Berliner Zeitung - 31.07.2019

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Berliner Zeitung·Nummer 175·Mittwoch, 31. Juli 2019 3 * ·························································································································································································································································································

FürDonaldTrumpistBaltimoreein„widerlichesDrecksloch“,indem


angeblichniemandlebenwill.TatsächlichhatdieHafenstadtander


amerikanischenAtlantikküsteeinschlechtesImage–undauchviele


Probleme.Unddoch:DieEinwohnersindempörtüberdieAttacke


ihresPräsidenten.Siewehrensich


E


igentlich geht es ja um Ratten.
Doch dasErste,was der Besucher
andiesemTagzus ehenbekommt,
sindAustern. DiewerdeninDraht-
körbenandenKaisdes InnenhafensvonBal-
timoreaufgezogen–nichtfürdenmenschli-
chenVerzehr,sondernums päteralsnatürli-
cheWasserfilterinderChesapeakeBayaus-
gesetzt werden zu können. An der belebten
Uferpromenade sind Demonstrationsob-
jekte ausgestellt.Mankann die raue Schale
deredlenMuschelnanfassen.
„Just Play!“ –Spiel einfach!–steht auf
bunten Fähnchen amFlanierweg, über den
weißeundschwarzeJugendlicheaufE-Scoo-
ternsausen, während dieTouristen bei ei-
nemGlasBieroder Weinden Blickaufs Was-
ser genießen. „Kein menschlichesWesen
würdehierlebenwollen“,hatDonaldTrump
behauptet.Irgendetwaskannnichtstimmen
mitdemamerikanischenPräsidenten.Oder
mitBaltimore.Odermitbeiden.
TatsächlichkämpftdieHafenstadtander
amerikanischenAtlantikküste schon lange
mitihremschlechtenImage.DerNiedergang
der Schwerindustrie hat sie hartgetroffen.
Dieüberwiegend schwarze Be völkerung ist
seit demEnde des ZweitenWeltkriegesvon
einer Million auf 615000 geschrumpft. „O
Baltimore! Mann,isteshartnurzuleben,nur
zuleben“,klagte1977RandyNewmanweh-
mütigineinemSong.EinVierteljahrhundert
späterzeichnetedieDramaserie„TheWire“
eindüsteresBildvonDrogenhandel,Korrup-
tionundKriminalitätinderStadt.Miteiner
wildenTwitter-Tirade,ind ererdieGeburts-
stätte der US-Nationalhymne als „widerli-
ches,von Ratten undNagernbefallenes
Drecksloch“diffamierte,hatTrumpamWo-
chenendedenRufnunendgültigruiniert.


ZuwenigbezahlbarerWohnraum

„Ich bin der Letzte,der behauptet, dass es
keineProblemegibt“,sagtLeonPinkett.Der
eloquenteStadtrat steigt im dunkelblauen
Anzug dieStufen des städtischenRathauses
herunter .EineKuppelthrontaufdemvierge-
schossigenGebäude imEmpire-Stil.Unter
PinkettsHemdenmanschettelugteinorange-
farbenesPlastik-Armband mit derAufschrift
„StopptdieWaffengewalt!“heraus.Ja,esgebe
zu wenig bezahlbarenWohnraum, dieInfra-
struktur verfalle,undesgebeDefiziteanden
Schulen, gesteht derPolitiker derDemokra-
ten.„AberdasgibtesinvielenStädten.“
VorzweiJahrzehnten hat Pinkett einSe-
mester in München studiert.Dassei eine
tolleZeitgewesen,berichteter.Abergeboren
und aufgewachsen ist er inBaltimore, und
hierlebtermitseinerFamilie.„Ichhabeeben
nocheinmalaufdieKartegeschaut“,scherzt
derAfroamerikanerbitter.„Baltimoreliegtin
den USA.Undfür das Land trägt derPräsi-
dent dieVerantwortung.“Eine wichtigeUr-
sache für die hohe Kriminalität in derStadt
siehtPinkettindenfehlendenJob-Chancen


