Berliner Zeitung - 31.07.2019

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20 Berliner Zeitung·Nummer 175·Mittwoch, 31. Juli 2019 ·························································································································································································································································································


H


eutevoreinhundertJah-
renwurdePrimoLeviin
Turingeboren,imHaus
CorsoReUmberto75,in
demeram11.April1 987 totamBo-
dendes Treppenhausesaufgefunden
wurde .Ein Unfall? Selbstmord?Da-
zwischen studierte er Chemie,war
Partisan gegen die Deutschen,
wurde nach Auschwitz gebracht,
überlebte,kehrte auf abenteuerli-
chen Wegen zurück nach Turin,
wurde Direktor einerFarbenfabrik
und einer der bedeutendstenAuto-
rendes20. Jahrhunderts.
EinSchriftsteller,derWertdarauf
legte,kein Schriftsteller zu sein.Er
beschrieb sein Schreiben so: „Das
WerkeinesChemikers,derwiegtund
spaltet, misst und urteilt aufgrund
sichererBewe ise und sich bemüht,
dieFragennachdemWarumzube-
antworten.“ KeinWort über die Su-
che nach dem richtigenAdjektiv,
nachschönenMetaphernundKlän-
gen. Alles natürlich demErzähler
undDichter,dembegeistertenLeser
bestensvertraut. Aber dann doch
nicht so wichtig wie der Drang,
Zeugnisabzulegen.
Er hatte inAuschwitz dieWahr-
heit über denMenschen gesehen.
Davo nwollte,davon musste er er-
zählen.SeinerstesBuch„Istdasein
Mensch?“, einBericht über seine
Zeit in Auschwitz, erschien 1947.
Kaum jemand interessierte sich da-
für.Die großenVerlage hatten ihn
abgelehnt.BeiEinaudi hatten sich
NataliaGinzburgundCesarePavese
dagegen ausgesprochen.Derkleine
Verlag FrancescoDe Silvadruckte
eine Auflage von2500 Exemplaren.
Auftausendbliebersitzen.
DerErfolgkam1958miteinervon
Italo Calvino betriebenen neuen
Ausgabe –nun doch beiEinaudi.
Seitdem ist„Ist das einMensch?“ in
zahlreicheSprachen übersetzt wor-
denundnachundnachalseinesder
großen Werkedes 20. Jahrhunderts
anerkanntworden.
Nicht zuletzt, weil Primo Levi
nicht anklagen, sondernverstehen
wollte.Weil er wissen wollte,was
war,und wie es war.Weil er analy-
sierte ,statt Stimmung zu machen.
Seine beharrliche Lakonie machte
ihneinzigartig.Esgingihmnichtum
Einfühlung.DerChemikerfühltsich
nichteinindievonihmerforschten
Stoffe.Eru nterwirft sie den unter-
schiedlichstenProz edurenundpro-
tokolliertihrVerhalten.Jegenauerer
das tut, desto leichter macht er es
uns,diewirdenExperimentennicht
beigewohnt haben, dieReaktionen
desStoffeszu verstehen.
DieExperimente des Chemikers
müssenreproduzierbarsein.DerEr-
zählerPrimoLevihatdiesesProblem
nicht:Erweiß:DaA uschwitzeinmal
möglichwar,kannesdasimmerwie-
der sein.Sicher gab esAuschwitz
schon vorAuschwitz.Auschwitz ist
einAggregatzustand.Esistauchder
AugenblickderWahrheit.


