Berliner Zeitung - 31.07.2019

(ff) #1
Berliner Zeitung·Nummer 175·Mittwoch, 31. Juli 2019–Seite 19*
·························································································································································································································································································

F e uilleton


„EinSchriftsteller,derWertdarauflegte,keinSchriftstellerzusein.“


ArnoWidman nzum100.GeburtstagvonPrimoLevi Seite 21


„DasistklareManipulation“


DieHistorikerinKarinaUrbachüberdieVerbindungenderHohenzollernzurElitederNationalsozialisten


I


mStreitumdieEntschädigung
der Hohenzollernfür Liegen-
schaften, die dieSowjetunion
ihnen nach 1945 abnahm,
spieltdieFragenachderHaltungdes
ClanszudenNaziseinewesentliche
Rolle.Die Historikerin Karina Ur-
bachistihrnachgegangen.

Frau Urbach, IhreArbeiten haben
nichtsmitdemProzesszutun,dendie
Hohenzollern gerade anstrengen? Sie
habenkeinGutachtengeschrieben?
Nein. ChristopherClark(„Die
Schlafwandler“)hat 2014 ein Gut-
achtenverfasst,dasdieAnsprüche
der Hohenzollernunterstützen
soll. DieGutachtender deutschen
Historiker Peter Brandt und Ste-
phan Malinowski widersprechen
den Forderungen der Hohenzol-
lern. Keines der drei Gutachtenist
bisheröffentlich.

Worumgehtes?
Um Liegenschaften,die die So-
wjetunionnach dem Zweiten Welt-
kriegenteignethatte.EineRückgabe
ist ausgeschlossen. Aber Georg
Friedrich Prinz vonPreußen, das
heutigeOberhaupt der Hohenzol-
lern,forderteineEntschädigungvon
1,2 Millionen Euro.Die steht ihm
rechtlichzu,esseidenn,dieHohen-
zollernhätten einst dem „national-
sozialistischenSystem erheblichen
Vorschub“geleistet.

HabenSiedas?
Aufjeden Fall. DieHohenzollern
hatten zwei große Vorbilder –den
italienischenKönig Viktor Emanuel
III.,derMussolinimitzurMachtver-
half und in Spanien König Alfonso
XIII.,dermitdemautoritärenGene-
ralMiguel Primo de Riveraregierte.
SoetwasÄhnlichesstrebtendieHo-
henzollernfür Deutschland an.Ihr
MussoliniwarAdolfHitler.Siedach-
ten,HitlerkönneeinSteigbügelalter
sein,umsiewiederaufdenThronzu
bringen. Also machten sieIn-und
AuslandspropagandafürdieNSDAP.
KronprinzWilhelm veröffentlichte
zumBeispielinderamerikanischen
PresseeinenArtikelindemer„Mar-
xistenundJuden“vorwarf, Hitlerzu
untergraben, und er prophezeite,
„dieWeltwürdeHitlernochdankbar
sein,denBolschewismusbekämpft
zuhaben“.InseinenBriefenanLord
Rothermere, den britischen Zei-
tungsmagnaten, beschrieb der
KronprinzdetailliertseineHilfefür
Hitler:„BeiderReichspräsidenten-
wahlhabeichöffentlicherklärt,dass
ichfürHitlerundgegendenFeld-
marschallvonHindenburgvotieren
werde. Ichglaube,ichhabedadurch
ausdemKreismeinerStahlhelm-Ka-
meraden und aus demBereich der
deutschenNationalistenrund zwei
Millionen Stimmen für Hitler ge-
wonnen.“

Undals es dann nichts wurde mit
demThron?
Siewaren begeistertvon Hitlers
Eroberungskriegen.Daswarinihren
Augen echte Hohenzollernpolitik.
DerKronprinz gratulierteHitler am
26 Juni 1940 perTelegramm: „Mein
Führer! Ihrergenialen Führung, der
unvergleichlichenTapferkeitunserer
Truppen (...) ist es gelungen, in der
unvorstellbarkurzenZeitvonknapp
5Wochen Holland undBelgien zur
Kapitulation zu zwingen, dieTrüm-
mer des englischen Expeditions-
corpsindasMeerzutreiben.(...)Mit
demheutigenTageruhendie Waffen
im Westen, und derWegist frei für
eine endgültige Abrechnung mit

dem perfiden Albion. In dieser
Stunde vongrößter historischerBe-
deutung möchte ichIhnen als alter
SoldatundDeutschervollerBewun-
derung die Hand drücken. Gott
schützeSieundunserdeutschesVa-
terland!“

