Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

11


NZZamSonntag4. August 2019

Gretas


Steuermann


S


einer prominenten Passagierin
falscheVersprechungen gemacht
zu haben,will sichBorisHerr-
mann nichtvorwerfen lassen.
Deshalb berichteteer ihr in aller
Offenheitvon denBeschwerlich-
keiten einerAtlantiküberquerung,von der
rauenSee im Norden, der Kälte anBord, der
dürftigenKost und demfehlendenKomfort.
Nur einmal habe er ein bisschengeschum-
melt, als er ihr perVideokonferenz zum
ersten Mal dasBoot gezeigt habe: «Ehrlich
gesagt, hatte ich einWeitwinkelobjektiv auf
meinem Handy angebracht, damit das alles
ein bisschen grösserwirkt», erzählteHerr-
mann der deutschen Zeitschrift«Stern».
ImJuni suchte die schwedische Umwelt-
aktivistin Greta Thunberg,16, perTwitter
eine Mitfahrgelegenheit, um ohne Flugzeug
nach Amerika zukommen.BorisHerrmann
meldete sich sofort, und die beidenwurden
sich einig.Der 38-jährigeSegler ausDeutsch-
landwird Greta imSeptember emissionsfrei
zumWeltklimagipfel nach NewYork segeln.
Herrmann, den bisher nur Insider kannten,
wird dank dem PR-Coupweltweit in die
Schlagzeilen katapultiert.
Zusammen mit seinem Co-SkipperPierre
Casiraghi, dem jüngstenSohn der monegas-
sischenPrinzessinCaroline, besitzt er das
Segelboot «Malizia II», das ohne Hilfsmotor
auskommt.Der Stromwird mitSolarzellen
undSchleppgeneratoren produziert. Das hat
der16-Jährigen offenbargefallen. Gretawird
mit ihremVater und einem schwedischen
Dokumentarfilmerreisen.Auchwenn sich
die beiden Skipper bemühen, es ihren Gästen
so bequemwie möglich zu machen: Die 10-
bis14-tägigeÜberfahrt dürfte hartwerden.
Die «Malizia II»gehört zur Klasse Open 60,
sie ist einreinesRennboot. Im Innern des
Schiffswird es bei schnellerFahrtextrem
laut, so laut, dass Gretawohl einenGehör-
schutz tragen muss.Schlagen dieWellen auf
den Karbonrumpf,verursachen sie einen

infernalischen Krach. Hitze und Kälte, Nässe
undFeuchtigkeit sind ständigeBegleiter,
man kämpft mit derMüdigkeit und der psy-
chischenBelastung. Ein solchesBoot steht
fast permanent schief.Herrmann hat Greta
vorsorglich diverseMedikamente gegen die
Seekrankheit zugeschickt, damit sie diese
ausprobieren kann.Kulinarisch müssen sich
die Passagiere auf Astronautenkost einrich-
ten, aufgefriergetrocknete Nahrung, die auf
einem Gaskocher erwärmtwird. Greta hat
bereits einigeveganeGerichte ausprobiert.
Unter Deck gibt eskeine Kabinen.Zwei Rohr-
kojen dienen alsSchlafplatz, alsToilette
muss die klassischePütz, ein Eimer an einer
Leine, herhalten, eine Dusche gibt es ebenso

wenigwie Privatsphäre. Immerhinwird vor
GretasKoje extra einVorhang angebracht.
BorisHerrmann,geboren in Oldenburg, ist
an der Nordseeküste aufgewachsen.Sein
Vater nahm ihn schon alsBabymit zurSee.
«Ich habe dasSegeln im Blut, ich bin süchtig
nachWassersport», sagtHerrmann, der
eigentlichBetriebswirtschaft studiert hat.
Dem Wahlhamburger ist nochkein grosser
Regattasieggelungen, doch er hat in seiner
gutzehnjährigenProfikarriere alsHochsee-
Segler zahlreiche Offshore-Rennen bestritten
und auch einigeRekorde erzielt. Dank
seinem smartenAussehen, einergeschickten
Öffentlichkeitsarbeit undwohl auch in
Ermangelungvon Konkurrenten gilt er heute
als besterSeglerDeutschlands.
MitCasiraghi segelt er seitJahren.
Gemeinsam bereiten sie sich auf dieVendée
Globevor, eines der härtestenRennen.Her-
mannwill 2020teilnehmen und in nur drei
Monaten allein dieWelt umsegeln – natürlich
mit der «Malizia II». Zudem leiten die beiden
einProjekt, dasSchülern denMeeres- und
Klimaschutz näherbringen soll. Das grosse
Aufsehen um dieFahrt mit Greta hilft ihnen
dabei. EinSchelm,wer Böses denkt.Malizia
bedeutet übrigensSchlitzohr. Unter diesem
Namenwurde Francesco Grimaldi bekannt,
der 1297 Monaco eroberte und die Grimaldi-
Dynastie gründete, derCasiraghi angehört.
«EineFahrt über denAtlantik mit einer
Segeljacht ist immer ein Abenteuer – auch für
Regattaprofis», sagteHermann dieseWoche.
Er selbst hat denAtlantik bereits mehr als
zehnmal perSegelschiff überquert.Bei
extrem schlechten Bedingungen sei ein
Abbruch nicht ausgeschlossen, da sie durch
die rauenGewässer des Nordatlantiksfahren
müssten. Aber natürlichwünscht sich
Hermann für seineReise mit Greta andere
Bedingungen: «Hoffentlich gibt esTage, an
denen dieSee relativ mild ist undwir die
Natur und die schier unendlich langen
Sonnenuntergängebetrachten können.»

