Michael Maisch Frankfurt
Z
ehn Jahre nach der Finanz-
krise schieben Europas
Banken noch immer ein
riesiges Problem vor sich
her. Die faulen Kredite in ihre Bilan-
zen summieren sich auf rund 790
Milliarden Euro. Einziger Trost: Es
geht zumindest vorwärts, vor gut vier
Jahren lag diese Summe noch bei ei-
ner Billion Euro.
„Aber knapp 800 Milliarden Euro
sind noch immer eine riesige Sum-
me“, warnt Peter Riedel von der jun-
gen Finanzplattform Debitos. Die
Frankfurter tragen mit dazu bei, dass
der Berg der faulen Kredite
schrumpft. Debitos ging 2013 an den
Start als digitale Plattform, über die
Banken und Investoren Kredite han-
deln können. „Wir sorgen für Trans-
parenz, optimieren die Preise für die
Verkäufer und bieten den Käufern ei-
nen paneuropäischen Markt“, erläu-
tert Riedel.
Der bislang spektakulärste Deal: Im
Herbst 2018 kaufte der prominente
US-Investor Cerberus bei einer On -
lineversteigerung über Debitos ein
Portfolio fauler Kredite aus Italien
mit einem Marktwert von 2,1 Milliar-
den Euro. Früher verhandelten Bera-
ter, Banken und Investoren monate-
lang über den Verkauf fauler Kredite,
eine digitale Versteigerung über eine
Plattform wie Debitos kann diesen
Zeitraum auf Wochen verkürzen.
Das Beispiel Debitos zeigt, dass die
Revolution des Geldgeschäfts längst
begonnen hat. Junge Fintechs sind
selbstverständlicher Teil der Finanz-
szene, als Konkurrent und als Partner
von Banken und Versicherern. Auch
bei vielen etablierten Spielern gehört
der digitale Wandel längst zum All-
tag. Obwohl es der Deutschen Bank
alles andere als gut geht, nimmt Vor-
standschef Christian Sewing 13 Milli-
arden Euro in die Hand für Investitio-
nen in IT und Digitalisierung. Getreu
der Maxime, die Sewing bereits im
vergangenen Jahr formulierte: „Bei
der Digitalisierung wird es kein Mit-
telfeld geben.“
Anders ausgedrückt: Die gesamte
Branche steht vor einem Struktur-
wandel. Durch den technischen Um-
bruch werden die Karten völlig neu
gemischt, wer heute noch zu den Ge-
winnern gehört, kann morgen auf
der Verliererseite stehen und umge-
kehrt. Das gilt nicht nur für die Ban-
ken, sondern auch für Versicherer
und Vermögensverwalter. Eine Um-
frage der Software-Firma Camunda
zeigt, dass drei Viertel der befragten
Manager Direktversicherungen und
reine Onlinemakler als das größte Ri-
siko für die traditionellen Konzerne
sehen. Dabei konkurrieren die etab-
lierten Anbieter längst nicht mehr
nur miteinander oder mit den Fin-
techs, sondern auch mit den Konzer-
nen aus der Technologieszene wie
Facebook, Google oder Apple, die
immer weiter auf das Gebiet der Fi-
nanzdienstleistungen vordringen.
In den kommenden Wochen wird
das Handelsblatt eine Reihe von Me-
gatrends vorstellen, die die Zukunft
der Finanzbranche in den nächsten
Jahren prägen werden, von der Platt-
formökonomie über Künstliche Intel-
ligenz bis hin zu Cybersecurity. Brett
King, Gründer des Fintechs Moven
und Vordenker der Branche, weiß
bereits genau wie die Bank der Zu-
kunft aussehen wird: komplett
durchdigitalisiert, mit minimiertem
Verwaltungsapparat und Mobile first.
Diesen Teil der Analyse dürften die
meisten klassischen Finanzmanager
unterschreiben. Mit dem Untertitel
seines jüngsten Buches „Banking
4.0“ hätten sie wohl ihre Schwierig-
keiten: „Banking überall, aber nie-
mals mit einer Bank“, heißt es da.
Werden die etablierten Banken
wirklich den Kontakt zu ihren Kun-
den verlieren und zu reinen Infra-
strukturanbietern degradiert? Oder
gelingt es ihnen, sich in Plattformen
zu verwandeln, die den Menschen
ein komplettes digitales Ökosystem
rund ums Thema Geld anbieten?
Wie das geht, zeigt zum Beispiel
die indische Großbank ICICI, die ge-
rade eine Plattform für Bankdienst-
leistungen für kleine Unternehmen
und Selbstständige gestartet hat.
Über 100 Produkte können die Kun-
den über ihr Handy oder über das In-
ternet nutzen.
