Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4.August 2019
HintergrundGesellschaft

Menschengeraten inWut und
Hass, weil dieEvolution
Kurzschlusshandlungen
begünstigt, sagtder
Psychiater FrankUrbaniok.

Herr Urbaniok, nachder Tat in
Frankfurt sprichtein Schweizer
Politikervon der Todesstra fe. In
den sozialen Netzwerken wütet
ein Hass, derkaum zu fassen is t.
Hat unsere Gesellschaft den
Verstandverloren?
Frank Urbaniok:Was den
Verstand von uns Menschen be-
trifft, gibtes ein grosse s Missver-
ständnis, das sich durch die Kul-
turgeschichte zieht. Wir denken,
dass derVerstand dazu dasei, die
Wirklichkeitdifferenziert zu erken-
nen. Das ist ein richtiges Ziel, aber
die Evolution hat etwas dagegen.

Was heisst das?
Der Evolution gehtes nur dar-
um, die Art zu erhalten. Und für
das Überleben einer Spezies istes

MenschlichePsyche


«Die


Vernunft


spielt


keine


Rolle»


wichtig, dass sieschnell entschei-
det, wenn et was passiert, um
handlungsfähig zusein. Die Evolu-
tion hat daher in unserenVerstand
Stossdämpfer eingebaut, zum
Beispiel: Wenn du dich bedroht
fühlst, laufweg, egal ob dieBedro-
hungreal is t. Wennes also im
Busc h raschelt, hat der die besten
Überlebenschancen, der davon-
rennt, und nicht der, der genau
nachschauen will,was da raschelt.
Die Vernunft spielt dakeine Rolle.

Was hat das mit den Reaktionen
auf tragische Ereignissezu tun?
Es ist derselbe Mechanismus.
Wir fällen Entscheide aufgrund
von ganzwenigen Informationen,
um schnell eine klare Handlungs-
grundlage zu haben.

Der Entscheid in solchenFällen
ist immer Hass und Wut. Wieso?
Das beruht auf einem mensch-
lichen Mechanismus. EinVorfall wie
der inFrankfurt istvor allemtod-
traurig. Dassehen Siesehr gut an

den ersten Reaktionen der Augen-
zeugen. Dieware n nicht wütend,
sondern haben geweint. Aber
Trauer und Ohnmacht sind unan-
genehme Gefühle. Es ist viel leich-
ter und erträglicher, aufWut,Hass
und Aggression umzuschwenken.
Da fühlt man sich handelnd und
kompetent. Das ist le gitim, aber in
dieser starkenEmotion sagt man
halt auch Dinge, die inkeiner Weise
zu rechtfertigen sind.

Die sozialen Netzwerke bedie-
nen also einen grundlegenden
evolutionären Mechanismus.
Genau, das gilt auch für die
konventionellen Medien. Leser mit
kühlem Kopf sind nicht das,was
sich Journalisten wünschen. Im
besten Fall wollen sie Menschen
interessieren. Oftwollen sie aber
auch emotionalisieren. Doch die
GrenzezwischenInteresse und
undifferenzierter Emotionalisie-
rung ist fliessend. Wenn man
Menschen mobilisieren will, dann
funktionieren Angst und Wut am

besten. Diese Treiber führen dazu,
dass Menschen Medienkonsumie-
ren und zur Wahl gehen. Darum
versuchen Medien undPolitik oft,
Wut und Angst zu betonen. Das
ist problematisch,vor allemwenn
Politiker einensolchenFall instru-
mentalisieren. Das ist für mich
besondersverurteilungswürdig.
Man tut den Opfern und Angehö-
rigen zusätzliches Leid an,wenn
man ihre Tragödie fürseine eige-
ne Agenda benutzt. Sie leiten aus
einemseltenen Einzelfall allge-
meine Schlussfolgerungen ab,
und das ist immerfalsch.