BorisHerrmann,deutscher


Hochseesegler, bringtdie


UmweltaktivistinGreta


emissionsfreina ch NewYork.


EineAtlantiküberquerungsei


immereinAbenteuer,mahnter.


Von Walter Rüegsegger


Auf Souveränität zu pochen und dabei


unterzugehen, ist keine so gute Idee


D


ie Schweizverliert zunehmend
ihreSouveränität. Zu diesem
Schlusskommt eine neue
Studie der UniversitätGenf.
DieVorgaben supranationaler
Organisationenflössen immer
zahlreicher in dieGesetze der einzelnen
Länder ein.Muss man inSorgesein um die
Eigenständigkeit derSchweiz?Wird dasEU-
Rahmenabkommen dieSelbstbestimmung
desLandesweiter beschneiden?
Fragen der nationalenSouveränität
werden in derSchweiz besonders gründlich
diskutiert. Dies hat einerseits damit zu tun,
dass dasLand ethnisch, sprachlich undreli-
giös nicht homogen ist. Es entstand aus
einem Bund, dessenTeilnehmer sich zu
gegenseitigemBeistand in derVerteidigung
derFreiheit bekannten. DieVerteidigung der
Freiheit ist dieraison d’êtrederSchweiz,
darum führen tatsächliche odervermutete
Eingriffe in die nationaleSouveränität sofort
zu Abwehrreaktionen.Zweitens ist in der
Eidgenossenschaft dasVolk derSouverän,
also die höchste Instanz. In einer direkten
Demokratie fühlen sich die einzelnen Bürger
besonders betroffen,wenn Eingriffe in die
Eigenständigkeit zu befürchten sind.
Nach demZweitenWeltkrieg trat die
Schweiz einerReihevon internationalen
Organisationen bei. Dabei ging esvor allem
darum, die Handels- undWirtschaftsbezie-
hungen zwischen denLändern zuvereinfa-
chen. Dieses Anliegen erhielt zusätzliche
Dringlichkeit, als im letztenViertel desver-
gangenenJahrhunderts die Globalisierung
einsetzte. DieVerträge derWelthandelsorga-
nisation zumBeispiel betreffen nationales
Recht – die Staaten sollen imGegenzugvom
Abbauvon Handelshemmnissen profitieren.
Wenn ein StaatKompetenzen abgibt, sollte
er dafür etwas erhalten,wovon er unmittel-
bar profitiert. Darin liegt für ihn der Sinn,

