Nürnberger Zeitung - 31.07.2019

(Greg DeLong) #1
Er ist die wohl auffälligste Figur
der diesjährigen Bayreuther Fest-
spiele. Grell geschminkt, in bun-
ten, glitzernden Kostümen steht
der britische Travestie-Künstler
Le Gateau Chocolat im neuen
„Tannhäuser“ mit auf der Bühne


  • und erntete auch ein paar der
    vielen Buhs.


Macht Ihnen das Schminken
eigentlich Spaß?
LGC:In der Zeit, in der man sich auf
eine Show vorbereitet, seine Stimme
aufwärmt, sich selbst und den Cha-
rakter, den man verkörpert, ist das
Make-Up für mich zu einem Teil des
Rituals geworden. Manchmal macht
es Spaß, manchmal ist es einfach der
Moment, in dem ich meine Persön-
lichkeit unter ein Vergrößerungsglas
lege und sie übertreibe. Und manch-
mal fühlt es sich an wie Kriegsbema-
lung, als ob ich in den Krieg ziehe.

Ist das hier in Bayreuth so?
LGC:Es ist eine Kombination. Mei-
ne Rolle hier ist es ja nicht nur, den
alternativen Lebensentwurf für Tann-
häuser zu verkörpern mit Genuss-
sucht, Freude und Vergnügen. Meine
Rolle ist es auch, eine Realität zu prä-
sentieren, die für eine sehr lange Zeit
nicht Teil dieses Hauses war. Weil
viele Leute sich darauf nicht einlas-
sen, wird sogar im Jahr 2019 etwas
noch als Provokation wahrgenom-
men, das wirklich keine sein sollte.
Es geht ja nur darum, zu sagen: „Mich
gibt es auch.“ Aber „Mich gibt es

auch“ ist für viele Menschen ein
Schlag ins Gesicht.

So haben Sie das hier erlebt?
LGC:Also, das Haus, die Institution
der Festspiele selbst, ist bereit zu
sagen: Wir wollen, dass die Oper und
Wagner noch 400 Jahre überleben.
Wir wollen sie nicht den Rückständi-
gen überlassen und den Annalen der
Geschichte. Das spüre ich bei Kathari-
na Wagner. Aber das Publikum hier
ist eine völlig andere Sache. Wir sind
nicht hier, damit die Leute es
bequem haben. Kunst sollte aufre-
gen, hinterfragen, provozieren.

Wie war für Sie denn die „Tann-
häuser“-Premiere?
LGC:Die überwiegenden Reaktio-
nen waren ermutigend positiv. Aber
bei der Premiere hat das Regie-Team
neben dem Applaus auch eine Kako-
fonie an Buhs bekommen und –
wenn auch nicht so laut – ich auch.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass das
Regie-Team Buhs abbekommt. Wenn
es aber mich als Darsteller trifft, ist
das vielsagend. Denn ich singe in der
Show ja gar nicht. Ich singe in der
Pause am Teich – allein das ist schon
bemerkenswert. Aber in der Show sin-
ge ich nicht. Ich kann also gar nicht
dem Dirigenten nicht folgen oder die
Töne nicht treffen. Ich repräsentiere
lediglich eine Alternative, die ihnen
nicht so geläufig ist. Meine Frage an
sie ist also: Was buht Ihr da konkret
aus? Ich habe nur gezeigt, dass es
Menschen wie mich gibt. Menschen

wie mich, die Eure Ideen von Sexuali-
tät und Geschlecht infrage stellen.
Oder schwarze Menschen. Ich bin vie-
le Dinge gleichzeitig.

Ist diese Situation neu für Sie?
LGC:Ich habe am Globe Theatre in
London in der „Was Ihr wollt“-Insze-
nierung der Visionärin Emma Rice
mitgespielt. Diese Feindseligkeit ist
mir also nicht fremd. Wenn die Wäch-
ter denken, die Kunst gehöre ihnen
und jede Interpretation müsse sich
im Bereich ihrer Vorstellungskraft
abspielen und nirgendwo sonst –
dann ist das nicht völlig ungewohnt
für mich.

