W
ie kann es sein, dass in den
zwei ehrwürdigsten Demo-
kratien der Welt – dem Verei-
nigten Königreich und den
Vereinigten Staaten – Donald
Trump und Boris Johnson an die Macht kom-
men? Trump liegt nicht falsch, wenn er Johnson
als „Britain Trump“ bezeichnet. Es geht auch
nicht um eine Frage ähnlicher Persönlichen oder
Stile: Vielmehr ist diese Entwicklung Ausdruck
eklatanter Mängel in den politischen Institutio-
nen, die es diesen Männern ermöglichten, die
Regierungsmacht zu übernehmen.
Sowohl Trump als auch Johnson weisen eine
von dem irischen Psychologen Ian Hughes so be-
zeichnete „gestörte Psyche“ auf. Trump ist ein
notorischer Lügner, Steuerhinterzieher und ver-
breitet Rassismus. Im Bericht des Sonderermitt-
lers Robert Mueller über den Präsidentschafts-
wahlkampf werden mehrere Fälle von Behinde-
rung der Justiz durch Trump beschrieben. Über
20 Frauen beschuldigen Trump sexueller Über-
griffe, mit denen er prahlt. Trump wies seinen
Anwalt an, illegale Schweigegeldzahlungen zu tä-
tigen – ein Verstoß gegen die Bestimmungen für
Wahlkampffinanzierung.
Johnson verhält sich ähnlich hemmungslos.
Auch er gilt weithin als gewohnheitsmäßiger Lüg-
ner. Wiederholt verlor er wegen seines gestörten
Verhältnisses zur Wahrheit und anderen unehr-
baren Verhaltens seinen Job. Er war Hauptakteur
der Brexit-Kampagne, die nachgewiesenermaßen
mit falschen Behauptungen operierte. Als briti-
scher Außenminister ließ er zweimal geheim-
dienstliche Informationen durchsickern.
Auf die Frage, wie es sein kann, dass zwei sol-
che Charaktere die Macht erringen konnten, gibt
es eine offensichtliche, aber auch eine tiefgründi-
gere Antwort. Die offensichtliche Antwort lautet,
dass sowohl Trump als auch Johnson Unterstüt-
zung bei älteren weißen Wählern fanden, die
sich zurückgelassen fühlten. Doch diese Erklä-
rung ist nicht ausreichend. Der Aufstieg Trumps
und Johnsons ist auch Ausdruck eines tiefer lie-
genden politischen oder sogar institutionellen
Versagens. Der gemeinsame politische Grundfeh-
ler liegt im Mechanismus der politischen Reprä-
sentation, insbesondere im Mehrheitswahlrecht
beider Länder. Anders als in Westeuropa, wo ei-
ne Vielzahl an Parteien mittels Verhältniswahl-
recht gewählt werden, förderte in den USA und
in Großbritannien die Wahl von politischen Ver-
tretern mit relativer Mehrheit in einem Wahlbe-
zirk die Entstehung zweier dominanter Parteien.
In diesem Zweiparteiensystem, das zu einer Win-
ner-takes-all-Politik führt, werden Wählerinteres-
sen nicht vertreten, und es fehlt auch an Koaliti-
onsregierungen, die politische Strategien verhan-
deln und formulieren müssen, die für zwei oder
mehr Parteien annehmbar sind.
Trump etwa beherrscht mittlerweile die Repu-
blikanische Partei, aber nur 29 Prozent der Ame-
rikaner deklarieren sich als Republikaner. Als De-
mokraten identifizieren sich 27 Prozent und 38
Prozent als Unabhängige, die sich mit keiner Par-
tei anfreunden können. Durch seinen Machtge-
winn innerhalb der Republikanischen Partei
konnte Trump zwar mit weniger Wählerstimmen
als seine Rivalin Hillary Clinton, aber mit mehr
Stimmen des Wahlkollegiums in das Präsidenten-
amt gelangen. Angesichts der Tatsache, dass
2016 lediglich 56 Prozent der wahlberechtigten
Amerikaner tatsächlich zu den Urnen schritten,
wurde Trump mit nur 27 Prozent der Stimmen
der Wahlberechtigten in sein Amt befördert.
Trump kontrolliert eine Partei, die weniger als
ein Drittel der Wähler vertritt und meist per De-
kret regiert. Johnson wurde trotz einer Zustim-
mungsrate von gerade einmal 31 Prozent (vergli-
chen mit 47 Prozent Ablehnung) von weniger als
100 000 Parteimitgliedern zum Parteichef und
somit auch zum Premierminister gewählt.
Politikwissenschaftler prognostizieren, dass ein
Zweiparteiensystem den „Medianwähler“ reprä-
sentiert, weil sich jede Partei in die politische Mitte
bewegt, um die Hälfte plus eine Stimme zu errin-
gen. In der Praxis hat jedoch in den letzten Jahr-
zehnten die Wahlkampffinanzierung das Kalkül
der US-Parteien bestimmt, so dass sich Parteien
und Kandidaten nach rechts bewegten, um sich
bei reichen Parteispendern einzuschmeicheln.
Im Vereinigten Königreich vertritt keine Groß-
partei die Mehrheit, die gegen den Brexit ist.
Dennoch ist es im britischen Politiksystem mög-
lich, dass eine Fraktion in einer Partei histori-
sche und dauerhafte Entscheidungen für das
Land trifft, gegen die sich die die Mehrheit der
Wähler ausspricht. Noch unheilvoller: Die Win-
ner-takes-all-Politik ermöglicht es zwei gefährli-
chen Persönlichkeiten, trotz weitverbreiteter Op-
position gegen sie an die Macht zu gelangen.
Kein politisches System ist in der Lage, den
Willen der Öffentlichkeit zu hundert Prozent um-
zusetzen, und der öffentliche Wille ist oft konfus
oder von gefährlicher Emotionalität beeinflusst.
Die Ausgestaltung politischer Institutionen ist ei-
ne ständig neu entstehende Herausforderung.
Doch aufgrund ihrer veralteten Winner-takes-all-
Regeln funktionieren die beiden ältesten und an-
gesehensten Demokratien der Welt heute – in ge-
fährlicher Weise – unzulänglich.
Verblüffende
Parallelen
Trump und Johnson sind nicht nur gefährlich,
sie stehen auch für eine Krise der anglo-
amerikanischen Demokratie, meint Jeffrey Sachs.
Jeffrey D. Sachs ist Professor für nachhaltige
Entwicklung an der Columbia University.
Bloomberg [M]
Aufgrund
ihrer veralte -
ten Winner-
takes-all-
Regeln funk -
tionieren
die beiden
ältesten und
angesehensten
Demokratien
der Welt heute –
in gefährlicher
Weise –
unzulänglich.
Gastkommentar
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MITTWOCH, 31. JULI 2019, NR. 145
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