Handelsblatt - 31.07.2019

(Steven Felgate) #1

Michael Maisch, Yasmin Osman Frankfurt


E


igentlich hatte der Tag für Mario Drag-
hi, den Präsidenten der Europäischen
Zentralbank (EZB), nicht schlecht be-
gonnen. In einem mit Spannung er-
warteten Urteil entschied das Bundes-
verfassungsgericht, dass die Aufsicht der EZB über
die großen Banken in der Euro-Zone und die Schaf-
fung einer europäischen Behörde für die Abwick-
lung maroder Institute mit dem Grundgesetz ver-
einbar sind. Das Bundesverfassungsgericht wies da-
mit zwei Verfassungsbeschwerden gegen die euro-
päische Bankenunion ab (Az. 2 BvR 1685/14 u. a.).
Doch nur wenige Stunden später, am Dienstag-
nachmittag, begannen die Verfassungsrichter ihre
Verhandlung in einem zweiten Fall. Dieses Mal ging
es um die billionenschweren Anleihekäufe der EZB


  • und Draghi wird überhaupt nicht gefallen haben,
    was Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle
    zu sagen hatte. Nach Auffassung seines Senats sprä-
    chen „gewichtige Gründe“ für die Rechtsansicht
    der Kläger, machte Voßkuhle klar.
    Damit bekräftigte er die Bedenken jener Verfas-
    sungsrichter, die bereits im Sommer 2017 ernste
    Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Kaufpro-
    gramme der Notenbank geäußert hatten. Die Juris-
    ten hegen den Verdacht, dass die Notenbank mit
    ihren Anleihekäufen das Verbot der Staatsfinanzie-
    rung unterläuft. Außerdem überspannt sie mögli-
    cherweise ihr Mandat, indem sie mehr wirtschafts-
    als währungspolitisch agiert. Das ist in der EU aber
    den nationalen Regierungen vorbehalten.
    Verhandelt wird aktuell über vier Verfassungs -
    beschwerden. Unter den Klägern ist der Berliner
    Finanzwissenschaftler Markus Kerber, außerdem
    der frühere CSU-Vize Peter Gauweiler und AfD-Mit-
    begründer Bernd Lucke. Sie sehen sich als Wähler
    und Steuerzahler in ihren Mitbestimmungsrechten
    verletzt.


Kritik an Europa-Richtern
Das Karlsruher Gericht hatte den Fall an den Euro-
päischen Gerichtshof (EuGH) weitergeleitet und in
seiner Stellungnahme dargelegt, wo überall es im
Fall der Anleiheankäufe Schwierigkeiten sieht. Da-
von unbeeindruckt urteilten die Luxemburger
Richter im Dezember 2018, dass die Käufe rechtens
seien. Die deutschen Kläger wollen diesen Spruch
nicht akzeptieren: „Der EuGH hat hier keinen gu-
ten Dienst erwiesen“, sagte Christoph Degenhart,
der mehrere Beschwerdeführer vertritt. Das Recht
auf Demokratie drohe zwischen den Institutionen
zerrieben zu werden. Die EZB nehme eine Rolle
ein, für die sie kein Mandat habe. Sie betreibe eine
nicht erlaubte monetäre Staatsfinanzierung.
Die spannende Frage ist nun, ob das Bundesver-