SiesindindieArchivegegangenund
habenversuchtherauszufinden,was
die Hohenzollern, allenvoranda-
malsderKronprinzWilhelmtaten.
Manmuss in ausländischen Ar-
chiven nachBriefen suchen, denn
das Hausarchiv derHohenzollern,
stehtderForschungnichtoffen.Der
Nachlass des Kronprinzen zumBei-
spiel ist überhaupt nicht einsehbar.
DieFamilie will dasGeschichtsbild
kontrollieren und entscheiden,wer
welche Dokumente sehen darf, was
veröffentlicht wirdund was nicht.

Adolf Hitler mit August Wilhelm Prinz von Preußen, im HintergrundKurt DaluegeBPK, DPA

Dasist klar eManipulation.Da wird
ein Staatswesen–„Preußen“ –noch
überseinenTodhinausalsPrivatbe-
sitz einerFamilie betrachtet.Dasist
in meinenAugen der noch viel grö-
ßereSkandalalsdieForderungnach
1,2Millionen.DieHohenzollernha-
benüberJahrhundertedeutschePo-
litik bestimmt.WirHistoriker brau-
chen den uneingeschränkten Zu-
gangzuihremArchiv.

Wersagtuns,wievollständigdasAr-
chivder Hohenzollernnochist?
Da es keinen freienZugang dazu
gibt,wissenwirauchdasnicht.

DasHohenzollernarchiv wirdoffen-
bar als privaterFamilienbesitz be-
trachtet.WietrenntmandenPrivat-
besitz der Hohenzollern vondem,
wasdempreußischenStaatgehörte?

Darüber verhandeln Juristen seit
der Flucht des Kaisers.Schon 1920
schrieb Kurt Tucholsky das Gedicht
„WilhelmvonAbfundien“:„Undder
Rechtsanwalt rollt in die Reichs-
hauptstadt.Ganz Deutschland hört
ihnhandeln.MitderInstruktion,die
er bei sich hat, will er Schloss und
LandundGutundStadtin Privatei-
gentumverwandeln. Undsieh! Es
gelingt! Denn die Republik ist doof
imProz essieren.“

KaiserWilhel mzogdochnichtmitei-
nemKöffercheninsExilnach Doorn?
Er hatte mit zirka 59 Güterwag-
gons voller Schätzeeindeutig Über-
gewicht.MeineKollegenJürgenLuh,
TrucVuMinhund TorstenRiotteha-
bendarübergearbeitet.Unsere Auf-
sätzewerden im gleichenBand er-
scheinen.

Niemand hat kontrolliert, ob es sich
dabei umPrivateigentum handelte
oderumStaatsbesitz?
DasLand befand sich 1918 im
Chaos,dah at sich niemand die
Mühe gemacht hat, zu schauen, ob
bestimmteBilderoderauchPorzel-
lanausderkaiserlichenPrivatscha-
tulleoderaberausderStaatskasse
bezahltwordenwaren.

Diese Räuberbande, die Hunderte
vonJahrensichnichtnurandereige-
nen Bevölkerung bereicherthatte,
stelltsichjetzthinundverlangtdafür,
dassmanihrihrRaubgutabgenom-
menhat,eineEntschädigung.
DasistdieRechts lage.

MillionenMenschenhabeninden
vergangeneneinhundertJahrenih-
renBesitzverloren.Kannmanvon
derWeltgeschichte,diebekanntlich
doch selbst dasWeltgericht ist, eine
Entschädigung voreinem Verwal-
tungsgerichtinPotsdameinklagen?
DamüssenSieJuristenfragen.Ich
binHisto rikerin. Ichkann Ihnen
aber alsBeispiel dieGeschichte ei-
nes engenVerwandten derHohen-
zollern,desHerzogsvonCoburg,er-
zählen. Nach langen Proz essen ge-
gendie Weimarer Republikbekamer
1925 Immobilien undKunstschätze
im Wert von37,2 Millionen Reichs-
mark, nach heutigenWert zirka 139
Millionen Euro,zugespr ochen. Der
Zeitpunkt hätte nicht besser sein
können.HätteerdasGeldvorherge-
habt, wäreesinder Hyperinflation
verloren gegangen. Stattdessen
konnte er damit nunrechtsra dikale
Terrororganisationen und später
AdolfHitle rgroßzügig finanzieren.
MitdemGeld,dasihmdieRepublik
gegebenhatte,versuchteerdieseRe-
publikzu zerstören.

