten-
schutzverordnungen in Deutschland
umgehen. Viele Deutsche senden
daher ihr Erbgut ins Ausland, meist
in die USA oder nach Israel. Dort
profitieren Firmen davon, dass ihr
Arbeitsbereich international nicht
rechtlich geregelt ist.
Doch besonders hier raten Medizi-
ner zur Vorsicht: So erklärt Frank
Tüttelmann, dass viele Krankheits-
bilder nur wenig validiert sind und
daher die Tests wenig aufschluss-
reich sind. Uwe Kornak betont, wie
wichtig medizinische Aufklärungs -
gespräche und individuelle ärztliche
Betreuung seien: „Ein genetischer
Test ist nicht irgendein Bluttest. Die
Gene und ihre Veränderungen blei-
ben das ganze Leben erhalten und
werden auch noch an folgende Ge-
nerationen weitergegeben.“
Er findet: „Da kann man wohl ver-
langen, dass solche wichtigen Infor-
mationen in angemessener Form
kommuniziert werden. Aber genau
das fällt bei der ‚Direct-to-Consu-
mer‘-Variante komplett weg.“ Die Kun-
den hätten so keine Chance, eine an-
gebliche Diagnose zu verarbeiten und
angemessen aufgeklärt zu werden.
Auch Ortrud Steinlein bestätigt
das. Denn die Testergebnisse könn-
ten auch zu einem falschen Sicher-
heitsgefühl führen: „Wenn mir ein
Test sagt, ich habe kein großes Risi-
ko für einen Herzinfarkt, und ich
dann den ganzen Tag auf der Couch
sitze und Chips esse, habe ich sogar
ein viel größeres Risiko.“ Außerdem
seien die Gesundheitsangaben der
Tests grundsätzlich unzuverlässig
und die Methoden nicht von unab-
hängigen Forschern geprüft.
Ein großer Gegner der Tests ist
Thilo Weichert. Früher Datenschutz-
beauftragter des Landes Schleswig-
Holstein, sitzt Weichert heute im
Vorstand der Deutschen Vereinigung
für Datenschutz. Er analysierte das
Angebot von Ancestry, laut eigenen
Angaben Weltmarktführer.
Sein Urteil fällt vernichtend aus:
„Mit dem Einsenden der Speichel-

probe geben die Kunden der Firma
einen Freifahrschein nicht nur zur
Ahnenforschung, sondern für jede
sonstige genetische Analyse. Per
kleingedruckter Einwilligung lässt
sich das Unternehmen die Erlaubnis
einräumen, die Daten an Pharma-
oder sonstige Unternehmen weltweit
gewinnbringend weiterzuverkaufen.
Löschansprüche werden einge-
schränkt.“ Konzerne wie Ancestry
„verstecken sich hinter vielseitigen
kleingedruckten Geschäftsbedingun-
gen und verhökern dann die Daten
steuersparend über Irland“, schreibt
Weichert in einer Erklärung, die er
gemeinsam mit einem Gutachten
über den Datenschutz bei Ancestry
veröffentlichte.
Der Datenschützer findet das
höchst problematisch – zumal Fälle
bekannt wurden, in denen Geheim-
dienste in den USA Zugriff auf die
Gen-Daten erhielten. Zudem gelan-
gen sensible Daten immer wieder
auch an Dritte, selbst wenn Proben
und Daten an geheimen Orten gela-
gert werden. Erst im vergangenen
Juli kaufte der Pharmariese Glaxo-
Smithkline Anteile an 23andMe im
Wert von 300 Millionen US-Dollar.
Zu den frühen Wagniskapitalgebern
gehörte 2007 auch Google. Damals
war 23andMe-CEO Anne Wojcicki
noch mit Google-Co-Gründer Sergey
Brin verheiratet. Seinen Sitz hat
23andMe unweit des Google-Firmen-
geländes im kalifornischen Moun-
tain View.
Andere Anbieter machten in der
Vergangenheit mit Datenlecks
Schlagzeilen: Bei MyHeritage ver-
schafften sich Hacker 2018 Zugriff
auf 92 Millionen Nutzeraccounts,
der US-Anbieter Vitagene speicherte
Daten von über 3 000 Nutzern über
Jahre hinweg auf einer öffentlich zu-
gänglichen Cloud.
Datenschützer Weichert ist des-
halb alarmiert: „Wenn andere Unter-
nehmen die Daten haben, ist das ka-
tastrophal: Wenn das an Arbeitge-
ber, Versicherer, weitere Firmen
geht, laufen eigentlich fast alle Men-
schen Gefahr, aussortiert oder zu-
mindest benachteiligt zu werden –
beim Job, bei der Krankenversiche-
rung, eigentlich überall.“
Für Medizinerin Steinlein ist das
Problem sogar noch weitreichender:
„Das Problem ist, dass die Aussagen,
die auf solchen Tests basieren, noch
nicht einmal stimmen müssen. Es
wird also unfair diskriminiert.“