fassungsgericht das Urteil auf europäischer Ebene
so hinnimmt. In der Tendenz haben sich die deut-
schen Richter zwar mehr und mehr zurückgenom-
men. In gravierenden Fällen behalten sie sich aber
ein Einschreiten vor. Die Verhandlung über das
umstrittene Anleihekaufprogramm wird am Mitt-
woch fortgesetzt, ein Urteil wird allerdings frühes-
tens in einigen Wochen erwartet. Es sei nicht Auf-
gabe des Bundesverfassungsgerichts, seine Ausle-
gung an die Stelle derjenigen des EuGH zu setzen,
machte Voßkuhle klar. Die Bindungskraft einer Lu-
xemburger Entscheidung entfalle nur, wenn diese
„schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ und
daher „objektiv willkürlich“ sei.
Friedrich Heinemann vom Forschungsinstitut
ZEW hält trotz dieser Aussagen eine „Überra-
schung oder gar einen Paukenschlag“ bei der Ver-
handlung für nicht ausgeschlossen. „Im Vergleich
zum Vorlagebeschluss aus Karlsruhe sind die Rich-
ter des EuGH mit ihrem positiven Votum zuguns-
ten der EZB in ihren Argumenten weitgehend an
der Oberfläche geblieben und haben sich die EZB-
Sicht erstaunlich unkritisch zu eigen gemacht“,
meint Heinemann. Aus Karlsruhe sei mit deutlich
mehr Detailarbeit und Einspruch zu rechnen.
Wahrscheinlich sei, dass das Bundesverfassungsge-
richt den Wertpapierkäufen engere Grenzen zieht,
die zumindest die Deutsche Bundesbank bei ihrer
Beteiligung beachten müsse. Im äußersten Fall
könnten die Richter eine deutsche Beteiligung an
den Anleihekäufen ganz untersagen und Bundes -
regierung und Bundestag verpflichten, auf eine
Beendigung hinzuwirken.

Zur Ankurbelung von Inflation und Konjunktur
hat die EZB seit März 2015 Staatsanleihen und an-
dere Wertpapiere im Volumen von rund 2,6 Billio-
nen Euro erworben. Seit Januar 2019 wird dafür
kein frisches Geld mehr ausgegeben. Die Mittel aus
auslaufenden Staats- und Unternehmenspapieren
investiert die Notenbank aber wieder.
Außerdem hat die EZB in den vergangenen Wo-
chen eine geldpolitische Kehrtwende eingeleitet.
Statt der eigentlich geplanten strikteren Politik steht
nun wegen der notorisch zu niedrigen Inflation, die
nach wie vor weit vom Stabilitätsziel der EZB von
nahe zwei Prozent entfernt ist, eine weitere Locke-
rung im Raum. Bei der jüngsten Sitzung der Noten-
bank hatte Draghi angekündigt, dass die EZB „alle
ihre Instrumente“ gegebenenfalls anpassen wird,
um das Inflationsziel zu erreichen. Volkswirte fühl-
ten sich an die „Whatever it takes“-Rede des Noten-
bankers erinnert, in der er im Sommer 2012 ankün-
digte, die EZB werde alles Notwendige tun, um den
Euro zusammenzuhalten. Nach der jüngsten Sit-
zung der Zentralbank rechnet die Mehrheit der
Volkswirte mit einer Zinssenkung im September
und schließt neue Staatsanleihekäufe nicht aus.
Auch wenn die Richter mit ihrer morgendlichen
Entscheidung zur Bankenunion die Rolle der EZB
bei der Aufsicht über die größten Geldhäuser in
der Euro-Zone absegneten: Sie machten auch in
diesem Fall klar, dass das Konstrukt gerade noch
zulässig ist. „Die Regelungen schöpfen den vorge-
gebenen Rechtsrahmen sehr weitgehend aus, über-
schreiten ihn aber nicht in einer aus Sicht des
Grundgesetzes relevanten Form“, betonte Voßkuh-
le bei der Urteilsverkündung.
Dirk Bliesener von der Kanzlei Hengeler Mueller
bezeichnet den Spruch zwar grundsätzlich als „in-
tegrationsfreundlich“, weil die Richter die Führung
der EZB bei der Bankenaufsicht bestätigt haben.
Der Anwalt glaubt aber, dass Voßkuhle und seine
Kollegen „offenbar eine rote Linie gezogen und klar-
gemacht haben, dass eine noch stärkere Zentralisie-
rung der Aufsicht bei einer unabhängigen und nur

Rote Linie

für die EZB

Die deutschen Verfassungsrichter segnen zwar die


EU-Bankenunion ab. Aber sie melden deutliche


Bedenken gegen die Anleihekäufe der Europäischen


Zentralbank an.


Großes Volumen
Bestand der von der EZB gekauften Anleihen* in Mrd. Euro

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HANDELSBLATT

Juli 2009 Juli 2019


*Alle Programme seit 2009 • Quelle: Bloomberg

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Die Richter des


EuGH sind mit


ihrem Votum


zugunsten der


EZB weitgehend


an der


Oberfläche


geblieben.


Friedrich Heinemann
ZEW Mannheim

Finanzen

& Börsen

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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145


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