mit supranationalen OrganisationenVer-
trägeabzuschliessen.
Auf dieseWeise sindvieleBestimmungen
in dasSchweizerRecht eingeflossen. Das
geschieht nahezugeräuschlos; niemand
enerviert sich darüber. DieMenschen haben
nicht dasGefühl, dass internationalfest-
gelegteProduktestandards in ihreLebens-
welt eingreifen.Auchwenn die Universität
Genf vielevon aussen angestosseneGesetze
gezählt hat – es wäreverwegen,von einer
Aufweichung derSouveränität zu sprechen.
Ähnlichverhält es sich beim sogenannt
autonomen Nachvollzugvon EU-Recht. Die
Schweiz übernimmtvon der Europäischen
Union laufendRegelungen, über die sie nicht
mitentschieden hat. Sie tut das, um ihre
Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Die
Schweizverzichtet hier auf Eigenständigkeit.
Weil Bereichewie dasProduktehaftpflicht-
gesetz und das Pauschalreisegesetz betroffen
sind, hält sich über denSouveränitätstrans-
fer niemand langeauf.
Sosanft läuft derVerlust anKompetenzen
jedoch nicht immer ab. DieSchweiz ist
gezwungen worden,fast über Nacht das
Bankkundengeheimnis aufzugeben. Trei-
bende Kräfte waren dieUSA und Organisa-
tionenwie dieG-20 und die OECD;Letzterer
gehört dieSchweiz selber an, aber das half
ihr nicht.Der Bundesrat war auf den Angriff
schlechtvorbereitet und meinte, dasPro-
blem liesse sich aus derWelt schaffen, indem
man es nicht zurKenntnis nehme. Zu spät
suchte dieSchweizVerbündete.Für dieLan-
desregierung war die plötzlicheAufgabe
einerPosition, die sie als unverhandelbar
dargestellt hatte, eineDemütigung.
Auch dieBesteuerungvon Unternehmen
musste dieSchweiz auf äusseren Druck hin
ändern. Es drohte ihr derVerlustvon Milliar-
den an Steuereinnahmen. Kaum hat das
Stimmvolk im zweiten Anlauf der neuen

Regelung zugestimmt,rollt die nächsteWelle
an: DieG-20 arbeitet an einerweiteren ein-
schneidendenReform der Unternehmens-
besteuerung. Die Umsetzungkönnte für die
Schweiz gravierendeFolgen haben.
Souverän ist,wer Macht hat. Das muss die
kleine, aberwirtschaftlich potente Eidgenos-
senschaft ein ums andere Mal erfahren. Sich
dem Druck zuwidersetzen mit einem Hin-
weis darauf, dass manHerr im eigenen Haus
sei, bringt nichts. Die Kräfte, die auf die
Schweiz einwirken, sind zu stark; diewirt-
schaftlichen Risiken zu gross. MitDefätis-
mus hat das nichts zu tun. Es bringt nichts,
aufSelbstbestimmung zu pochen,wenn
dabei Existenzgrundlagenwegbrechen.
Aus demDebakel um dasBankgeheimnis
hat dieSchweizgelernt. Sie betreibt nun eine
aktivere Aussenpolitik, sucht Allianzen und
tut nicht mehr so, als gingen sie missliebige
Themen nichts an. EinLand, das in derWelt
gutvernetzt ist, bewahrt seineSouveränität
eher als eines, das auf sich alleingestellt ist.
Was bedeutet das inBezug auf das Rah-
menabkommen mit der Europäischen
Union? Die entscheidendeFrage lautet:Was
bekommt dieSchweiz imGegenzug dafür,
dass sie einenSouveränitätstransfer nach
Brüssel hinnimmt? Sie erhält sich langfristig
den Zugang zum Binnenmarkt des mit
Abstand grössten Handelspartners.Perfekt
ist dervorgeseheneMechanismus zur
Schlichtungvon Streit zwar nicht – aber er ist
immer noch besser, als dass dasLandwieder
Opfervon Machtpolitikwerdenkönnte. Die
Schweiz übernimmt schon heute hundert-
fach EU-Recht; zu behaupten, dass sie mit
dem Rahmenvertrag ihreSouveränität auf-
gäbe, ist eine groteskeVerzerrung. Die
Schweiz hat in jüngerer Zeit jähe Einbussen
anSelbstbestimmung erdulden müssen.Der
Rahmenvertragverhindert, dass dies im
Umgang mit der EUweiter geschieht.

Die Schweiz ist inden


vergangenenJahren wieder


und wieder von Grossmächt en


an dieWand gedrüc kt worden.


Der Rahmenvertrag mitder


EU kann dazu beitragen, dass


dies nicht weit er geschieht,


meint Francesco Benini


Die«Malizia II»
isteinreines
Rennboot. Im
Innerndes
Schiffs wird
es beischneller
Fahrt extrem
laut.

EinLand,das
inderWelt
gut vernetzt
ist, bewahrt
seine Souverä-
nitäteher
alseines, das
aufsi ch allein
gest ellt ist.

BRUNO MUFF

Warum unsere Kinder derart


unselbständig sind–undwas


wirdagegen tun können 12


In der US-Kleinstadt


Wilkes-Barre schwärmen


mittlerweile alle für Trump 14


Kinder, Kinder Trumpgewinnt

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