Berliner Zeitung - 31.07.2019

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10 * Berliner Zeitung·Nummer 175·Mittwoch, 31. Juli 2019 ·························································································································································································································································································


JedeSchule


erhältWLAN


undBreitband


HunderteMillionenEurofür
denWeginsdigitaleZeitalter

VonElmar Schütze

M


anchmalmussmansichwun-
dern, wieweit in derSenats-
schulverwaltung Außenwahrneh-
mung undInnensicht auseinander-
klaffen.Vonaußen existiertdas Bild
einer überfordertenBehörde ,die es
nichtschafft,ausreichendvollausge-
bildete Lehrer für eine wachsende
Schülerzahl einzustellenoder ma-
rode Schulbauten teils aus dem
19.Jahrhundertzusanieren. Nach
innen sieht sichSenatorinSandra
Scheeres (SPD) dagegen selbst für
einedigitaleZukunftgerüstet.Einer
besseren Ausstattung undVernet-
zungallerSchuleninabsehbarerZeit
stehenichtsmehrimWege,sagtedie
SenatorinamDienstag.
Möglich wirddieser „große
Schritt nachvorne“, wie Scheeres
ihnnennt,durchvielGeldvonLand
undBund.ZunächsthattedasLand
BerlinseineMittelfürdieDigitalisie-
rung vonSchulen aufgestockt.Jetzt
erhaltejedeberuflichesowiezentral
verwaltete Schule einenBreitband-
kabelanschluss,umangemessen
schnell imInternet unterwegs sein
zukönnen.BinnenvierJahrensollen
alleallgemeinbildendenSchulenfol-
gen. Jährlich stehen dafürrund 85
Millionen Euro zur Verfügung. Ex-
terneIT-KräftesollendieGeräteund
Einrichtungenwarten.

WiedringenddieseInvestitionen
mitunter benötigtwerden, zeigt das
Beispiel des Lily-Braun-Gymnasi-
umsin Spandau.Einesder Gebäude
anderMünsingerstraßeisteinCon-
tainer,schulintern„Gartenhaus“ge-
nannt. In diesemwerden Zehnt-
klässler unterrichtet, die dortauch
ihre nMittleren Schulabschluss
(MSA) ablegen, zu dem bekanntlich
auch einePräsentation gehört.Da-
bei ist ausgerechnet das „Garten-
haus“bisheutenichtansNetzange-
bunden.Dassollenunschnellnach-
geholtwerden,hießes.
Zu den Landesmitteln kommen
257MillionenEuroausdem5-Milli-
arden-Euro-DigitalpaktderBundes-
regierung.Dafür sollen alle Schulen
einen leistungsstarkenServer erhal-
ten, schulisches WLAN bekommen
und mehr Klassenräume mit inter-
netfähigen Whiteboards ausstatten,
aberauchmobileEndgerätewie No-
tebooksoderTabletseinkaufenkön-
nen.Diesedürfenjedochinsgesamt
nichtmehrals25000Eurokosten.
DerEtaterrechnetsichauseinem
Sockel betragvon 100000 Euro plus
330 Euro proSchül er.Die Schulen
sollen beiderVerwaltung einMedi-
enko nzept einreichen,um dasGeld
beantragenzu können.Nach Anga-
benvon Sc heeres habenbereits
SchulenInteresseangemeldet.
Schöneneue digitale Welt also
künftiganBerlinsSchulen?DieAnt-
wortlautet: Vielleicht,aber!Sobleibt
es etw aamL ily-B raun-Gymnasium
beim Handyverbot au fdem Schul-
hof. „Wir wünschen keineprivate
Nutzung“, bekräftigt Schulleiterin
UlrikeKaufma nn.DasInternetsolle
schulischen Zweckenvorbehalten
bleiben. „Die Schüler chatten und
filmen –das wollen wirnicht“, sagt
dieSchulleiterin.

