Nürnberger Zeitung - 31.07.2019

(Greg DeLong) #1

FRANKFURT/Main — Wie können
Passagiere auf Bahnhöfen besser
geschützt werden? Diese Frage stel-
len sich viele Menschen nach zwei
tödlichen Attacken an Bahnsteigen,
bei denen die Opfer auf die Gleise
gestoßen wurden. Dabei lohnt sich
auch ein Blick auf andere Länder.


KChina:
In chinesischen Metropolen wie
Peking und Shanghai kommt es im
Berufsverkehr zu großem Gedränge
in den U-Bahn-Stationen. Die Bahn-
steige sind mit Glastüren vom Gleis
getrennt. Erst, wenn ein Zug einge-
fahren ist, öffnen sich Türen, damit
die Fahrgäste ein- und aussteigen
können. An Fernbahnhöfen kom-
men Fahrgäste nur zu den Gleisen,
wenn sie über ein Ticket verfügen.
KJapan:
Die Bahnsteige sind zu den Stoßzei-
ten oft überfüllt, doch kommt es nir-
gends zu großem Gedränge, die Men-
schen stehen zumeist manierlich
Schlange. Allerdings gibt es in Japan
immer wieder Selbstmorde, bei
denen sich Menschen vor den Zug
werfen. Vor diesem Hintergrund wer-
den zunehmend Sicherheitsbarrie-
ren an Bahnsteigen installiert.
Sobald ein Zug ein- oder abfährt, öff-
net sich erst die Tür der Absperrun-
gen und dann direkt die Wagentür.


KThailand:
Drängeln ist auch in Thailand ver-
pönt. Wenn es doch geschieht, sind
es oft Touristen. Damit niemand auf
die Gleise fällt, sind die Bahnsteige in
Bangkok mit hohen Glasscheiben
gesichert. Die Türen öffnen sich erst,
wenn der Zug steht. Auf dem zentra-
len Fernbahnhof der Stadt, Hua Lam-
phong, gibt es solchen Schutz nicht.
Das mehr als hundert Jahre alte
Gebäude ist ein Kopfbahnhof: Die
Züge ruckeln dort mit nur noch sehr
geringer Geschwindigkeit ein.
KRussland:
An einigen modernen Metrostatio-
nen in Moskau und St. Petersburg
gibt es ganz besondere Sicherheits-
vorkehrungen: Die Gleise sind durch
extra Wände abgesperrt und für die
Passagiere weder sichtbar noch
zugänglich. Zugtüren und Spezial-
wände öffnen sich erst, wenn der Zug
steht. An Bahnhöfen werden Rucksä-
cke und Koffer durchleuchtet wie an
Flughäfen – und Reisende mit Metall-
detektoren gescannt.
KItalien:
In Italien gibt es an den großen Bahn-
höfen Zugangskontrollen zu den Glei-
sen: Wer zum Beispiel an den Haupt-
bahnhöfen in Rom oder Mailand,
aber auch am Flughafenbahnhof Fiu-
micino den Zug nehmen will, muss
vorher sein Ticket zeigen. Es gibt

Schranken oder Personal, das manu-
ell die Karten kontrolliert.
KSpanien:
Beim spanischen Pendant zum ICE,
dem Hochgeschwindigkeitszug AVE,
und auch bei anderen Fern- und Nah-
verkehrsbahnen des Landes dürfen
nur Ticketinhaber die Bahnsteige
betreten. An den Startbahnhöfen darf
man erst dann auf die Bahnsteige,
wenn der Zug bereits steht und die
Gates geöffnet wurden.
KNiederlande:
In den Niederlanden sind inzwi-
schen die meisten Bahnhöfe nur
noch mit einer speziellen Chipkarte

oder einem Ticket und durch Schran-
ken zu erreichen. In den Hauptver-
kehrszeiten sind an großen Bahnhö-
fen noch Leute in gelben Westen im
Einsatz. Sie passen auf, dass nie-
mand zu dicht an die Bahnsteigkante
tritt.
KFrankreich:
Auch an den Pariser Kopfbahnhöfen
gibt es vor den Gleisen häufig Schran-
ken, vor allem bei den Hochgeschwin-
digkeitszügen TGV. Hier müssen Rei-
sende ihr Ticket vorzeigen, erst dann
kommen sie zum Bahnsteig. Das
bedeutet häufig dichtes Gedränge
und Schlangen vor dem Zugang zum

