PLATZ DER REPUBLIK
Politikmit
Brustwarzen
Tanja Brandes
hält den CSD für wichtiger denn je.
V
or50 Jahrenkamesnachwieder-
holten Polizeirazzien in der
überwiegend vonhomosexuellem
Publikum besuchtenBarStonewall
Innind er NewYorker Christopher
Street zu einerReihe vonProtesten,
bei denen Schwule und Lesben mit
öffentlichen Demonstrationen für
ihreRechte zu kämpfen begannen.
In Gedenken daran wirdjedes Jahr
derChristopherStreetDaygefeiert.
Esgibtihnimmerwieder,denVor-
wurf,derCSDseizukommerziellge-
worden,zuvielParty,zuwenigPolitik.
Deswegen sei noch einmal an den
Hintergrund derVeranstaltung erin-
nert–für alle ,die es auch imJubilä-
umsjahrnichtmitbekommenhaben.
Für die Teilnehmer war der CSD
immerpolitisch,underistesindie-
sem Jahr vielleicht noch viel mehr.
Und50J ahrenach demStonewall-
Aufstandscheinteszumindestso,als
habe endlich auch der Letzte in der
Politikverstanden,worumesgeht.
Zwarwarenauchindenverg ange-
nen Jahren viele politischeParteien
mit Aktionen undWagen beim CSD
vertreten.DiesesMalaber,sod ersub-
jektiveEindruck, gab man sich be-
sondereMühe: In sozialenNetzwer-
ken überboten dieParteien sich mit
Solidaritätsbekundungen für die
queereSzene,und natürlich wurden
jede Menge Regenbogenflaggen ge-
hisst. Zumersten Malauch vorder
ParteizentralederCDU.Wirerinnern
uns:Dasistdie Partei,dieim Bundes-
tag vorzweiJahren noch mehrheit-
lich gegen die Ehe für alle gestimmt
hatte.Und auch,wenn eineFlagge
zunächstnureineFlaggeist, zeigtsie
in diesemFall, dass auch die Christ-
demokraten lernfähig sind –allen
GendertoilettenwitzenzumTrotz.
Natürlich gab es sie dann doch
wieder,diekleinen,ekelhaftenEreig-
nisse,dieauchindiesemJahrwieder
bewusstmachten,dassderCSDweit
davon entfernt ist, zu einer harm-
odergarbedeutungslosenVeranstal-
tungzu werden.
Im bayerischen Landshut, wo in
diesemHerbstebenfallseinCSDge-
plantist,ereifertesicheinFDP-Poli-
tikerüberdas„schwuleZeug“,daser
für seineHeimat als unangemessen
empfindet.Er ernteteauch aus der
eigenenParteihe ftigeKritik.
InStuttgartwiederumnannteeine
Landtagsabgeordnete der AfD den
CSDeineanstößige„Fetisch-Parade“,
die Zweifela ufkommen lasse,obes
sich wirklich um politischenProtest
handele.„SchrillstesOutfit, Sklaven
undgeschminkteMännerinFrauen-
kleiderndeuten eheraufeineArtKar-
nevalalsaufeinepolitischeDemons-
trat ionhin“,sodieKritik.
Alswärediese Aussage nicht
schon absurdgenug, muss siezu-
mindest bei jedem Rheinländer zu-
sätzlichdieFrageaufwerfen,wasge-
nau dieDame so wahnsinnig stört.
Abgesehendavon,dasswirklichwas
los wär e, wenn jemand den Rhein-
länderndenKarneval verböte:Selbst
wenn man dem CSD jeden politi-
schen Hintergrund abspräche–er
bliebeeinfröhlicherStraßenumzug,
der sichvomKarnevaldurch besse-
resWette r, schönereMenschen und
erträglichereMusik unterscheidet.
Undja, durchein paar sichtbare
Brustwarzenmehrvielleicht.
Wendasst ört,dems ei–diese War-
nungerscheintkurzvordem Bundes-
ligastartangebracht–vomBesuchei-
nes Fußbal lsta dions übrigens drin-
gendabgeraten.Auchin Stuttgar t.
Dererlaubtsichwas
E
ine vonKonstantinKuhles ersten
ErinnerungenistdieandieBundes-
tagswahl 1998.SeinVater habe mit
leerem BlickvordemFernseherge-
sessen und gestöhnt: „Jetzt ist allesvorbei.