Wieverfähr tmananderswomitdem
Adel?
DerStaatBayernversorgtdie Wit-
telsbacher offenbarrechtgut.Ich
habe denEindruck, dieHohenzo l-
lern gucken immer wieder neidisch
auf sie .Wir wissen aber nichtsGe-
nauesüberdieVerträgemitdenWit-
telsbachern. Dasist alles geheim.
Ganz anders ist die Lage in Öster-
reich. DieHabsburger bekamen
keine Abfindungen.Dabeiwar Otto
vonHabsburgein Anti-Nazi.Er ist
emigriert, hat Propagand agegen
Hitler gemacht.Er waralso das Ge-
genteilderHohenzollern.DieÖster-
reicherhabentrotzdemeinenklaren
Schnitt mit ihrem altenHerrscher-
hausgemacht.In diesem Fallkönn-
tenwiretwasvonihnenle rnen.

DasGesprächführteArnoWidmann.

ZUR PERSON

Karina Urbachist Historikerin und forscht am Institute for Advanced StudyinP rinceton.Von
ihr erschienen „Hitlers heimliche Helfer.Der Adel im Dienst der Macht“ und „QueenVictoria –
Die unbeugsame Königin“. EndeAugust wird in einem Sammelband über „DieAbdankung der
Hohenzollernund das Ende Preußens“ (perspectivia.net) einAufsatz vonihr erscheinen:
„Nützliche Idioten. Die Hohenzollernund Hi tler“.

NACHRICHTEN


Preisgeld für zehn Berliner
Kinder- und Jugendtheater

Umzehnmal10000Eurokonnten
sichdie BerlinerKinder-undJu-
gendtheaterbeziehungsweiseEin-
zelkünstlerausdiesemBereichbei
derKulturverwaltungbewerben,
habendasgetan,undeineFachjury
hatdieAuswahlgetroffen.IndenGe-
nussderfinanziellenAuszeichnung
kommen:EstherNicklas,dieArtisa-
nen,dasPuppentheaterFirlefanz,
AnnegretGeist,TheaterX,Maria
Mägdefrau,TheaterLakritz,Kobalt
Figurentheater,TheaterCouturier
undderKindermusiktheatere.V.
HerzlichenGlückwunsch! (BLZ)

Neuer Scorsese-Film feiert
Weltpremiere in NewYork

DerMafiathriller„TheIrishman“
vonMartinScorsese(76,„Departed–
UnterFeinden“)sollEndeSeptem-
berdas57.NewYorkFilmFestivaler-
öffnen.DieNetflix-Produktionfeiert
dortihreWeltpremiere.DerFilmmit
Starswie RobertDeN iro,AlPacino,
JoePesciundHarveyKeiteldreht
sichumdenAuftragsmörderFrank
,TheIrishman’Sheeran,demnach-
gesagtwird,mehrals 25 Mordebe-
gangenzuhaben.DergebürtigeNew
YorkerScorsesewidmetesichmit
Filmenwie„GoodFellas“und„Ca-
sino“bereitszuvorderMafia. (dpa)

Australischer Literaturpreis
für Roman über Aborigines

MiteinemBuchüberdasSchicksal
einerAborigines-Familiehatdieaus-
tralischeSchriftstellerinMelissaLu-
cashenkoeinenderwichtigstenLite-
raturpreisedesLandesgewonnen.
Die52-JährigeerhieltdenMiles
FranklinLiteraryAwardamD iens-
tagabendinSydneyfürihrenRoman
„Too MuchLip“(„ZuvielLippe“),der
vombrutalenVorgehengegenAus-
traliens Ureinwohnerhandelt.Die
Auszeichnungistmit60000Austra-
lien-Dollar(etwa37000Euro)do-
tiert. DerPreiswir dseit1957 verlie-
hen.Benanntisternachderaustrali-
schenSchriftstellerinStellaMiles
Franklin,ausderenNachlasserauch
finanziertwird. (dpa)