Gleis. Dort stehen dann auch Mitar-
beiter, die kontrollieren, dass sich
niemand durchmogelt.
KGroßbritannien:
In vielen Bahnhöfen – ob im Regio-
nal- oder Fernverkehr und auch bei
U-Bahnen – ist ein Zugang zu den
Gleisen nur mit einem Ticket mög-
lich. In einigen U-Bahnhöfen in Lon-
don separieren außerdem große
Scheiben die Gleise von den warten-
den Fahrgästen. Erst wenn die Züge
stehen, öffnen sich diese Zugänge.
Nach Angaben einer Sprecherin der
Londoner Verkehrspolizei kommt es
„selten“ vor, dass Menschen auf die
Gleise gestoßen werden – und wenn,
dann handele es sich meist um Leu-
te, die sich kannten.
KIsrael:
Hier wird der Zugang zu den Bahn-
steigen nach Angaben der israeli-
schen Bahngesellschaft seit mehr als
30 Jahren kontrolliert. An Bahnhofs-
eingängen gibt es Sicherheitskontrol-
len. Auch hier werden Taschen durch-
leuchtet wie am Flughafen. Kunden
und Besucher müssen durch Metall-
detektoren gehen. Um auf die Bahn-
steige zu kommen, müssen Kunden
Zugangssperren passieren, die sich
nur mithilfe von Tickets öffnen. Die-
ses System an den 70 Bahnstationen
sei „auf jeden Fall effektiv“, sagt ein
Sprecher der Bahngesellschaft. dpa

Am Frankfurter Hauptbahnhof
ringen Passanten um Fassung.
Helfer sammeln ihre Kräfte.
Fahrgäste sind wachsamer als
sonst. Der Tod des kleinen
Jungen, der am Montag vor
einen einfahrenden Zug gestoßen
wurde, lässt auch am Tag darauf
niemanden kalt.


FRANKFURT/Main — Am Eingang
zum Bahnsteig stehen Grablichter,
liegen Blumen und Kuscheltiere. Ein
Teddybär hält einen handgeschriebe-
nen Zettel mit der Frage des Tages:
„Warum?“ Warum musste der kleine
Junge am Montag sterben? Wie konn-
te es passieren, dass der Achtjährige
vor den einfahrenden Zug gestoßen
wurde? Was ging in dem Täter vor?
Antworten hat am Dienstag am Frank-
furter Hauptbahnhof niemand.
Man hat den Eindruck, es ist stiller
an diesem Dienstagmorgen. Leerer
ist es nicht. Die Massen schieben
sich an den Gleisen entlang und lau-
fen kreuz und quer durch die Halle.
Am vollsten ist es am Eingang zu
Gleis sieben, wo viele Kamerateams
Stellung bezogen haben. Weiter hin-
ten, im abgelegenen Abschnitt E, wo
sich das Drama am Montag abspielte,
sind am Dienstag keine Blumen oder
Kerzen zu sehen. Nur zwei pinkfarbe-
ne Striche an der Bahnsteigkante mar-
kieren die Stelle, an der der Achtjähri-
ge starb.
Direkt an der Markierung sitzt ein
Geschäftsmann aus dem Odenwald.
Er fährt regelmäßig ab Gleis sieben,
von Frankfurt nach München und
steigt immer in Abschnitt E zu.
„Mein Termin gestern wurde verscho-
ben, sonst hätte ich gestern hier
gestanden.“ Heute reist er mit einem
mulmigen Gefühl, das sich aber in
eine längere Entwicklung einfügt.
„Das Gebot der Zeit lautet: vorsichtig
sein.“ Als Vielreisender sei er wach-
sam bei herrenlosen Koffern oder ver-
dächtig aussehenden Menschen. Ab
jetzt will er nicht mehr direkt an der
Bahnsteigkante entlang gehen, vor
allem nicht mit seinen Kindern.