Wieso?
Es gibt eine Regel: Einzelfälle,
ungewöhnliche Einzelfälle,können
keine häufigen Ursachen haben.
Hätten sie häufige Ursachen,
wäre n die Ereignisse nichtselten.
In deröffentlichen Diskussion
hingegen sagt man: Dieser Fall
zeigt uns ein allgemeines Problem.
Das gilt auch für die Tat inFrank-
furt. Sie ist ein Ausnahmefall und

Wasbleibt,istpurerHass


Nachder Tatin


Frankfurt macht sich


ungebremster Hass


breit. Die Wut inden


sozialen Netzwerken


ist beispiellos.


EinSchweizer


Politikerfordert die


Todesstrafe fürden


Täter.Wie kannso


etwaspassieren?


EineRekonstruktion.


Von Sacha Batthyany


undAnja Burri


E


twasEntsetzlichesistgeschehen
am vergangenenMontag in
Frankfurt.Um9Uhr50stiessein
40-jähriger Mann, Habte A.,
wohnhaft im Kanton Zürich, ein
Eritreer,der2006indieSchweiz
kam, eine Mutter und ihren
8-jährigenSohn vor den einrollenden ICE auf
Gleis 7. Die Mutter konnte sich retten. Der Sohn
wurdevomZugerfasstundverstarbvorOrt.
Es ist eine abscheulicheTat, für die esfast
keine Worte gibt.Der Tod des Knaben in
Frankfurt bringe Deutschland «aus der
Balance»,sostandesinder«Bild»-Zeitung.Es
sind abervor allem die aussergewöhnlichen
Reaktionen auf die Tragödie, dieviel über die
Befindlichkeit derMenschenverraten, nicht
nur inDeutschland, sondern auch in der
Schweiz.ÜberdieÄngsteunddieWutunddie
Zersplitterung derGesellschaft in einzelne
Gruppen, die sichwie feindlicheBataillone
gege nüberstehen.
Ein Knabewurde vor den Zuggestossen.
Eine Familie trauert.Doch um die Opfer ging
es in denTagen nach derTat selten. Statt
Trauer herrscht enthemmter Hass; statt An-
dachteinunendlicherLärmimNetz;statt Mit-
gefühl versucht jeder, dieTat für seineBe-
lange zu nutzen und Likes undRetweets ein-
zuheimsen, die virtuellen Formen des
Applauses.Zwei Beispielevorweg:
Die AfD-BundestagsabgeordneteVerena
Hartmann, 45, schreibt aufTwitter, noch be-
vorverlässlicheInformationenüberdenTäter
bekannt waren, sie «verfluche denTag» von
KanzlerinMerkelsGeburt –weil Merkel, ge-
mäss Hartmann, hinter allem steckt, was in
Deutschlandgerade schiefläuft.
Der SchweizerPolitikerRoland Basler, Prä-
sident der BDP im Kanton Aargau und Gross-
rat, schrieb, erkomme «wieder ins Grübeln»,
obdieTodesstrafenichtdochdiegerechte Be-
strafungwäre.SpäterpräzisierteramTelefon,
dass er nicht für die Einführung derTodes-
strafe im Allgemeinen sei, «schliesslich leben
wir in einer zivilisiertenGesellschaft». Aber
was diesenFall betreffe, sagtBasler, da halte
er dieTodesstrafe für angemessen.Auge um
Auge. HabteA., der Täter, habe «jedesRecht
auf Leben verwirkt».

Nur dieEmotionen zählen
Die Tragödie inFrankfurtwirft natürlichFra-
gen auf.Muss man Zugänge zu Bahnhöfen in
Zukunft mehrkont rollieren? Gibt es über-
hauptsoetwaswiehundertprozentigeSicher-
heit?Wie gefährlich sind psychotischeMen-
schen,wie derTäter, der angeblich unter
einemVerfolgungswahn litt – und wie geht
man mit ihnen um?
EssindwichtigeFragen.GrosseFragen.Sie
rütteln amFundament der liberalenGesell-
schaft. Nurwerd en sie in den sozialen Netz-
werken kaumgestellt.Weil hier nur die Emo-
tionen zählen, dieFakten gehen unter.
Möglichist,dassdieHerkunftvonHabteA.
tatsächlicheineRollespielt,umzuverstehen,
wie es zur Tragödie kam.Ebenso ist es mög-