In einem Punkt hat Moven-Gründer
King auf jeden Fall recht, das mobile
Banking hat die Geldbranche bereits
revolutioniert. In Entwicklungs- und
Schwellenländern sorgt das Handy
dafür, dass gerade die ärmere Bevöl-
kerung Zugang zu Finanzdienstleis-
tungen bekommt. Digitale Projekte
wie das Zahlungssystem M-Pesa in Ke-
nia sorgen dafür, dass Millionen von
Menschen moderne Finanzservices
nutzen können, ohne dass sie jemals
ein Bankkonto besessen hätten. Der
Anteil von Erwachsenen in der afrika-
nischen Subsahara-Region mit einem
mobilen Konto stieg nach Daten der
Bill & Melinda Gates Foundation von
2011 bis 2017 von zwölf auf 21 Prozent.
In zehn Ländern in der Region nut-
zen mehr Menschen ein digitales Kon-
to als traditionelle Bankkonten.
Gerade dieses Beispiel klingt nach
Fortschritt und Aufbruch. Allerdings
hat der Strukturwandel in der Fi-
nanzbranche auch seine dunkle Sei-
te. Schätzungen gehen davon aus,
dass in der Branche bis zur Hälfte der
derzeitigen Jobs bedroht sind. Künst-
liche Intelligenz und Automatisierung
machen viele manuelle Tätigkeiten
überflüssig. Der Wandel wird am En-
de alle Mitarbeiter betreffen, denn
die digitale Revolution verändert
auch die Art der Zusammenarbeit
grundlegend. Die niederländische
ING hat bereits vorgemacht, wie man
mit „agilen“ Organisationsmodellen
schnell auf Kundenwünsche reagiert.
Ihre Struktur hat sich die Bank unter
anderem vom Musikstreamingdienst
Spotify abgeschaut. Das Beispiel
macht Schule: Die Frankfurter Com-
merzbank macht sich ebenfalls auf
den Weg in Richtung Agilität.
Grenzen der Technik
Aber trotz aller Fortschritte ist der di-
gitale Wandel noch längst nicht über-
all angekommen. Gerade in Deutsch-
land macht Holger Sachse von der
Boston Consulting Group noch Defi-
zite aus. Die Höhe der Investitionen
in digitale Lösungen bleibe bei deut-
schen Banken weit hinter global füh-
renden Banken zurück. BCG schätzt
die Investitionslücke auf mehr als
zehn Milliarden Euro.
Zu einem ähnlichen Ergebnis
kommt eine Studie der Unterneh-
mensberatung Accenture. Die Bera-
ter haben die 161 größten Banken in
23 Ländern untersucht und sie in
drei Kategorien eingeteilt. „Digital
fokussiert“ sind die Banken, die ihr
Geschäftsmodell bereits erfolgreich
erneuert haben. „Digital aktiv“ sind
die Institute, die die Transformation
mit einzelnen Projekten begonnen,
aber noch keine kohärente Strategie
entwickelt haben. In die dritte Kate-
gorie fallen die Unternehmen, die
noch keine echten Fortschritte bei
der Digitalisierung erzielt haben. Kei-
ne einzige deutsche Bank schafft es
in diesem Ranking in die beste Kate-
gorie.
Die Digitalisierung mag zwar der
entscheidende Treiber für den Struk-
turwandel in der Finanzbranche
sein, aber es gibt auch Experten, die
davor warnen, nur auf diese Karte zu
setzen: „Die Ausrichtung des Bankge-
schäfts kann nicht darin bestehen,
Digitalisierungstrends durch oft zu
spät und kleinräumig angesetzte Ini-
tiativen zu folgen“, meint Joachim
Hasebrook von der Beratung Zeb.
„Die Neuausrichtung muss sich zu-
nächst auf die Aspekte von Finanz-
dienstleistungen fokussieren, die
kaum oder gar nicht automatisierbar
sind und zumindest nicht in naher
Zukunft „digitalisiert“ werden“.
Denn trotz enormer Fortschritte
und weiterer Entwicklungen durch
Digitalisierung gebe es „gut erkenn-
bare Grenzen der Automatisierbar-
keit, und dazu gehören ganz traditio-
nelle Werte wie menschliche Bezie-
hungen und Vertrauen, menschliche
Kreativität und Intuition.“
Neue Serie: Die Zukunft der Finanzbranche
Die Revolution
hat längst begonnen
Die Digitalisierung wird die gesamte Finanzbranche radikal verändern.
Gewinner und Verlierer kristallisieren sich bereits heraus.
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Das Handelsblatt
beleuchtet in dieser
Serie Megatrends, die
Banken, Vermögens-
verwalter und Versi-
cherer in den kom-
menden Jahren prä-
gen werden. Durch
die Digitalisierung
steht die gesamte
Finanzbranche vor
einem tiefgreifenden
Strukturwandel.
Im nächsten Teil geht
es darum, wie sich
Finanzunternehmen
zu digitalen Plattfor-
men für ihre Kunden
entwickeln können.
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N
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ZBRAN
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H
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K
UN
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Finanzen & Börsen
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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145
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