Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4. August 2019
Meinungen

Jetzt kommt
inunserer
Familiealles
anders. Das
Ziel ist, die
Jungsnäher
andaswahre
Lebenheran-
zuführen.

D


as war harteKost. Vor ein paar
Monaten ha tten meineFrau und ich
an einemFreitagabend unabhängig
voneinander abgemacht.Weil dann
keiner von uns zu Haus seinwürde, bereitete
sie unserenSöhnen das Abendessenvor.
Genauergesagt, einen gutenTeil des Abend­
essens.Meine Frau hatte eine Pfanne
Gehacktesgemacht, die beiden sollten nur
noch in dem mitWasser bereitsgefüllten
Topf die zum bodenständigenMenu
gehörendenHörnli kochen. Als ich eine
Stunde später nach Hause kam,fanden die
Jungs, es habe hervorragendgeschmeckt –
nur dieHörnli seien etwas zähgewe sen. Kein
Wunder: Anstatt das Wasser zuerst aufzu­
kochen, hatten sie dieTeigwaren einfach

hineingelegt und nachzehn Minutenwieder
herausgenommen.
Dass beide Elternteile – sowie meineFrau
und ich – zu70 bis 80 Prozent berufstätig
sind, ist gut undrecht undgesellschaftlich
opportun. Die Männer sollten nicht nur beim
Frauenstreikvon Gleichberechtigungreden,
sondern diese in einerfairen Aufteilung der
Familienarbeit auch leben. Und dieFrauen
schöpfen ihre Arbeitskraftvorzugsweise
nicht nur zu Hause, sondern auch zugunsten
ihrer eigenen beruflichen Karriere aus.
ÖsterreichischeDemografen haben jüngst
eine Prognose zurBevölkerungsentwicklung
in Europa erstellt. Dabei kamen sie zum
Schluss, dass sich dieÜberalterung unseres
Kontinentsweder mit höherenGeburten­
raten noch mit Migration auffangen lässt,
dafür aber mit einer Steigerung der Arbeits­
kraft derFrauen.
Doch es gibt einProblem: Die Kinder
berufstätiger Elternwerd en zwar in der Kita
oder später in derTagesschule meist sehr gut
betreut. In alltäglichen Dingen desLebens
sind sie aber leider oft erschreckend unselb­
ständig. Man darf das den Kindern nicht
übelnehmen, dennwoher sollen siewissen,

wie man Pasta al dente kocht, wenn niemand
zu Hause ist, der ihnenzeigt, wie dasgeht?
Hinzukommt dieFrage derProduktivität:
Der durchorganisierteBetrieb in einem
arbeitsteiligen Haushalt funktioniert nur
dannwirklich effizient,wenn die Eltern die
Dinge selbst an die Hand nehmen.Muss man
morgens früh auf den Zug zur Arbeit, kann
man nicht eine halbe Stunde warten, bis die
Kinder ihreSachen zum Anziehen in den
Tiefen des Kleiderschranks selbst zusam­
mengesucht haben.
Es geht nicht darum, die guten alten
Zeiten zu verklären. Trotzdem:Meine Frau
ist alszehnjähriges Mädchen jeden Mittag
nach Hausegekommen und hat sich selbst
etwas zu essen zubereitet, während ihre
Mutter an der Arbeit war. Die Mittwo chnach­
mittage hat sie damitverbracht, dieWäsche
für die ganzeFamilie zu bügeln.Ich vermute,
unsereSöhne wissen nicht einmal, was
bügeln bedeutet. Das kann allerdings auch
damit zu tun haben, dass ich meineHemden


  • nach einem einzigen, kläglichenSelbstver­
    such vor Jahren – zumWaschen und Bügeln
    in denHemdenservice bringe. Ich meiner­
    seits musste meinerMutter bei derBewi rt­


49 Prozent


Gutbetreut,aberalltagsuntauglich


Patrick Imhasly istRedaktor imRessort
Wissen der «NZZ am Sonntag».

schaftung unseres Gartens helfen – bis zu
jenemfatalenTag, an dem ich unseren klei­
nen Kartoffelacker zu jäten ha tte. Weil mir
der Unterschied zwischen dem Kartoffel­
kraut und dem dazwischen spriessenden
Unkraut nicht so richtig klar war, habe ich
sicherheitshalber alles Grünzeug radikal
weggeschnitten. Meine Mutter war ob dieses
Vorgehens dermassen entsetzt, dass sie mich
nie wieder in den Gartengeschickt hat.
Jetzt aberkommt in unsererFamilie alles
anders. In denSommerferien habenwir end­
lich dieRuhe und die Zeitgefunden, unser
Gefüge neu aufzustellen. Das Ziel ist, die
Jungs etwas näher an das wahreLeben
heranzuführen und sie alltagstauglicher zu
machen. In einer erstenLektion habenwir
zusammen ausfrischenTomaten, Zwiebeln,
Knoblauch, Olivenöl undGewürzen einen
schmackhaften Sugogekocht. Die beiden
waren lernbegierig undvom Resultat begeis­
tert – wenn nur nicht der hässliche Streit
darüber ausgebrochen wäre,wer denn nun
mehr zumWohl derFamilie beigetragen hat.