Sie hissen auf der Bayreuther
Bühne die Regenbogenflagge...
LGC: Das ist nur so ein kleiner
Moment – aber hier ist das viel, ein
gewaltiges Statement. Obwohl es
2019 eigentlich kein großes State-
ment mehr sein sollte.

Wie sind Sie mit den Reaktionen
umgegangen?
LGC:Ich bin mit meinem Lebensge-
fährten nach Berlin gefahren, um
mal ein paar Tage wegzukommen
von allem. Und – Überraschung: Es
war Christopher Street Day.

Wollen Sie nächstes Jahr wieder
in Bayreuth sein?
LGC:Ob ich wiederkommen will, ist
eine andere Sache. Ob ich wiederkom-
men muss: Ja, auf jeden Fall!
Interview: Britta Schultejans, dpa

Von den Studentenprotesten der
60er bis zu Fridays for Future:
Oskar Negt hat sich immer für
konkrete Fragen interessiert. Wie
sind stabile, demokratische
Gesellschaften möglich?

FRANKFURT – Er ist einer der bekann-
testen Theoretiker der Republik,
doch manches aus dem Leben von
Oskar Negt wurde erst sehr spät
bekannt und war für viele überra-
schend. Als nach dem Zweiten Irak-
krieg und dem Beginn des Bürgerkrie-
ges in Syrien immer mehr Flüchtlin-
ge auch nach Deutschland kamen,
entsann sich Negt seiner jungen Jah-
re als Flüchtlingskind nach dem Zwei-
ten Weltkrieg: „Überlebensglück“
(2016) sind seine biografischen Erin-
nerungen betitelt.
Dort schreibt der Soziologe und
Philosoph, der am 1. August 85 wird:
„Leben in einem ostpreußischen
Dorf, keine Bildungsgüter in der
Familie, weil immer die Arbeit im
Mittelpunkt stehen musste – harte,
körperlich schwere Arbeit; dann
Krieg – Flucht ohne Eltern, mehrfach
tödlichen Gefahren ausgesetzt.“
Viele seiner Leser staunten. Ein
Sozialphilosoph schreibt eine Auto-
biografie? Oskar Negt war ein Flücht-
lingskind? 1934 in Ostpreußen gebo-
ren, Studium erst in Göttingen, dann
die wichtige Begegnung mit Theodor
W. Adorno und Max Horkheimer in
Frankfurt; Negt wird ein Begleiter der
Studentenbewegung und ein linker
Intellektueller mit Breitenwirkung –
das alles war bekannt. Aber lange Jah-
re trat die Person dahinter zurück.
Das lag sicherlich auch an der intel-
lektuellen Energie
und Radikalität, mit
der Negt seine Projek-
te vorangetrieben hat-
te. Allein die Zusam-
menarbeit mit dem
Freund und Filmema-
cher Alexander Kluge
führte zu drei umfang-
reichen Arbeiten, dar-
unter ist mit „Geschichte und Eigen-
sinn“ (1981) das vielleicht einfluss-
reichste und interessanteste Theorie-
Buch, das die Jahre der „Außerparla-
mentarischen Opposition“ und der
politische und kulturelle Aufbruch
in der Republik hervorgebracht
haben.
Einer seiner Schüler, Carl Wilhelm
Macke, schrieb später über das
Glück, „von einem Lehrer wie Oskar
Negt in eine andere deutsche Traditi-
on eingeführt worden zu sein“. Was
er meinte: eine Tradition radikaler
Demokratie, deren Fortsetzung Negt
über die Jahrzehnte begleitete und
kommentierte. Er war in den 60er Jah-
ren Assistent von Jürgen Habermas,
danach bis 2002 Professor für Soziolo-
gie in Hannover.
Von den protestierenden Studen-
ten der 60er Jahre bis zu den Klimaak-
tivisten der Gegenwart: Oskar Negt
hat überall das emanzipatorische
Potenzial gesucht. Zu der „Fridays for
Future“-Bewegung sagte er: „Öffent-
lichkeit ist mehr als öffentliche Mei-
nungsäußerung. Öffentlichkeit be-
deutet auch konkretes politisches
Handeln, und zwar nicht nur inner-
halb von politischen Institutionen.
Öffentlichkeit braucht außerparla-
mentarische, zivilgesellschaftliche
Akteure.“
Bücher, Artikel, Essays, Interviews