In der SammlungvonAufsätzen
undGlossen„AndererLeuteBerufe“
(1985)machtsichPrimoLeviGedan-
kenüberdieRedewendung„DasLe-
benlesen“.Esseieineausschließlich
vonFrauen verwendete süditalieni-
sche Wendung, schreibt er,die zu-
dem nur in der drittenPerson ver-
wendetwerde. Niemalsalsogebees
einIch,dasdasLebenlese.
Dasist natürlich eine sehr inter-
essanteErörterung, denn so sehr
sich Levi auch über Literatur geäu-
ßerthat, seineAutorenschaft rührt
doch daher,dass er das Leben liest
undnichtdieLiteratur.Under zeigt
durchseinePraxis,dasseseinesIchs
bedarf,umdasLebenzulesen.Eines
Ichs,dassichihmaussetztundBuch
führtüberdas ,wasihmbeimLeben
widerfährt.Wieess ich ändertunter
Druck, wieTemperaturwechsel auf
eseinwirken.
Aber diese Ebene betrachtet Levi
keine Sekunde lang.Sein Interesse
wurdezwarangestoßenvonderRe-
dewendung„dasLebenlesen“,aber
voneinersehrspezifischenInterpre-
tation. Jemandem das Leben lesen
bedeutet, ihm klarzumachen, wie
falsch seineVorstellungen über die
Welt und über sich selbst sind.Das
Leben zu lesen bekommen heißt,
seine Fehler,sein Scheiternvor Au-
gengehaltenzubekommen.

Ausgerechnet bei Luise Rinser
stößt er auf die deutscheWendung,
jemandemdieLevitenlesen.Diein-
teressier tPrimo Levi natürlich.Je-
mandem insGewissen reden, ihm
vorAugen stellen, was er allesver-
kehrtmacht. Er forscht weiter und

entdeckt,dassinvielenKlösterndie
erste morgendliche Bibel-Lesung
eineausdemBuch„Levitikus“,dem
3.BuchMosewar .Dasendetdamit,
dassGottalle verflucht,dienichtauf
ihn hören und seineGebote nicht
befolgen.
Primo Levi hat niemandem je-
malsdieLevitengelesen.Seinganzes
Schreiben war gerichtet gegen die
Vorstellung,manbrauchenureinen
Satz vonRegeln und ihnen folgen,
dannwerdeallesgut. DerZerfallder
Wertelässtsichbeschreiben.Erlässt
sich –bei aufmerksamerBeobach-

tungundbeherztemEinsatzderVer-
nunft –sogar aufhalten, aber er ist
niemandem vorzuwerfen. Wem
nichtwohl ist dabei,wennihm sein
Leben gelesen wird, der muss sich
fragen, ob es am Leser oder an sei-
nemLebenliegt.

LevisganzeAnstrengungwardar-
aufgerichtet,klarunddeutlichzuse-
hen wie die„Untergegangenen und
die Geretteten“, die Täter und die
Opfer,dieGutenunddieBösenden
Aggregatzustand vonAuschwitz
durchlebt hatten.Er wollte auch si-
cherstellen, dass niemand nach
Auschwitzsoweiterlebenkonnte,als
habe esAuschwitz nicht gegeben.
DieMenschheithattesichinAusch-
witzerkannt.EswäreeinVerbrechen
gewesen,sich dumm zustellenund
hinterdieseErkenntniszurückzufal-
len.

Primo LeviwarChemiker,Partisan und überlebte Auschwitz. Er wurde Direktor einerFarbenfabrik und einer der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts. IMAGO IMAGES

VonArnoWidmann

DerDrang,


Zeugnis


abzulegen


ErhatinAuschwitzdie


WahrheitüberdenMenschen


gesehen.Zum100.Geburtstagdes


SchriftstellersPrimoLevi


„Es ist geschehen, und folglich


kann es wieder geschehen:Darinliegt der


Kern dessen ,was wir zu sagen haben.