JetztkommtRot-Grün!“Seininzwischenver-
storbener Vater sei eben immer sehr
„schwarz-gelb“gewesen,erklärtKuhle.
SeinElternhauswarinsgesamteinpoliti-
sches,eines,ind em viel diskutiertwurde,
aber keines,indem einePolitikkarrierevor-
gezeichnetgewesenwäre.BeideElterntraten
immerhinschließlichderFDPbei.„MeinVa-
terwarsogarmaleinpaarJahreimS tadtrat.
Ichhab ihn dareingequatscht“, sagtKuhle
fröhlich.BeiseinerMutterhaterwohlmehr
Überzeugungsarbeit leisten müssen.Siesei
„eherlinksangehaucht“.„AlssieihrenFreun-
dinnenerzählthat,dassihrSohninderFDP
ist, waren die etwas irritiert.Denen bin ich
wohlnichtlinksgenug.“
Dabei ist Kuhle in seinerPartei und viel
mehr noch in der öffentlichenWahrneh-
mung jemand, der das Aufmerksamkeits-
spektrumderFDPverbreitert.Ergehöredem
sozialliberalenFlügel an, behauptetWikipe-
dia. „Ichweiß auch nicht, warum das da
steht“, sagt er selbst.„RichtigeFlügel gibt es
in der FDP ja eigentlich gar nicht.Wirsind
eineParteivonIndividualisten.“
Underm uss sich, wie jederIndividualist,
der in der FDPKarrier emacht, an Christian
Lindner messen lassen.Um Kuhles angebli-
che AbgrenzungvomParteichef wirdderzeit
vielWindgemacht.Lindnerhattezuletztinder
Klima-DebattekeineallzuguteFigurabgege-
ben,auchdeshalbverfängtdiemedialeSuche
nacheinemThronfolger.Kuhlesagtdazu,dass
erdieLiniederFDPvertrete,dassaberunter-
schiedlicheAuslegungenTradition hätten in
derPartei.
Trotzdem hat er keinProblem damit, sich
mitseinenAuslegungenetwasweiterausdem
Fenster zu lehnen, als andere. „Jemand, der
nichtindererstenReihesteht,kannsichdasja
auchehererlaubenalsderParteichef“,sagter.
Also erlaubt er es sich.Im Plenum, wo er
sich mit der AfD anlegt.MitGastbeiträgen in
Zeitungen.MitVideos undKommentaren in
densozialenNetzwerken.Nachdem rechtsra-
dikal motiviertenMord am Kasseler Regie-
rungspräsidenten Walter Lübcke forderte
Kuhle nicht nur dieAufklärung desVerbre-
chens.Erw ar auch nicht bereit, gleichzeitig
über Linksterrorismus zu sprechen.„Wer an-
gesichts des politischenMordes an Walter
Lübcke erstmal ein paar ‚Aber es gibt auch
Linksextremismus‘-PhrasenvomStape llässt,
deristblind,kaltherzigundeinSicherheitsri-
siko“,schriebKuhleauf Twitter.
DiePflicht,Stellungzubeziehen
AlsinnenpolitischerSprecherderFDPisterin
einem Dilemma.Denn seinFachgebiet ist
auchdieLieblingsspielwiesederAfD.DieAuf-
merksamkeit, die durch dierechtspopulisti-
scheParteigeneri ertwerde,seifürPolitikerein
„süßes Gift“, sagtKuhle.Erw eißauch, dass
jedeöffentlicheAufregungüberdieAfDihrim
Zweifelsfallmehrnütztalsschadet.AberKuhle
betrachtetesalsseinePflicht,Stellungzube-
ziehen, wenn die Fraktion ganzrechts mal
wiederzupöbelnanfängt.„ManhatjaalsPoli-
tiker dieVerantwortung, auch in die eigene
Anhängerschaft hinein zu kommunizieren:
Achtung! Das, was da passiert, ist nicht nor-
mal. In Deutschland nicht, aber auch allge-
meinnicht“,sagtKuhle.Und:„Wirhabenein
Problem mitRechtspopulismus inDeutsch-
land.“SodeutlichsagendasnurwenigePoliti-
ker,egal,in welcherParteireihesiestehen.