  • Negt ist zweifellos einer der produk-
    tivsten Theoretiker unserer Tage. Er
    hat über „Achtundsechzig“ genauso
    geschrieben wie über die antiautori-
    täre Erziehung in „Kindheit und Schu-
    le in einer Welt der Umbrüche“, über
    China, die SPD, Kant und Marx. Der
    roten Faden: „Auf lange Sicht ist nur
    ein System stabil und friedensfähig,
    in dem die Menschen bei allem, was
    sie tun oder unterlassen, immer im
    Auge behalten, wie es das Gemeinwe-
    sen berührt.“ Und: „Demokratie
    muss gelernt werden“.
    Mario Scalla, epd


Dralle Nymphe am Teich: Travestiekünstler „Le Gateau Chocolat“ – der Schokokuchen.

In der Spielzeit 2019/2020 wird es
in der Tafelhalle zehn neue Tanz-
und Theaterproduktionen geben.
Das Programm wird wie gewohnt
ergänzt durch Konzerte, Kabarett,
Festivals und mehr.

NÜRNBERG – Erst mal wird Tacheles
geredet: Am Samstag, 28. September,
20 Uhr, laden Choreografen, Regis-
seure sowie Musiker das Publikum
zum „Tafeln“ in die Tafelhalle ein:
Zwischen Wasser und Wein, Brot
und Schinken gibt es das direkte
Gespräch mit den Kunstschaffenden
der Freien Szene und der neuen
Chefin Katja Prussas (Eintritt frei).
Mit „Der Tod und das Mädchen“
des Ensembles SETanztheater (28.
November), den beiden Choreo-
grafien „Red Forest“ von Plan Mee
(19. Dezember) und „Madame Bova-
ry, it's me too“ von Curtis & Co (30.
Januar 2020) wird der Winter zu-
nächst dem zeitgenössischen Tanz

gewidmet. Im neuen Jahr führt Regis-
seurin Stefanie Anna Miller mit
ihrem Theaterstück „Medea.Stille“
(13. Februar) den antiken Stoff mit
einer gehörlosen Schauspielerin,
einem Chor und der Ästhetik der
Gebärdensprache zusammen.
Auch das Beethoven-Jubiläum
2020 wirft seinen musikalischen
Schatten voraus: Ne-
ben thematisch ver-
bundenen Konzerten
des Ensembles Kon-
traste wird das Musik-
theaterprojekt „In Con-
versation with...“ (28.
Februar) von Isabelle
Kranabetter Premiere
feiern.
Im März geht es um Terror und die
zweite Generation von Opfern wie
Tätern: Das Surround-Live-Hörspiel
„Patentöchter“ wird im Foyer der
Tafelhalle aufgeführt (12. März).
Zudem wird co>labs mit dem neuen

Tanzstück „Nur Mut!“ das Thema
Kolonialismus und seine Folgen auf-
greifen (26. März).
Choreografin Barbara Bess zeigt
mit „BeComing“ ein übersinnliches
Selbstportrait (17. April) und Regis-
seurin Andrea Hintermaier geht in
ihrem Rechercheprojekt „Tinderville
2025“ dem Datingphänomen auf den
Grund (Mai 2020).
Als Wiederaufnahmen gibt es „Gol-
den Rules“ von Beate Höhn und „Do
you contemporary dance?“ von Cur-
tis & Co. Auch das Schauspiel „Im
Herzen der Gewalt“ von Édouard
Louis will man wieder ins Programm
zu nehmen.
Kabarett mit Stars wie Erwin Pelzig
(12. bis 14. September) und Max
Uthoff (19. September) macht den
Auftakt für weitere Gastspiele, Musik
kommt u.a. vom Metropolski Cirkus
Orkestar und dem kamerascheuen,
aber zum Glück bühnenwilligen
„PeterLicht“. NZ