Invirtuellen
Räumenfehlen
nonverbale
Signalewie
Augenkontakt
undMimik,die
Empathie
fördern.Daher
werdensoziale
Normen
schneller
überschritten.

Gastkolumne


K


ürzlich traf mich beim morgend­
lichen Öffnen meiner E-Mails ein
Schock. Eine Studievon Mitarbei­
tern war ins Kreuzfeuer der sozialen
Netzwerkegeraten – ironischerweise ging es
dabei um Hass im Internet. Vordergründig
wurde der Umgang mit dem Datenschutz
kritisiert, doch das spielte schon baldkeine
Rolle mehr. Dies ist heutekein Einzelfall, es
passiert immer häufiger. Dank dem Internet
kann sich jeder zu jeder Zeit undvon überall
mit geringem Aufwand in der Öffentlichkeit
äussern.Für öffentlich sichtbarePersonen
bedeutet dies im Umkehrschluss, dass stän­
dig ein sogenannter Shitstorm droht. Einige
meinerKollegenforschen aus diesem Grund
nicht mehr zukont roversen, politisch heik­
len Themen.Auch in der Öffentlichkeit äus­
sern sie sich nur selten. Karriere undPosition
setzt man nicht leichtsinnig aufs Spiel.
Nun ist diefreie Meinungsäusserung aber
Kennzeichen einer offenenGesellschaft.
Öffentliche Institutionen müssen sich der
ständigen Kritik stellen, umveränderbar zu
bleiben.Leider bewirkenfreie Meinungen im
Internetzeitalter auch, dassGesellschaften
totalitärer statt offenerwerd en. Beziehen
öffentlichePersonen ausFurcht vo r Inquisi­
tion nicht mehr Stellung zukont roversen
Themen, dominiert derWahrheitsanspruch
der einschüchternden Gruppe.Meist sind

das Personen, die sich im Internet ohne
Angst spontan äussernkönnen; entweder
weil sie keine öffentlichePosition bekleiden
oder weil sie Protestbewegungen an gehören,
von denen man ein solchesVerhalten erwar­
tet. In beidenFällen ist nicht mitReputa­
tions­ und Karriereschäden zurechnen.
Die provokantesten Meinungen werd en
beklatscht. Amtsinhaber hingege n bekom­
men keinen Beifall, sondern die Entlassung.
Wenn Widerspruch ausbleibt,können sich
aber Ideen, Weltanschauungen undRecht­
fertigungen einzelner, für dieGesellschaft
bei weit em nichtrepräsentativer Schichten
zum unangefochtenen Leitbild entwickeln.
Es resultierentotalitäreIdeologien mit
umfassendemWahrheitsanspruch, diekon­
kurr ierendeVorstellungen diskreditieren.
Woher aberkommt dieWut im Netz?
Erstens zweifeln immer mehrMenschen
an der Gültigkeit desLeistungsprinzips; auch
weil sie andere persönliche Erfahrungen
gesammelt haben. DieLegitimität der Macht
in Gesellschaften hängt aber entscheidend
davon ab, ob glaubwürdig vermittelt werd en
kann, dassPositionen an dieGeeignetsten
vergeben werd en. In der neuesten Nummer
der «Zeitschrift für Organisation»zeigen
verschiedeneWissenschafter, dass an der
Meritokratie zuRecht gezweifeltwird.
Soziale Herkunft, Zufall undSeilschaften
spielen für den Erfolg mindestens eine
genauso grosseRolle wie Leistungen. Im
digitalen Zeitaltervon Massenproduktion
und Netzwerkeffektenkommt erschwerend
hinzu, dass sich nurwenige Personen und
Anbieter durchsetzen. Die Glücklichen –
nicht zwangsläufig dieBesten.
Zweitens fehlen verbindliche Orientierun­
gen: Währendfrüher Familie,gesellschaft­
liche Position undReligion dasLeben des

Einzelnen strukturierten, ist heute jeder für
sein Lebensglück selbstverantwortlich. Im
Internet für eingemeinsames Ziel kämpfen