der schwarzenUnterschicht.Hier müsste
derPräsidentaktivwerden,fordertderKom-
munalpolitiker.Stattdessenverschärfeerdas
Problem, indem er dieGemeinde schlecht-
rede und mitSteuersenkungenriesige Lö-
cherindieöffentlichenHaushaltereiße.
Dasallesklingtvernünftig.Undtrotzdem
kannmansichbeieinerFahrtdurchPinketts
Wahlkreis des Eindrucks nicht erwehren,
dassdieProblemeetwasgrößersind,alsder
Politiker sie schildert.Keine fünfKilometer
trennen dieInnenstadtvomArmenviertel
West-Baltimore,wovieleEpisodenvon„The
Wire“spielen. Geschäfte gibt es hier keine,
dafürunzähligeverfalleneHäusermitkaput-
ten Dächernund verrammelten Türen und
Fenstern. Verlorene Gestalten wanken im
Drogenrausch an denStraßenrändernent-
lang.AufdenBürgersteigenliegenDreckund
Müllherum.AneinerStraßeneckewurdeein
Hydrantaufgebrochen.EinHundsuchtAb-
kühlung in dem massiven Wasserstrahl.
„Welche dreiDinge im Leben sind kosten-
los?“, hat jemand an den hölzernenVer-
schlag einerRuine ein paarStraßen weiter
gesprüht. „1. Bildung, 2. eineGefängnis-
strafe ,3.d erTod.“EssollwohleineErmunte-
rungsein.Dochfürvielehierscheintesnur
diebeidenletztenOptionenzugeben.
Wenndie Dunkelheiteinbricht,wirdesan
einigen Ecken gefährlich.Mitmehr als 300
Morden im Jahr ist Baltimoreeine der ge-
walttätigstenStädtederUSA.AufeinerWeb-
seiteim NetzkannmantagesaktuelldieEnt-
wicklungverfolgen.JederMordwirdmitDa-
tumundAngabenzudemOpfererfasst.Vir-
tuelle Nadeln auf einemStadtplanzeigen
denTatortan. Alleine in diesem heißenJuli
wurden 39Menschen umgebracht. Kämpft
man sich durch dieStatistik desGrauens,
fälltauf: Nurzweivonihnenwarenweiß.
Baltimoreist eine zweigeteilte Stadt.
WährendimbürgerlichenMountVernondie
Brunnen plätschernund in derMeyerhoff-
Konzerthalle das berühmteBaltimoreSym-
phonyOrchestraspielt,wirktdieStadtweiter
imWestenoderNordentatsächlichsodepri-
mierend, wie sie in „TheWire“dargestellt
wurde .Trotzdem wehrtsich David Simon,

der Drehbuchautor derSerie, entschieden
gegendieVereinnahmungseinerSeriedurch
diepolitischeRechte.„Beiunsim Blockgibt
esheuteeineParty“,schrieberamWochen-
endezueinemFoto,dasihnmitGitarreauf
denStufenseinesHauseszeigt.„Diesisteine
StadtmitgutenAmerikanern,dieetwasan-
deres verdienen als einen betrügerischen,
dumpfen undvonsich selbst besessenen
VersagerwieihrenPräsidenten.“Seitherfeu-
ertere inen Tweet nach dem anderen ab.
TrumpmissbrauchedieStadt,umgegenih-
renunbequemen schwarzenAbgeordneten
Elijah Cummings zu hetzen, der denKon-
trollausschuss des Repräsentantenhauses
leitet. „Die komplexenProbleme vonBalti-
moreinteressierenihnkeinenDeut.“
SoähnlichsiehtmandasauchbeiderLo-
kalzeitungBaltimoreSun.UnterdemDruck
der wirtschaftlichenVerhältnisse ist dieRe-
daktioninsIndustriegebietamStadtrandge-
zogen, verfolgt aberweiter kritisch dieEnt-
wicklung der anKorruptionsskandalenrei-
chenKommunalpolitik.
„Diese Stadt hat jedeMenge Probleme“,
sagt derMeinungsredakteurPeter Jensen.
Trotzdem hat er amWochenende einen
kraftvollenKontergegenTrumpsAusfallge-
liefert. Mitden breitenHosenträgernund
denaufgekrempeltenHemdsärmelnscheint
JenseneinemJournalisten-Filmdesvergan-
genen Jahrhu nderts entsprungen zu sein.
Seit15 Jahrensc hreibterKommentareins ei-
nerZeitung,jedeWochesechs Stück. Inzwi-
schen dürften3000 zusammengekommen
sein, rechnet er amüsiertvor.„Aber dieser
wareinbisschenanders.“
Eigentlich wollte Jensen seinen freien
Sonnabend genießen, als er vonTrumps
Tweethörte.„DerPräsidentnenntmeineHei-
mat den schlimmstenPlatz der Welt, der für
diemenschlicheBesied lungungeeignetist?“,
berichteter.„Ichdachte,dazusollteichviel-
leichtetwassagen.“DochnichtnurLokalpa-
triotismus trieb ihn an seinen Schreibtisch.
Der59J ahrealte Journalist war sich sicher,
dass in der abstoßendenRatten-Metapher
„jedeMengeRassismusdrinsteckt“.Nachei-
nerkur zenDiskussionmitseinerChefinwar