Behörden haben Interesse


Neben Drittfirmen, die aus den Gen-
Daten Profit schlagen wollen, haben
auch Behörden Interesse an den In-
formationen: So wurde erst im Janu-
ar bekannt, dass der US-Anbieter Fa-
milyTreeDNA dem FBI Zugriff auf
die genetischen Daten von rund
zwei Millionen Kunden gewährt hat-
te – ohne deren Wissen.
Auch in Deutschland besteht Inte-
resse der Behörden an dem Verfah-
ren. So erlaubt es das neue bayeri-
sche Polizeigesetz, bei Straftaten die
DNA auch nach der sogenannten bio-
geografischen Herkunft von Verdäch-
tigen zu überprüfen. Die Tests, die
Mediziner für ungenau oder gar ge-
fährlich halten, können Behörden al-
so zur Beweisführung nutzen. Aller-
dings werde dabei nicht auf kommer-
zielle Anbieter zurückgegriffen, heißt
es beim Bayerischen Landeskriminal-
amt. „Die Untersuchungen zu Phäno-
typisierung und biogeografischer
Herkunft werden ausschließlich hier
im Hause durchgeführt.“

Positive Schlagzeilen machte hin-
gegen ein anderer Fall aus den USA:
Über 40 Jahre hatte die Polizei dort
nach dem berüchtigten „Golden-
State-Killer“ gefahndet, der zwi-
schen 1976 und 1986 zwölf Morde,
zahlreiche Vergewaltigungen und
über hundert Einbrüche begangen
hatte. 2018 fassten die Ermittler den
Mann – mithilfe der Gendatenbank
GEDmatch. Dort hatten genügend
seiner entfernten Verwandten ihr
Erbgut analysieren lassen, sodass
die Ermittler aufgrund der Daten auf
die Identität des Serienmörders
schließen konnten.
Doch in diesem größten Erfolg der
Technologie liegt auch ihre größte
Gefahr. Wer seine Testergebnisse
per E-Mail erhält, kann damit oft nur
wenig anfangen. Interessant werden
die Daten erst im Abgleich mit de-
nen anderer Menschen, denn nur so
lassen sich Verwandtschaftsverhält-
nisse ermitteln.
Daher laden Kunden auf der gan-
zen Welt ihre Testergebnisse in Ver-
gleichs-Datenbanken hoch. Unab-
hängig von einzelnen Unternehmen
verfügen diese Datenbanken über
das kombinierte Erbgut fast aller
einzelnen Anbieter – in digitalisier-
ter Form. „Egal, ob ich selbst jemals
mein Erbgut eingereicht habe: Falls
meine Verwandten das getan haben,
bin ich identifizierbar. In diesem
Moment haben andere Zugriff auf
mein Erbgut – ob ich zugestimmt ha-
be oder nicht“, erklärt Datenschüt-
zer Weichert die Problematik.
Seit November 2018 hat der US-
Anbieter Ancestry auch ein Büro in
München, dort ist Weichert be-
kannt: „Wir waren enttäuscht, den
Artikel von Dr. Thilo Weichert zu se-
hen, da er eine Reihe von Ungenau-
igkeiten über AncestryDNA ent-
hielt“, erklärt die Geschäftsstelle in
München auf Anfrage.
„Der Schutz der Privatsphäre un-
serer Kunden hat für Ancestry
höchste Priorität, und unser Grund-
gedanke ist, dass Kunden stets die
Kontrolle über ihre eigenen Daten
behalten sollen“, heißt es weiter. Im
vergangenen November hatte das
Unternehmen mit Sitz im US-Bun-
desstaat Utah angekündigt, auch
den deutschen Markt erschließen zu
wollen.
Auch für Anton A. selbst spielte
Datenschutz lange eine wichtige Rol-
le: „Ich habe Informatik studiert.
Niemals hätte ich vor zehn Jahren
gedacht, dass ich mal alle meine Da-
ten an kommerzielle Firmen abge-
ben würde. Und zwar die intimsten
Daten überhaupt.“
Mittlerweile überwiegen für ihn
die Vorteile der Technologie. A.
möchte seine Erfahrungen jetzt
auch an andere weitergeben, daraus
vielleicht sogar ein Geschäftsmodell
entwickeln. Schon jetzt berät er Hil-
fesuchende, die sich via Internet
oder Telefon an ihn wenden. Bald
könnte es sein Beruf sein.

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Diese Woche
beschäftigen wir uns
mit dem Thema
DNA-Tests.
Weitere Beiträge unter:
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digitalerevolution

Das Problem


ist, dass die


Aussagen, die


auf solchen


Tests


basieren,


nicht einmal


stimmen


müssen.


Ortrud Steinlein
Leiterin des Instituts für
Humangenetik an der
Uni München

DNA-Strang:
Viele Menschen
suchen Gewiss-
heit über die
eigene Herkunft.

E+/Getty Images


DIGITALE
REVOLUTION

Digitale Revolution


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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145


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