Nürnberger Zeitung - 31.07.2019

(Greg DeLong) #1

KARLSRUHE/FRANKFURT —
Europas Währungshüter haben
den Euro in seiner tiefsten Krise
stabilisiert. Dafür zollen selbst
Kritiker der Europäischen
Zentralbank (EZB) mit
Noch-Präsident Mario Draghi
Respekt. Aber heiligt der Zweck
alle Mittel? Die Antwort wird auch
dieses Mal aus Karlsruhe
kommen: An zwei
Verhandlungstagen nimmt das
Bundesverfassungsgericht
Draghis milliardenschweres
Anleihenkaufprogramm unter die
Lupe (Az. 2 BvR 859/15 u.a.). Das
gestern verkündete Urteil zur Rolle
der EZB in der europäischen
Bankenaufsicht markiert erste rote
Linien (Az. 2 BvR 1685/14 u.a.).


KUm welche Anleihenkäufe geht
es in der Verhandlung?
Seit März 2015 kaufte die EZB in
großem Stil Anleihen von Eurostaa-
ten, später auch Unternehmensanlei-
hen – für rund 2,6 Billionen Euro bis
Ende 2018. In Karlsruhe geht es um
das Unterprogramm PSPP (Public Sec-
tor Purchase Programme) für Staats-
anleihen und andere Wertpapiere
des öffentlichen Sektors, den mit wei-
tem Abstand größten Posten. Seit
Januar nimmt die Notenbank zwar
kein frisches Geld mehr in die Hand.
Wenn Papiere auslaufen, werden die
Mittel bis auf Weiteres aber reinves-
tiert. Und düstere Wirtschaftsaus-
sichten und die schwache Inflation
machen neue Anleihenkäufe immer
wahrscheinlicher. Wie Draghi vergan-


gene Woche gesagt hat: „Alle Instru-
mente sind auf dem Tisch.“

KWarum kauft die EZB Papiere?
Oberstes Ziel der EZB sind stabile
Preise, für eine stabile Währung in
den 19 Staaten des Euroraums mit sei-
nen gut 340 Millionen Menschen.
Mittelfristig wird eine Teuerungsrate
von knapp unter 2,0 Prozent ange-
strebt. Denn dauerhaft niedrige oder
auf breiter Front sinkende Preise
könnten Unternehmen und Verbrau-
cher verleiten, Investitio-
nen aufzuschieben. Das
bremst die Wirtschaft.
Weil die Teuerungsrate
zuletzt relativ niedrig
war, half die EZB nach:
Sie senkte drastisch die
Zinsen und pumpte über
die Anleihenkäufe gewal-
tige Summen in den
Markt. Denn wenn mehr
Geld in Umlauf ist, stei-
gen die Preise – damit
zieht auch die Inflations-
rate an.

KWas haben die Staaten davon,
dass die EZB Anleihen erwirbt?
Sie kommen günstiger an frisches
Geld. Weil die Notenbank große
Bestände aufkauft, müssen sie für
ihre Wertpapiere nicht so hohe Zin-
sen bieten. Dazu kommt der psycho-
logische Effekt: Die EZB signalisiert
Verbrauchern und Unternehmen,
dass sie die Wirtschaft nicht im Stich
lässt. Kritiker werfen Draghi daher
Staatsfinanzierung mit der Noten-

presse vor. Das Kaufprogramm ani-
miere Staaten zum Schuldenmachen
und bremse Reformen. Deutschland
bezahle indirekt die Rettung über-
schuldeter Staaten und maroder Ban-
ken in Südeuropa.

KKanndieEZBtun,wassiewill?
Die Notenbank ist politisch unab-
hängig. Das war vor allem den Deut-
schen bei der Gründung 1998 wich-
tig, denn sie hatten mit ihrer Bundes-
bank gute Erfahrungen gemacht.
Damit fehlt aber die parla-
mentarische Verantwort-
lichkeit – und das berei-
tet den deutschen Verfas-
sungsrichtern seit länge-
rem Unbehagen. Wen
soll der Wähler abstra-
fen, wenn etwas schief-
läuft? Zum Ausgleich
pocht Karlsruhe auf zwei
Bedingungen: Das Man-
dat der EZB muss eng
begrenzt bleiben. Und sei-
ne Einhaltung muss von
den Gerichten streng kon-
trolliert werden.