Straßenszene in Baltimore AFP/ERIC BARADAT


VonMenschen undRatten


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sich Jensen sicher:„Dasist die eine Chance
zurückzuschlagen.“InkurzerZeitverfassteer
eine Abrechnung mitTrump.„Es ist besser,
ein paarRatten zu haben, als eine zu sein“,
schrieb er über denText –eine bewusste
Grenzüberschreitung.„AlleZeitungenhaben
damitgerungen,wiesiemitdemPhänomen
Trumpumgehen.Gewöhnlichhaltenwiruns
an die Regeln, während er wie einStraßen-
kämpfer marodiert“, sagt Jensen. „Aber
manchmal muss man auch eine emotionale
Sprachewählen,umdenErnstderLageklar-
zumachen.“Jensenweiß,wo voners pricht:
InmittendervonTrumpau fgeheiztenStim-
munggegendie„Lügenpresse“hatteeinver-
wirrter MannbeimSchwesterblattTheCapi-
tal im verg angenenJahrfünf Kollegen er-
schossen.Seitdem schützt einSicherheits-
manndieRedaktionsräumederSun.

RassismusgegenüberAfroamerikanern
VieleinBaltimor esind überzeugt davon,
dass derPräsident dieStadtdeshalb atta-
ckierte ,weilihreBevölkerung mehrheitlich
schwarzist. „Das hat mich gar nicht über-
rascht“,sagtKobiLittle ,48.„Dasistdieein-
heimischeVariante seinerDrecks loch -Län-
der.“Littleistsensibilisiert:Derbapti stische
PastorarbeitetesiebenJahreinTansania, be-
vorerd ie Leitung der lokalenGruppe der
schwarzenBürgerrechtsbewegung NAACP
übernahm. An der Oberfläche beschreibe
Trump objektiveMissstände,analysierter
mitruhigerStimme.„Tatsäc hlichbenutzter
eineHundepfeife,umm itfeindselig erSpra-
che seineBasis aufzurühren.“DieVerbin-
dung vonSchmutz,Faulheit undBrutalität
mitAfroamerikanernhabeeinelangeTradi-
tionbe iweißen Rassisten.
TrotzdemgibtsichLittleoptimistisch.„Ich
hoffe,dassderHass,dendieser Mannaussen-
det,die WiderstandskräftedesLandesstärkt.“
Undtatsächlichkann maninBaltimorege-
rade diesenEindruc kgewinnen. „Ich habe
tonnenweise Zuschr iften bekommen, die
meisten positiv“, sagt derJourna list Jensen.
„Viele Leute sind über denPräsidenten wü-
tend.“ NurStunden nach derTwitter-Tirade
aus demWeißen Haus versammelten sich
Tausen de im Netz hinter demHashta g#We-
AreBaltimore. Mit3,7 Millionen Seitenaufru-
fen brach der Leitartikel derSunRekorde.
„TrumphatdenStolzderMenschenhierun-
terschätzt“, glaubtStadtrat Pinkett. „Balti-
moreist au feine Weise zusammengewach-
sen,wieichdasvorhernichterlebthabe.“
WierobustdieseBewegungist,musssich
zeigen.DieAuste rnausdemHafenbeckenje-
denfalls sollen in neunMonaten ausgesetzt
werden.

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hat Baltimore als Stadt mit zwei Ge-
sichternerlebt.

Peter Jensen ist Redakteur der Baltimore
Sun. Er schrieb einen furiosenKommentar.

Stadtrat Leon Pinkett glaubt, dass Balti-
more jetzt zusammenwächst.KARL DOEMENS (2)

Pittsburgh

NewYork City

Philadelphia

Norfolk

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73 


100 km

BLZ/HECHER

Atlantik

Maryland

Virginia

NewJersey

Pennsylvania

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