Helge Schneider plant
einen neuenFilm

DerMusikerHelgeSchneiderwiller-
neuteinenFilmdrehen.„Ichwerd’
auchmalwieder’nenFilmmachen,
hab’ichmirüberlegt“,sagteerder
DPA.2021könneessoweitsein.
WorumesindemFilmgehensoll,ist
nochunklar.AmF reitagkommtzu-
nächstSchneidersneuesAlbum
„Partypeople(beimFleischer)“her-
aus–eineMischungausJazz-Kla-
mauk,kurzenHörspielenundIn-
strumental stücke n. (dpa)

Greta


nervt


D


ieBandThe1975wurde,anders
als der Bandname vermuten
lässt, vonMatthew Healy,George
Daniel, Adam Hann und Ross Mac-
donald 2002 als Schülerband ge-
gründet.Alseherklassischebritische
Gitarrenband waren sie mit dem,
was sie taten, stilistisch etwas spät
dran in einerZeit, in derPopmusik
überwiegend als rhythmischer
Sprechgesangreüssiert. Erfolgreich
waren sie aber trotzdem, 2013 ge-
langte ihrStück „Chocolate“ in die
Charts ,auch wenn die Zeitschrift
NewMusical Express zuvorwenig
Freundliches über The 1975 ge-
schriebenhatte.
Dasmitdem Sprechgesangholen
sienunabernach,undsiehabenda-
für eine prominente Mitstreiterin
angeheuert.Oderwaresumgekehrt?
Im Juni ist dieBand jedenfalls mit
der schwedischen Klimaaktivistin
Greta ThunberginS tockholm ins
Studiogegangen,wosiegemeinsam
einStückaufgenommenhaben,das
mehr oder weniger eine vertonte
Greta-Rede ist. „Wir stehen am An-
fangeinerklimatischenundökologi-
schen Krise,und wir müssen die
Dinge beimNamen nennen“, sagt
Greta in eindringlicher Diktion
gleichzuBeginn,umdannmitihrer
kompletten umweltpolitischen
Agenda fortzufahren. DiePolitik
musssichverändernwiedie Verhält-
nisse,aberwirmüssenunsauchver-
ändern.DerGreta-Sound eben, am
Endeistauchzart-aufrührerischvon
einernotwendigenRevoltedie Rede.
Bemerkenswertist die Aufnahme
nichtzuletztdeshalb,weilGretawe-
der aufgeregt noch emphatisch
spricht, sondernsich in klarer und
pointierter Tonlage artikuliert. Je
längerdieserpoetischeSingsangvor
sichhinplätschert,destodringlicher
erscheint er.Ein wenig fühlt man
sichandenSprechgesangDonovans
erinnert, dessenStück „Atlantis“ ja
ebenfallsvoneinerUmweltkatastro-
phe handelt, einemverschwunde-
nenKontinent.
„Greta nervt“ steht als Über-
schriftüberdiesemText,aberdasist
nichtalsgeschmäcklerischeMissfal-
lensbekundung zuverstehen. Eher
handeltessichbeidemStückmitder
BandThe1975umGretasVerwand-
lung in eineSire ne,ander die sich
aufgeklärtwähnende Gesellschaft
vorbeifahrenmuss,umd ieBotschaft
zu vernehmen. DerHeimatsu-
chende Odysseus ließ sich an den
Mastfesseln,ermusstehören,ohne
dem Klang derSire nen zu verfallen.
VielehörenGreta,abermachenwei-
ter wie bisher.Deshalb willGreta
nerven.Einemussesjatun.


Klima


HarryNutt
hat sich den erstenPopsong
der Klimaaktivistin angehört

Die Klimaaktivistin Greta Thunberg
kämpft mit allen Mitteln. AP/DAVID KEYTON


Neue Platte, bald ein neuerFilm: Helge
Schneider lacht. ISABEL SCHIFFLER/IMAGO

Ein Nachr
uf auf
denAutor
Werner Heiduczek

Seite 23
Free download pdf