KWie sieht das Verfassungsgericht
die Anleihenkäufe?
Äußerst kritisch. Wegen des enor-
men Volumens und der immer wie-
der verlängerten Laufzeit hat der
Zweite Senat unter Gerichtspräsident
Andreas Voßkuhle schon im Sommer
2017 starke Bedenken geäußert:
„Gewichtige Gründe“ sprächen dafür,
dass die Beschlüsse „gegen das Ver-
bot monetärer Haushaltsfi-

nanzierung verstoßen sowie über das
Mandat der Europäischen Zentral-
bank für die Währungspolitik hinaus-
gehen und damit in die Zuständig-
keit der Mitgliedstaaten übergrei-
fen“. Für Karlsruhe sind das gleich
zwei rote Linien.

KWarum griffen damals die
Verfassungsrichter nicht ein?
Für die Auslegung von EU-Recht
ist der Europäische Gerichtshof
(EuGH) zuständig – an Luxemburg
führt deshalb kein Weg vorbei. In
ihrem Vorlagebeschluss von 2017 ver-
suchen die deutschen Richter, die
EuGH-Kollegen auf ein früheres
gemeinsames Urteil zur Machtfülle
der EZB festzunageln, dem sie rechts-
verbindliche Kriterien entnehmen.
Zum Beispiel dürfen Ankäufe und ihr
Volumen nicht vorher angekündigt
und Schuldtitel nur ausnahmsweise
bis zur Endfälligkeit gehalten wer-
den. Karlsruhe meint, dass Draghi
mit dem PSPP nahezu alle Kriterien
verletzt. Aber der EuGH wischt sämtli-
che Bedenken im Dezember 2018
brüsk vom Tisch: Die Prüfung der vor-
gelegten Fragen habe „nichts erge-
ben“, „was die Gültigkeit des PSPP
beeinträchtigen könnte“.

KWelche Spielräume hat Karlsruhe
jetzt noch?
Grundsätzlich fühlt sich das Bun-
desverfassungsgericht an Entschei-
dungen des EuGH gebunden. Das
schließt einen „Anspruch auf Fehler-
toleranz“ ein, wie es Voßkuhle 2016
einmal ausgedrückt hat. Damals sagt

er allerdings auch, wann diese Bin-
dungswirkung entfällt: „bei einer
schlechterdings nicht mehr nachvoll-
ziehbaren und daher objektiv willkür-
lichen Auslegung der Verträge“. Die
große Frage ist, ob die deutschen
Richter diese Schmerzgrenze dies-
mal erreicht sehen. Im äußersten Fall
könnte der Senat der Bundesbank als
größtem Anteilseigner der EZB die
Beteiligung an neuen Anleihenkäu-
fen untersagen. Damit wäre etwa ein
Viertel des Kaufvolumens weg. Die
Entscheidung wird möglicherweise
noch in diesem Jahr verkündet.

KWas bedeutet das Urteil zur
Bankenunion?
Die EZB hat noch eine zweite Rolle:
Seit November 2014 überwacht sie
die größten Geldinstitute im
Euroraum direkt. De facto können
die EZB-Bankenaufseher aber auch
bei kleineren Volksbanken und Spar-
kassen mitreden. Die Verfassungs-
richter lassen das „bei strikter Ausle-
gung“ der Regelungen gerade noch
durchgehen – weil sie immer noch
umfangreiche Befugnisse bei den
nationalen Behörden erkennen kön-
nen. Die unabhängige Position der
Notenbank in der Bankenaufsicht
bezeichnet das Urteil als bedenklich,
„weil sie zu dem weitreichenden und
schwer einzugrenzenden Mandat der
EZB im Bereich der Währungspolitik
hinzutritt“. Unterm Strich bleibt die
Bankenunion, zu der auch die
gemeinsame Abwicklung von Krisen-
instituten gehört, aber unangetastet.
J. Bender/A. Semmelroch, dpa

Die Verhandlungen zwischen
Washington und Peking laufen
wieder an. Doch eine Einigung
liegt wohl in weiter Ferne. In China
wird der Konflikt zunehmend als
Rivalität der angeschlagenen
alten Supermacht USA zur
aufstrebenden Macht in Asien
betrachtet.