Es kann geschehen, überall.“


Auschwitz zeigt uns ,dass es auf
dereinenSeitedieTäterundaufder
anderenSeitedie Opfergibt.Andie-
serDifferenzistnichtzurütteln.Sie
lässtsichnichteinschmelzen.Inder
Sowjetunion galt:Werheute ins La-
ger schickte,konnte morgen selbst
dorthin geschickt werden. Ausch-
witzwaranders.Eswarein Vernich-
tungslagerundesstandfest,werver-
nichten undwervernichtet würde.
DiesenUnterschiedgiltesfestzuhal-
ten.
Aber zur ErfahrungvonAusch-
witz gehörtauch: Jeder kämpft für
sichallein.JebedrohlicherdieSitua-
tion wird, desto asozialer wirdder
Mensch. Er wirdzum Körper,der
sichamLebenzuerhaltenversucht.
Keine politische,keine moralische,
keinereligiöse,keinesozialeÜberle-
gungkommtdagegenan.Dasistdie
Auschwitz-Erfahrung vonPrimo
Levi,dasistes,waserindiesemEx-
perimentumcrucisherausgefunden
hat.
EsistdieWahrheit.Eshilftnichts,
sie zu leugnen.Manentkommt ihr
nicht. Aber zu ihr gehörtauchdas
Wissen.AuschwitzistnureinAggre-
gatzustand. Mankann versuchen,
ihn zu vermeiden. Manmussdas
versuchen,wennmaneinmalbegrif-
fenhat,dass„Auschwitz“nichtsEin-
maliges ist, kein „Zivilisations-

bruch“, sondernimmer als eine
Möglichkeitvoruns liegt.„Es ist ge-
schehen,undfolglichkanneswieder
geschehen:Darinliegtder Kerndes-
sen, was wir zu sagen haben“,
schreibtPrimoLevi.Erdachtedabei
nichtanexakteReprisen. Erwusste,
dass dieStrategie derVernichtung,
derAuslöschungsichimmerwieder
in immer neuenGewändernund
Formendurchsetzenkann.
DieKZ-Wärter,die Folterer sind
keine Monster.Sie sind wie wir alle.
Wiralle können unter bestimmten
Umstän den zu KZ-Wärtern, zu
Monsternwerden. Dasist nicht
Primo LevisBotschaft. Dasist seine
Erfahrung.WiealleErfahrunggiltsie
nicht hundertprozentig. Tatsächlich
wirddoch nicht jeder zum KZ-Wär-
ter.Sow enigwiejeder–dierichtigen
Umständevorausgesetzt–zueinem
Schindlerwerdenwird.
Diemeisten Menschen gehören
der„Grauzone“ an.„Niemand kann
wissen,wielangeundwelchenPrü-
fungendieeigeneSeelezuwiderste-
henvermag,ehesiesichbeugtoder
zerbricht.“ („Die Untergegangenen
und die Geretteten“ übersetztvon
MosheKahn).
Primo Levi erzählt Philip Roth,
sein Schreibtischbefinde sich, so
lautedieFamilienlegende,genauan
derStelle,anderseineMutterihnzur
Welt gebracht habe.Levi hat diese
Familienlegendewomöglichin die-
sem Moment erst erfunden,weil es
ihm großartig erschien,seine eige-
nenProdukteandemOrtgeborenzu
haben,andemergeborenwurde.Als
erRothdaserzählte,lebteseineMut-
ter noch. Ester,geborene Luzzati
(1895–1991),lebte ja noch, als ihr
Sohn 1987 im Treppenhauszu Tode
stürzte.Sie lebten alle in der Woh-
nung,ausdererdamalshinaustratin
denTod.Seinevonihmsehrgeliebte
zwei JahrejüngereSchwester Anna
Mariastarb 2013. Primo Levi heira-
tete 1947 Lucia Morpurgo
(1920–2009).Über sie alle hat er we-
nig oder nichts geschrieben. Auch
kein Wort über seine Kinder Lisa
(1948)undRenzo(1957).InseinenEr-
zählungenund Gedichten kaum ein
WortüberLiebe.Danachbefragt,soll
er mit einem mokantenLächelnge-
sagt haben: „Die meisten Bücher
handelnvonLiebe,dabraucht man
nicht noch eines vonmir.“ DasPri-
vatewarnichtseinThema.Indiesem
SinnewollteerkeinSchriftstellersein.
Er war in Auschwitz hinter unser
Geheimnis gekommen,Primo Levi
warderZeuge,derGeschichtsschrei-
ber dieser Erfahrung. Vonanderen
mochte er wissen, aber schreiben
mussteernurüberdieGrenzeunse-
rerMenschlichkeit, die er inAusch-
witzgesehenhatte.

Arno Widmann
hat Primo Levi im Original
gelesen.

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