„Wir sind geschult, aber


wenn es dann passiert.. .“


Drei Mitarbeiter des Arbeiter-Sama-
riter-Bunds (ASB) legen gemeinsam
eine Blume ab. Marlon war gestern
im Einsatz, er betreute Augenzeugen
des schrecklichen Vorfalls. Sie zu
trösten sei schwierig gewesen, sagt
der junge Mann. „Wir sind für solche
Fälle geschult, aber wenn es dann
passiert.. .“. Solche Szenen erwarte


man in einem Actionfilm, aber nicht
in der Realität. Am Tag danach fühlt
er sich „unwirklich“. Sein Kollege
Christoph atmet tief durch und will
heute „Profi sein“.
Eine Mutter mit einem kleinen Jun-
gen an der Hand huscht vorbei.
Schnell legt sie eine Blume an die
Gedenkstätte, der Sohn ist etwa in
dem Alter des gestorbenen Jungen.
Ihre Augen sind rot, sie zieht den
Kopf ein und rennt fast in Panik
davon. Auch ein schick gekleideter
junger Mann mit Pilotenbrille legt
eine Blume nieder. Man dürfe eine
solche Tat nicht akzeptieren und
zum Alltag übergehen, sagt er.
Andere warnen davor, die Her-
kunft des mutmaßlichen Täters zu
sehr in den Vordergrund zu stellen.
Bei dem Täter handelt es sich um
einen Eritreer, der seit 2006 in der
Schweiz lebt und dreifacher Familien-
vater ist. Der Passagier in Abschnitt E
fragt sich wie alle anderen am Gleis

sieben, was in dem Mann vorgegan-
gen sein könnte. Seine Herkunft tue
nichts zur Sache, findet der Ge-
schäftsmann.
Am Abend kommen etwa 400 Men-
schen zu einer Andacht auf dem
Bahnhofsvorplatz zusammen. Der
Tod des Kindes sei für die Angehöri-
gen eine „sinnlose Katastrophe“, sagt
der Leiter der Frankfurter Bahnhofs-
mission, Carsten Baumann. „Wir kön-
nen nicht glauben, dass ein Leben
sinnlos abbricht, das gerade erst
begonnen hat.“ Baumann lädt die
Trauernden ein, sich in ein Kondo-
lenzbuch einzutragen. „Wir dürfen
nicht zulassen, dass jetzt Gedanken
von Hass um sich greifen“, sagt die
Pfarrerin der Evangelischen Hoff-
nungsgemeinde, Jutta Jekel. Jetzt gel-
te es, bei den Opfern zu stehen. „Es
geht darum, dass wir zusammenhal-
ten, dass wir uns nicht hinreißen las-
sen von Wut und Gewalt“, sagt Jekel.
Sandra Trauner, dpa

Ein Reisender legt am Frankfurter Hauptbahnhof am Gleis 7 eine Blume nieder zum Gedenken an den getöteten Achtjährigen.

Foto: Heike Lydin

g, epd

Hand in Hand nehmen Menschen am Abend an einer Gedenkveran-
staltung vor dem Frankfurter Hauptbahnhof teil.

Foto: Frank Rumpenhorst, dpa

Passagiere in Tokio betreten eine U-Bahn durch eine Sicherheitsbar-
riere. Sie öffnet sich erst, wenn der Zugsteht.

Foto: Lars Nicolaysen, dpa

Wie Bahnhöfe in anderen Ländern gesichert werden


Von Scannern, Metalldetektoren, Glastüren und Chipkarten


Nach dem Tod eines Achtjährigen in Frankfurt


Eine Frage – und


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Im Blickpunkt


Mittwoch, 31. Juli 2019
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