Während andere Folkpop-Meilenrei-
ter irgendwann den kleinen Schritt
Richtung Unplugged beschreiten
und entschieden ihre Stecker ziehen,
stöpselt Lloyd Coleauf „Guess-
work“in neuen Stromkreisen an:
bei der elektronischen Musik. Sein
Coming-Out als Spieler mit den Stu-
dioknöpfen der Synthetik hatte er
bereit auf Instrumentalalben wie „1D
Electronics“ (2015).
Nun speist der als
Schreiber unwider-
stehlicher Gitarren-
popmelodien erprob-
te Weltenskeptiker
das volle fette Synt-
hie-Programm in acht erstaunlich
hörenswerte Erwachsenenpop-Elegi-
en ein. Nicht alle haben das lyrische
Gewicht der Titel „The over under“
oder „When I came back from the
mountain“ — doch bereits diese bei-
den sind die Sache wert. müc


Als starke Schwester kann sich die
KalifornierinEleni Mandell— sonst
Mitglied des Indie-Folk-Singvereins
„The Living Sisters“ – auf ihrem
jüngsten Solo-Album
„Wake up again“
behaupten. Die meis-
ten der elf akustisch
fein ins Ohr tröpfeln-
den Eigenkomposi-
tionen wurden von
Mandells Erfahrungen im Gefängnis
von Los Angeles inspiriert, wo sie
Songwriting unterrichtet. Manches
Stück kommt als zuckersüße Ballade
daher und entpuppt sich in den
Lyrics als zartbitter. müc


Der BandJETZT!des Herforder Lie-
dermachers Michael Girke wird maß-
geblicher Infusionscharakter für die
Kunst von Gruppen wie Tocotronic
oder Jochen Distelmeyers Blumfeld
nachgesagt. Auf dem
soeben veröffentlich-
ten Werk „Wie Es
War“ wird hörbar,
warum. Sprache
spielt alles andere als
eine Nebenrolle in
den zwölf spartanisch mit akusti-
scher Gitarre begleiteten und noch
sparsamer vom Klavier angeschubs-
ten nachdenklichen Stücken. Würde
Reinhard Mey in die „Hamburger
Schule“ geschickt, die sich dann als
„Herforder Schule“ entpuppte –
käme wohl was ähnliches dabei her-
aus. müc


Es gibt Avishai Cohen, den Jazz-Trom-
peter, undAvishai Cohen, den Jazz-
Bassisten – zur allgemeinen Verwir-
rung waren beide Israelis auch schon
bei NueJazz in Nürn-
berg! Der Bassist, zu-
letzt mit einem eher
poppigen Album
überaus erfolgreich,
zeigt nun auf„Arvo-
les“ (das sephardi-
sche Wort für Bäume), dass man
nicht gefällig sein muss, um zu gefal-
len. Im Trio, ergänzt um Posaune
und Flöte, fiebern seine Themen
großstädtisch und voll Energie, ent-
hüllen aber auch nachdenklich-lyri-
sche Seiten. Erstklassig! lups


Mehr für Clara Schumann tun – die
im September ihren 200. Geburtstag
hätte – kann man eigentlich nicht:
„Madame Schumann“ist ja sogar
schon das dritte
Album, das Ragna
Schirmerden Wer-
ken der Pianistin
und Komponistin
widmet. Aparterwei-
se, indem sie zwei
historische Konzerte der Virtuosin
eins zu eins nachspielt. 1847 in Ber-
lin steht das Klavierquartett op. 47
von Gatte Robert gleich neben dem
eigenen Klaviertrio op.17; und 1872,
auf Tournee in England, gibt Clara
eines ihrer seltenen Solorecitals –
mit Beethovens Waldsteinsonate,
Chopin und den „Kinderszenen“.
Schirmer interpretiert innig, mit sub-
tilem Glanz und gesunder, ganz un-
manirierter Romantik. lups


Negt

Foto: dpa

Pelzig

Foto: dpa

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Neu auf CD Oskar Negt wird 85


Philosoph


mit Eigensinn


Bayreuths neuer Star: Le Gateau Chocolat


„Es gibt Menschen wie mich“


Tafelhalle Nürnberg: die Premieren


Was ist, wenn Medea nichts hört?


Feuilleton


Mittwoch, 31. Juli 2019
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