  • sei es für das Tierwohl, gege n Abzocker, für
    das dritte Geschlecht,gege n Ausländer –
    bietet Orientierungshilfe in einer einsamen
    Welt. In virtuellen Räumenfehlen non­
    verbale Signalewie Augenkontakt und
    Mimik, die Empathiefördern, und auch
    unmittelbareVerhaltensreaktionen des
    Gegenübers.Soziale Normenwerd en schnel­
    ler überschritten, und es entwickeln sich
    falscheVorstellungen, wer undwie eine
    Person ist. Es entsteht schnellerWut gege n­
    über denen, dieandererMeinung sind.
    Der KulturanthropologeRené Girard pos­
    tuliert drittens, dass globaleKommunika­
    tionsmedien zur Entfesselung des rivalisie­
    renden Sich­Vergleichensvon Menschen
    führen. Neid gilt alsTodsünde,weil dieser in
    Unzufriedenheit und Hass mündet.
    Für eine offeneGesellschaft müssenwir
    die Wurzeln derWut beseitigen. Erstens:
    ErfolgreichePersonen und Anbieter sind gut,
    aber nur selten herausragend. Glorifizierung,
    sei dies in klassischenMedien oder sozialen
    Netzwerken, ist unangebracht.Demut –
    besondersvon denen, die das Glück hatten,
    erfolgreich zu sein – hingege n schon.Zwei­
    tens: Lokale Face­to­face­Gemeinschaften
    wie Vereine, Bürgerabende oderVolksfeste
    vermitteln Orientierung, Empathie und
    Lebensfreude. Die zurVerfügung stehenden
    Offline­Alternativen bestimmen,wie oft wir
    uns invirtuellen Räumen bewegen. Drittens:
    Auch im digitalen Zeitalter lohnt es sich zu
    erkennen, was unser Nächster nicht hat,
    anstatt zu be gehren, was dieser hat.


Katja Rost ist Soziologieprofessorin an der
UniversitätZürich.

Dieoffene


Gesellschaft


undihre


Wutbürger


Gegenfreie Meinungsäusseru ng


kannniemandsein,aberim


Internetzeitalterkannsiezu


totalitärenTendenzenführen


ILLUSTRATION: GABI KOPP

A


ls Jesus Pont ius Pilatus
beschied, er sei in dieWelt
gekommen, um für dieWahrheit
Zeugnis abzulegen, sinnierte der
römische Statthalter achselzuckend:«Was
ist Wahrheit?» Mit solchrelati vistischer
Lässigkeit hätte Pilatus auch das Zeug
zum Redaktor bei Ringierswelscher
People­Postille «L’illustré».
Die sprach dieseWoche überWahrheit
nicht mitJesus, aber immerhin mit CVP­
Nationalrat ClaudeBéglé, der sich auch als
Friedensstifter sieht. Und darum einmal
kurz nach Nordkorea düste, um mit eige­
nen Augen zu sehen, ob dortwirklich eine
stalinistischeHöllendiktaturwütet. Doch
siehe da: ClaudeBéglé sah, dass es in
Nordkorea prallvolle Supermarktregale
gibt und Bürger, die im Lunaparkfröhlich
in Putsch­Autölis ineinanderknallen.Was
ihn aufTwitter zumSchlussverlei tete , so
schlimmkönne dieDiktaturvon KimJong
Un nun auch nicht sein.
«Interview vérité» prangt auf der Titel­
seite von «L’illustré» unter dem Bildvon
Béglé, der auf achtSeiten «seine»Wahr­
heit inklusive putzigerTwitter­Föteli
verbrei ten darf.Zwar fragt der Inter­
viewer sanft, obBéglé mit der Diktatur­
analyse nicht naiver sei, als Nordkoreas
Gedankenpolizei erlaubt. Aber derPropa­
ganda­Mistwird trotzdem abgedruckt.
Das ist eine Knacknuss für alleMedien:
Was tun im Zeitalter derPolit­Scharla­
tane?Bei Béglé geht politisch nurgerade
im Nationalrat diePost ab – doch mit
Donald Trump undBoris Johnson
machen FigurenWeltpolitik, neben
denen derBaron von Münchhausen als
Wahrheitsapostel durchgeht. Wer sie
interviewt,wird zum Komplizen.
Es ist zumHeulen.Weshalb CNN­
AnchorVictor Blackwell am passendsten
reagierte:Beim Reden über Trumps ras­
sistischeAusfälle brach ihm die Stimme.
Es wäre einfast poetischer Titel über dem
Schlusskapitel westlicherDemokratie:
Mit den Clowns kamen die Tränen.

Medienkritik


Nichts


alsdie


Wahrheit


StephanKlapproth ist Ex-Newsanchor,
Uni-Dozent undKongressmoderator.

Stephan Klapproth


Katja Rost


Patrick Imhasly

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