SHANGHAI/WASHINGTON — Nach
monatelanger Pause haben die USA
und China ihre Handelsgespräche
wieder aufgenommen. Die US-Dele-
gation um Finanzminister Steven
Mnuchin und den US-Handelsbeauf-
tragten Robert Lighthizer traf gestern
in Shanghai ein. Die Verhandlungen,
die auf chinesischer Seite von Vize-
premier Liu He geleitet werden, sol-
len zwei Tage dauern. Zum Auftakt
der neuen Gespräche griff US-Präsi-
dent Donald Trump mit mehreren
Tweets China an.
Es sind die ersten direkten Han-
delsgespräche der beiden größten
Volkswirtschaften seit dem Schei-

tern der Verhandlungen im Mai. Es
wurde allerdings nicht mit einer
schnellen Verständigung gerechnet.
Ende Juni hatten sich Trump und
Chinas Staats- und Parteichef Xi Jin-
ping am Rande des G20-Gipfels in
Japan auf einen „Waffenstillstand“ in
ihrem Handelskrieg und eine Wieder-
aufnahme der Gespräche geeinigt.
Trump hatte mitgeteilt, China
habe zugesagt, während der Verhand-
lungen große Mengen an US-Agrar-
produkten zu kaufen. Der US-Präsi-
dent kritisierte gestern, es gebe keine
Anzeichen dafür, dass China diese
Zusage erfülle. Peking hatte eine sol-
che Vereinbarung nie bestätigt. Die
staatliche Nachrichtenagentur Xin-
hua hatte berichtet, dass als „jüngs-
ter Fortschritt“ Millionen Tonnen
US-Sojabohnen nach China ver-
schifft worden seien. Chinesische Fir-
men verhandelten zudem über den
Kauf weiterer US-Agrarprodukte.
Trump warnte China davor, auf sei-
ne Abwahl bei der US-Präsidenten-
wahl 2020 zu spekulieren. Wenn er

die Wahl gewinne, werde „der Deal,
den sie bekommen, viel härter sein
als das, was wir jetzt verhandeln“ –
oder aber es werde gar kein Abkom-
men geben. Trump warf China außer-
dem vor, bereits ausgehandelte Ver-
einbarungen wieder rückgängig zu
machen. Der Handelskrieg zwischen
den beiden Staaten läuft seit über
einem Jahr. Auslöser war die Verärge-
rungTrumps darüber, dass China

weit mehr in die USA exportiert als
umgekehrt. Er fordert eine Beseiti-
gung von Marktschranken, kritisiert
die Verletzung von Urheberrechten,
den zwangsweisen Technologietrans-
fer bei in China tätigen US-Unterneh-
men und staatliche Subventionen.
Seither hat er die Hälfte der Importe
aus China mit 25-prozentigen Son-
derzöllen belegt. China reagierte mit
Gegenzöllen. dpa

Befasst sich mit den Befugnissen der Europäischen Zentralbank: Der Zweite Senat beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.


Beschwerdeführer
Markus Kerber.

Foto: dpa

Foto: Uli Deck, dpa

Die US-Delegation traf gestern in Shanghai ein.

WASHINGTON — Eine Hackerin hat
Daten von gut 100 Millionen Kunden
der US-Bank Capital One gestohlen.
Die inzwischen von der Bundespoli-
zei FBI festgenommene Frau ver-
schaffte sich Zugang zu den Daten
von Kreditkartenanträgen und zu Kre-
ditkarten, wie die Bank mitteilte.
Betroffen waren in den USA Daten
von rund 100 Millionen Menschen,
zudem von sechs Millionen Kunden
in Kanada. Es seien aber keine Kredit-
kartennummern oder persönliche
Log-in-Daten ausgespäht worden,
hieß es. Nach bisherigen Erkenntnis-
sen sei es unwahrscheinlich, dass die
Hackerin die erbeuteten Daten wei-
terverbreitet oder betrügerisch einge-
setzt habe, erklärte Capital One.
Laut US-Medienberichten dürfte
es sich um einen der größten Daten-
diebstahls-Angriffe auf Banken in
der US-Geschichte handeln. Die
Hackerin soll eine Software-Entwick-
lerin aus Seattle sein, die einst bei
Amazon Web Services, dem Cloud-
Dienstleister der Bank, gearbeitet hat-
te. dpa


Foto: Ng Han Guan, dpa

Handelskonflikt: China und die USA sprechen wieder


Wenig Hoffnung auf Einigung


nach Ende des „Waffenstillstands“


Verhandlungen über Bankenunion und milliardenschwere Anleihekäufe der EZB


Verfassungsrichter loten die roten Linien aus


Hackerin schlägt in den USA zu


Daten von Millionen


Bankkunden geklaut


Wirtschaft


Mittwoch, 31. Juli 2019
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