Für Endgeräte stehen den Schulen künf-
tig bis zu 25 000 Euro zurVerfügung. DPA

Gesucht:EinInvestormitHerz


EinHausamStrausbergerPlatzsollverkauftwerden.DieMieterhabenAngstvorVerdrängung


VonUlrich Paul

F


ürSylviaDornbusch,56,ist
es einfach nur noch ner-
venaufreibend.„Wirhaben,
wenn wir Glück haben,
noch zweiWochen“, sagt sie.Zwei
Wochen, um einen sozial verant-
wortlichenKäuferfürihrWohnhaus
am StrausbergerPlatz 12 inFried-
richshain zufinden,einen„Investor
mitHerz“,wieDornbuschsagt.
DerGrund: DasGebäude,das
zum Ensemble der im Zuckerbä-
ckerstil errichtetenWohnhäuser an
der Karl-Marx-Allee gehört, steht
zum Verkauf. Dieprivaten Eigentü-
mer wollen sichvonder Immobilie
mit 21 Wohnungen trennen.Sieha-
ben denMieternaber die Möglich-
keitgegeben,selbsteinenKäuferzu
suchen.DasProblem:Bishergibtes
nochkeinen.UnddieZeitläuftab.
6,9 Millionen Euro sind alsPreis
fürdas Hausim Gespräch.Zuvielfür
die landeseigeneWohnungsbauge-
sellschaftMitte(WBM),dieüberein
TochterunternehmeneinstimBesitz
des Gebäudes war.„Wirsind von
Mieternangesprochen worden und
haben daraufhin auch Gespräche
mit Senat undBezirkgeführt“, sagt
WBM-SprecherChristophLang.

Nichtim Milieuschutzgebiet
„Wir können dieBemühungen, das
HausunddieMietervorSpekulation
zu schützen, sehr gut nachvollzie-
hen“,soLang.„Leiderwareswegen
des hohen Preises,der gefordert
wird, bisher nicht möglich, einen
Ankauffürunswirtschaftlichdarzu-
stellen.“Wasdie Sachezusät zlich
schwierig macht: DasHaus liegt
nicht in einemMilieuschutzgebiet.
DerBezirkkann die Immobilie des-
wegennichtdurchAusübungseines
Vorkaufsrechtszugunsteneinerlan-
deseigenen Wohnungsbaugesell-
schafter werben.
Wenn es nach denMieterngeht,
würden sie jedoch am liebsten in

kommunale oder genossenschaftli-
che Hand kommen. „UnsereHoff-
nung ist noch, dass eine landesei-
geneWohnungsbaugesellschaftoder
auch Genossenschaft einen Zu-
schussfürdenErwerbunseresHau-
sesbekommt“, sagt Dornbusch.
Schließlich seien gerade rund
670Wohnungen an derKarl-Marx-
Allee vonder landeseigenenWoh-
nungsbaugesellschaft Gewobag
übernommen worden. „Dawürden
21WohnungendenKohlauchnicht
fettmachen“,sagtDornbusch.

DasHaus am Strausberger
Platz12 gehörte früher derWoh-
nungsbaugesellschaft Friedrichs-
hain (WBF), die heute zur WBM
zählt. DieWBF hat dieWohnungen
in den 90er-Jahren privatisiert.Im
Jahr 2001 wurden dieMietwohnun-
genin Eigentumswohnungenumge-
wandelt und dreiJahrespäter vom
jetzigenBesitzer erworben, wie die
Bewohner berichten.Vomindividu-
ellen Vorkaufsrecht haben sie da-
malskeinenGebrauchgemacht.
Zwar genießenMieter nach der
Umwandlung und dem erstmaligen
Verkauf ihrerWohnung einenzehn-
jährigen Kündigungsschutz, doch
dieseristamStrausbergerPlatz12be-

reits seit 2014 abgelaufen.Seitdem
geltendienormalenKündigungsfris-
tenvondreibisneun Monaten.Soll-
ten die Wohnungen einzelnverk auft
werden,drohtdenMieterneineKün-
digungwegenEigenbedarfs,fallsder
neue Besitzer selbst einziehen will.
NurdreiAlt-Mieterverfügen noch
aus der Zeit der Privatisierung über
einendauerhaftenSchutzvorEigen-
bedarfskündigungen.Darunter Syl-
via Dornbusch.Vorden gesetzlich
möglichenMietst eigerungenistaber
auchsienichtgeschützt.