KonstantinKuhlewurde1989geborenund
wuchs mit seinenEltern und dem jüngeren
BruderimniedersächsischenDasselauf .Poli-
tischaktivis ter, seiter13ist.Dasserbeiden
Jungen Liberalen landete,lag auch amInter-
net.FürdieBundestags wahl 2002fordertedie
FDP dieWähler auf, dasWahlprogramm on-
line zu diskutieren.Dashat Kuhlebeein-
druckt. GenausowiedieTatsache,dassersich
vondenJuLisinseine mKreisverbandwirklich
ernst genommen fühlte.Seine Herzensthe-
mensindBürgerrechteundpersönlicheFrei-
heit. Desweg en,sagt Kuhle, habe er Jura stu-
diert,deswegenseierindiePolitikgegangen.
DamitbewegtersichinbesterFDP-Tradition
vonGerhar tBaum undSabine Leutheusser-
Schnarrenberger–beidesindseineVorbilder.
DasanderegroßeThemaistEuropa.Auch
zumBrexithatereinVideogemacht.Esistder
Versuch,einjüngeresPublikumzuerreichen,
auch wenn Kuhle weiß, dass dieReichweite
begrenzt ist.Einige Clipswerden 10000Mal
angeklickt, anderenur 300 Mal. Undesp as-
siertnichtoft,dasseineBotschaftmaldasver-
lässt, wasKuhle seineBlase nennt:Freunde,
Bekannte,Parteikollegen. Professionell ge-
macht sind dieFilme allemal, undKuhle
schafftes,daringleichzeitiglockerundseriös
zu wirken.DieKameramag ihn. Darinwie-
derumisterdemParteichef nichtunähnlich.
KuhlehatkeinProblemdamit,Ideenoder
Äußerungen andererParteien zuzustimmen,
wennersiefürsinnvollhält.Abgrenzungnur
um der Abgrenzung willen ist nichts für ihn.
„IchnehmegeradebeiJugendlicheneinetiefe
Sehnsucht danach wahr,dasssich Politiker
differenziertäußern.“ Dasgelingt auch ihm
nicht immer.Aber unter seinenTweets oder
Videos erscheinen schon malKommentare
wie:„Ich konnte mit der FDP nie viel anfan-
gen,aberKonstantinKuhlefindeichsuper.“Il-
lusionen macht er sich deswegen nicht.„Ich
glaubenicht,dassMenschen,dienieFD Pge-
wählthaben,meinetwegenaufei nmaldamit
anfangen.“Wasnicht heißt,dasser mitdem
Versuchaufhörenwird,siezu überzeugen.
VonTanja Br andes
ZulinksfürdieFDP?
KonstantinKuhlesagt:
„WirsindeinePartei
vonIndividualisten.“
Ernutztdas
aufseineWeise
„Die Sachen, die
wirklich viral gehen,
sind oft klassische
Inhalte,die für die
Verbreitung imIn-
ternet bearbeitet
werden.Zum Bei-
spiel Ausschnitte
aus Bundestagsde-
batten. Mankann
daraus lernen: Es
kommtaufdenCon-
tent an.Mankann
diebeste Kamera
habenundetwaszur
bestenTageszeit
posten –wenn der
Inhalt nicht stimmt,
nützt das alles
nichts.“
„Junge Menschen
haben ein sehr
ausgeprägtes
Verständnis dafür,
ob ein Politiker
einfach nurDinge
erzählt, weil er meint,
er müsse sie erzählen,
oder ob er ehrlich
versucht, einThema
aus seiner eigenen
Haltung
heraus zu erklären
und anzugehen.
Dasversuche ich
mit meinenVideos.“
„Russlandist ein
autoritäres Regime,
in Polenwirdder
ObersteGerichtshof
beschnitten, in
Ungarndie Presse
unddie NG Os.
Wirkönnen auf
unserem eigenen
Kontin ent beobach-
ten, wiewenig
selbstverständlich
ein Land ist, bei
dem der Bürger
gegenüber dem
Staat durchsetzbare
Rechte hat.“
„Unser eOffenheitin
Deutschland ist
bedro ht –mehr
durch Rechts radika-
lism us als durch
Zuwanderung. Alle
demokratischen
Kräfte haben eine
Verantwortung,
die freiheitlich-de-
mokratische
Grundordnung zu
verteidigen –und
das muss eben
aktuell vorallem
gegen die AfD und
gegen derenAus-
fransung in den
Rechts radika lism us
geschehen.“
ÜBER SOCIAL MEDIA ÜBER FREIHEIT
BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK
Berliner Zeitung·Nummer 175·Mittwoch, 31. Juli 2019 5 * ·························································································································································································································································································
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