lich,dassseineHerkunftunbedeutendistund
seine psychische Erkrankung dieseTat eher
erklärt, ähnlich wie bei der 75-jährigen
Schweizerin, die inBasel imvergangenen
MärzeinensiebenjährigenKosovarenerstach.
Tatsache ist:Wir wissen es nicht. Noch
nicht. Stattdessen kursieren aufTwitter Lis-
ten, wen man gleich mit aufs Gleis schubsen
sollte,natürlichKanzlerinAngelaMerkel vor-
weg, die die Grenzen öffnete, mitsamt ihren
Flüchtlingen, die sie hineinliess und die in
Deutschland «morden» und «vergewaltigen».
Um zuverstehen,wie sich eine solche
Empörungswelle aufbaut, zu der auch die
klassischenMedien beitragen mitreisseri-
schen Titeln undPolitiker, dieversuchen, aus
der Tragödie amBahnhofProfit zu schlagen,
lohnt es sich, an ihren Anfang zu scrollen.
An diesemMontag, dem29.Juli, gege n 11
Uhr, rundeineStundenachderTat,beantwor-
tet die Polizei Frankfurt erste Anfragen, die
überTwitter hineinrieseln, was denn am
Bahnhof los sei. Noch istvon einem «Perso-
nenunfall» dieRede. Um 11 Uhr 01wird die
Frage gestellt:«Undwege neinerPersonsoein
Aufriss?»Worauf derTwitter-User Hiropa
schreibt: «Das warMord.»
Als gege n Mi ttag durchsickert, dass ein
Kind auf dieGeleise geschubstwurde, ist die
Anteilnahme gross. «RIP kleiner Junge»,
heisst es,versehen mitKerzen-Emojis, was
neueLikesundRetweetsbeschert–dieöffent-
liche Anteilnahme ist auch nur eineForm der
Applaus-Hascherei. Noch aber bilden sich
keine Lager, die Trauervereint. Erst als be-
kanntwird,dassdermutmasslicheTäterAfri-
kaner ist,explodiert das Netz.
Es ist nunMontagabend aufTwitter –
Deutschlandundalleswird vermischt,Migra-
tion, Terror, «Gutmenschen»gege n «Nazis»,
es gibtkein Halten mehr. Immer mehrPoliti-
ker mischen sich ein– gründliches Abwägen
derFaktenwareinmal.Stattdessenkochensie
die Emotionen hoch. Sie sind die Brand-
beschleuniger in einer überhitzen Zeit.
Ein Abgeordneter der Grünen schreibt, im
Autoverkehr stürben sehrviel mehr, was für
wütende Reaktionen sorgt, die erwohl beab-
sichtigt hat.Der In ternetexperteSascha Lobo
nennt es die «Lust an der Empörung»,wenn
man Dinge in dievirtuelleWelt posaunt, die
weder wahr sind noch klug,von denen man
aber weiss, dass sie dieGegenseite in Rage
versetzen.Begriffewie «Gleis-Schubser» ma-
chen jetzt dieRunde, der Mann habe «aus
Mordlust»gehandelt, heisst es, einWort, das
sich einenTag spä ter auch in derMedienmit-
teilung derSVP Zürich findet, obwohl da

Noch bilden sichkeine
Lager. Die Trauer
vereint.Erst als bekannt
wird, dassder Täter
Afrikaner ist,explodiert
dasNetz.

Der forensischePsychiater
Frank Urbaniok,57, leitete 23
Jahre lang denPsychiatrisch-
Psychologischen Dienst des
Kantons Zürich. SeinBuch über
die Schwächender mensch-
lichenVernunft erscheint2020.

Über die Opfer sprichtkeiner. BahnhofFrankfurt,kurz nach der Tat.
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