In Sorge: Mieter des Hauses Strausberger Platz 12.Vorn links:Petra Böhmer. V. OTTO

DieMieter befürchten, dass sie
aus ihren Wohnungen verdrängt
werden.Dasbelastetsie.Einige,wie
die74-jährigeAnnettHitzigrath,ver-
bindenbesondereErinnerungenmit
ihrem Zuhause.„Alsesd arum ging,
die nach dem Kriegzerstörte Stadt
wieder aufzubauen, war auch mein
späterer Schwiegervater Horst Hit-
zigrath dabei“, erzählt sie.ImRa h-
men desAufbauprogramms an der
damaligenStalinallee,der heutigen
Karl-Marx-Allee,habe er vieleAuf-
baustunden geleistet.Dafür sei ihm
die Wohnung am Strausberger
Platz12 zugewiesen worden. „Dort
zogerm it seinerFamilie 1953 als
Erstbezieher ein“, berichtetHitzig-

rath. Nach einemWohnungstausch
imJahr1980seisieschließlichselbst
mit Mann und Tochter eingezogen.
„Diese Wohnung bedeutet mir sehr
viel“,sagtHitzigrath.Ähnlichwiesie
kamPetraBöhmeranihreWohnung.
„Mein Vater,eingebürtigerAmerika-
ner,hatte sich dieseWohnung erar-
beitet“, berichtet die 69-Jährige.Er
habevieleAufbaustundenzurTrüm-
mer-undSchuttbeseitigungentlang
der damaligenStalinallee geleistet.
„Wir waren froh über unsereneue
Wohnung mit ihrem Luxus,auch
wenn wir zu viertinz weiZimmern
lebten“, so PetraBöhmer.Später
übernahmsiedieWohnung.

StadtratsiehtProbleme
Während dieMieter noch aufHilfe
durcheinelandeseigeneWohnungs-
baugesellschaft hoffen, ist derBau-
stadtratvonFriedrichshain-Kreuz-
bergFlorian Schmidt (Grüne) skep-
tisch:„DieEinbindungvonLandes-
eigenen halte ich aktuell für
zwecklos,dad iePreiseastronomisch
sind“,sagter.Schonjetztkommeder
Bezirkbei der Ausübung desVor-
kaufsrechtsnurmitHilfederneuge-
gründetenGenossenschaftDieseeG
weiter,dieWohnungen auch zu hö-
heren Preisen er werbe.Gegebenen-
falls müsse ergänzend zurDiese eG
ein eigenständiger Dritterwerber
aufgebautwerden. Eine „handfeste
Aufgabe“seheerdarin,Lösungenfür
Wohnhäuser zu finden, bei denen
die Mietwohnungen bereits in Ei-
gentumswohnungen umgewandelt
worden seien wie amStrausberger
Platz, sagt Schmidt.Viele Bewohner
wüsstengarnicht,wasihnenblühe,
wenn die Fristen zurEigenbedarfs-
kündigungabgelaufenseien.

UlrichPaul
sieht Berlin in der Pflicht,
den Mieternzuhelfen.

DPA/BRITTA PEDERSEN

DasKabelvonKöpenick


Einkleines Stück Kabel erinnertkünftig imMuseum Köpenick an den
rund30-stündigenBlackoutvomFebruardiesesJahres .Bezirksbürger-
meister Oliver Igel (SPD) präsentierte amDienstag das neueAusstel-
lungsstück,dasdengroßenStromausfallverursachthatte.EineBaufirma
hattedasKabelam19.FebruarbeieinerBohrungimRahmenderArbei-
tenanderSalvador-Allende-Brückebeschädigt.Mehrals30000Haus-
halteund2000GewerbebetriebewarenvomStromausfallbetroffen.Sie

mussten ohne Licht,Heizung oderTelefon auskommen.DerBlackout
hattedasöffentlicheLebenzeitweiseerheblicheingeschränkt.Schulen
und Kitasblieben geschlossen,Straßenbahnen fielen aus.„Der19. Fe-
bruarund20.Februar2019werdenwohlindieG eschichteTrepto w-Kö-
penickseingehen,nichtnurwegendes Stromausfalls.Sondernauchweil
sichindieserNotsituationgezeigthat,wiegutdieBehördenzusammen-
arbeitenundwiegutunsereZivilgesellschaftfunktioniert“,soIgel. (dpa)

2020startet


Zählungder


Obdachlosen


Bundesweitleben
MenschenohneWohnung

VonMelanie Reinsch

I


nDeutschland leben nach den
jüngsten Schätzungen derBun-
desarbeitsgemeinschaftWohnungs-
losenhilfe (BAGW)650000 woh-
nungsloseMenschen.DieSchätzun-
genbeziehensichaufdasJahr2017,
die Zahl liegt deutlich niedriger als
die im November 2017 veröffent-
lichteZahlfürdasJahr2016.Darech-
nete man noch mit 210000 Woh-
nungslosen mehr.Das bisherige
Schätzmodell,dasseit1992zumEin-
satz kam, ist aufgrund fehlender
neuerempirischerStudienveraltet.
Dieneuen Zahlen „entsprechen
nicht einem tatsächlichenRückgang
der Wohnungslosenzahlen in
Deutschland“,betonteWerena Ro-
senke,Geschäftsführerin der BAGW
am Dienstag. Dieniedrigen Zahlen
seien vielmehrdem deutlichverbes-
serten neuem Schätzmodellzuzu-
schreiben. Manhabe im vergange-
nen Jahr ein neues Hochrechnungs-
modellerarbeitet,dasaufdenvaliden
Daten der jährlichenWohnungsnot-
fallberichterstattung in Nordrhein-
Westfalen aufsetzt und deren Daten
aufDeutschlandhochrechnet.
Mangeht sogar davon aus,dass
sichdieZahlenvon2016auf2017um
etwa15bis20Prozenterhöhthaben.
Hauptgründefür die steigendeZahl
der Wohnungslosen sind für die
BAGW das unzureichendeAngebot
an bezahlbarem Wohnraum, die
Schrumpfungdes Sozialwohnungs-
bestandesund die Verfestigungvon
Armut.


FürBerlingibtesbisherkeineva-
liden Zahlen, wie vieleWohnungs-
loseinderStadtleben.Manschätzt,
dass es zwischen6000 und 10000
Menschensind.UmLichtinsDunkel
zubringen,startetimJanuarin Ber-
lineinbishereinmaligesModellpro-
jekt.Rund300Ehrenamtlichesollen
an einemStichtag die Obdachlosen
in der Stadt zählen.Aber nicht nur
das.„Siesollen vorallem angespro-
chen werden, damit wir ihnen auch
entsprechende Hilfs- und Bera-
tungsangebote anbieten können“,
sagte Regina Kneiding,Sprecherin
derSozialverwaltung.
Vielen wohnungslosen Men-
schenstündenLeistungenzu,diesie
aber nicht in Anspruch nähmen,
„weil sie nicht können, sie nicht
mehrinderLagesind,zueinemAmt
zu gehen.Nurauf vagen Schätzun-
genkönnenwirkeinekonkretenBe-
darfermitteln“, so Kneiding. So
müsse man zumBeispiel leistungs-
berechtigt sein, um einenMietzu-
schussbeantragenzukönnen.
AufGrundlageeinesFragebogens
sollderindividuelleBedarfermittelt
werden. Zugleich will man heraus-
finden, woher dieMenschen kom-
men,wersiesindundwievieleMän-
ner,Frauen, Jugendliche,Kinder
oder Menschen mitBehinderungen
aufder Straßeleben.
Weil dieseInformationen dem
Datenschutz unterliegen, hätte
die Vorbereitung länger gedauert,
alsgeplant.
Eine zweite Zählung wohnungs-
loserMenschensolletwaeinhalbes
Jahrspäterstattfinden.


Wie viele Obdachlose es in Berlin gibt,
weiß man bisher nicht. SABINE GUDATH

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