Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

17


wird viele individuelle Gründe
haben.Aber die Tat hat nichts zu
tun mit Migration, mit Ausländer-
kriminalität oder mit der Tendenz
zu mehr Gewalt imöffentlichen
Raum. Alle diese Probleme gibtes,
aber siestehen nicht in Zusam-
menhang mit dieser speziellen
Tat.Von Verantwortungsträgern
erwarte ich, dass sie das erkennen.


Vieles deutet beimTäter auf
einenVerfolgungswahn hin.
Wie äussert sichdas?
EinVerfolgungswahn bedeutet,
dass sich jemand nicht mehr in der
Realität bewegt,sondern in einer
eigenen Wirklichkeitvon bizarren
Szenarien, die aber für denBetrof-
fenenreal sind. Er glaubt zum
Beispiel daran, dass andereseine
Gedanken lesen können, dass er
von bösen Mächten überwacht
wird und dass diese Mächte sei-
nen Todwollen. Er hört innere
Stimmen, die ihm etwas befehlen.
Für diesen Menschen ist das die
Grundlageseines Handelns.


Wie kann daszu Gewalt führen?
Es gibtverschiedeneAusprä-
gungen. EinigeBetroffene fühlen
sich belästigt. Sie sind frustriert,
haben Angst, schreiben wirre
Briefe, würden aber nie gewalt-
tätigwerden. Es gibtjedochauch
einenVerfolgungswahn, der mit
hoher Aggressivität,Erregung
und Gereiztheit einhergeht. Der
Risikofaktor fürschwere Gewalt-
taten ist bei diesen Menschen um
denFaktor 10 bis20 höher.

Was sind dieUrsa chen?
Am häufigsten trittVerfol-
gungswahn im Rahmen einer Schi-
zophrenieauf.Weitere Ursachen
sind Drogen, eine ausgestanzte
Paranoia bei einersonst unauffälli-
genPerson oder einefassbare
Hirnerkrankung wie ein Tumor.

Der mutmasslicheTäter ist ein
Flüchtling.Können traumati-
scheErlebnisse mitwirken?
Nein, manweiss, dass Schizo-
phrenie nicht durch Lebensereig-

nisse oder besondere Umstände
verursacht wird. Es ist eine Erkran-
kung des Gehirns, eineVerände-
rung der Biochemie. Sie ist auch in
allen Kulturkreisen etwagleich
häufig. Knapp ein Prozent der
Bevölkerung leidet daran.

Der Täter hat 40 Jahre lang ein
normales Leben geführt.Die
Tat kam wie aus dem Nichts.
Schizophrenie trittzwar
üblicherweise in jungen Jahren
auf. Später ist sieselten, aber sie
kommtvor. Und sie kann tatsäch-
lichrelativ abrupt und fulminant
einsetzen. Siekann sich aber auch
langsam entwickeln. Wennes zu
schweren Gewalttaten kommt,
dann gibtes in der Regel einen
Vorlaufvon einigen Wochen oder
Monaten, manchmal auch Jahren.

Was heisst das?
Es wäreeine absolute Aus-
nahme,wenn bei jemanden Schizo-
phrenie ausbrechen und er unmit-
telbar danach eineschwere Ge-

walttat verübenwürde. Ich habe in
vielenFällenerlebt, dass man nach
einer Tatfestgestellt hat, wie sie
sich langsam aufgebaut hat. Wenn
es bei Menschen mitVerfolgungs-
wahn zu Drohungen und Gewalt
kommt, ist das ein Alarmzeichen.
Man wird imkonkretenFall abklä-
ren, wer was vorhergewusst hat.
DiePolizei hat aber richtig gehan-
delt und denMannsofort zur
Fahndung ausgeschrieben.

Müsste manalleSchizophrenen
aufihreGefährlichkeitabklären?
Daswäreübertrieben. Aber
Psychiater, Kliniken und diePolizei
müssen darüberBescheid wissen,
dass manchedieser Menschen
gefährlichsein können.Fachleute
können das gut einschätzen. Bei
Zweifelsfällenkann man eine spe-
zielle Abklärungvornehmen.

Kannein schizophrenerTäter
überhaupt schuldfähig sein?
Man muss differenzieren. Wenn
einem Schizophrenenvon einer

inneren Stimme befohlen wird,
einen Menschen zutöten, und er
sich innerlich nicht dagegenstem-
menkann, dann gehtes in Rich-
tung Schuldunfähigkeit,weil der
Mensch nicht Herrseinerselbst
ist. Aberwenn ein Mensch mit
Verfolgungswahn sich bedroht
fühlt und eines Tages beschliesst
zurückzuschlagen undjemanden
tötet, dann ist das Deliktzwar
durch die Krankheit begründet,
aber er hat eine eigene Entschei-
dung getroffen. Eswäredann nur
eineverminderte Schuldfähigkeit.
Interview:MichaelFurger

Die Tat hat nichts
zu tun mit
Migration oder
mit Ausländer-
kriminalität.

schon bekannt ist, dass HabteA. in psycholo-
gischerBehandlung war.
Das Stimmungsbild derMenschen, das sich
auf Twitter undFacebook und in denKom-
mentarspalten derMedien abzeichnet, mag
verzerrt sein,weil sich hier nur die ganzLau-
ten und die sehrWütenden melden. Und doch
geben dieÄusserungen in dervirtuellenWelt
Hinweise darauf,wie weitdie «grosseGereizt-
heit»gediehen ist, mit der derMedienwissen-
schafterBernhardPörksen unsere Zeit um-
schreibt. Undwie sehr sich die Grenzen des
Sagbaren laufendverschieben.
Kommt hinzu, dass die Enthemmtheit und
der Hass dervirtuellenWelt in dieRealität
herüberschwappen und uns alle mitreissen.

«Schweizer, erwachet!»
Als publikwird, dass derTäter von Frankfurt
aus derSchweiz kommt, melden sich die ers-
ten Meinungsführer auch hierzulande.Femi-
nistinnen betonen, dass es sich beimTäter um
einen Mann handelt. Linkefordern mehr
Regulierungen, Rechte die Abschiebung
gleich aller Eritreer.
Am Dienstag, um 10 Uhr 38, gut 24 Stunden
nach derTat, schaltet sich auchSVP-National-
rat Andreas Glarner via Facebook in die
Debatte ein:«Währendviele unsererRentner
sich nachfast 50Jahren harter Arbeit jedes
Zugbillettvom Mund absparen müssen,kön-
nen Asylbewerber offensichtlich einfach mal
so kurz nachFrankfurtreisen ...Schweizer,
erwachet!», was 395Leute mit «Gefällt mir»
quittieren und 525Kommentare erzeugt.
In Deutschlandkönnte sich Glarner mit der
Parole «Deutschland, erwache» juristische
Probleme einhandeln.Weil die Zeile aus
einem Nazi-Propagandalied stammt, ist sie
verboten. In derSchweiz ist das anders. «Mein
Text istkeine Andeutung an das Sturmlied»,
entgegnet Glarner, «ichwill, dass dieSchwei-
zer aus ihremSchönheitsschlaf erwachen.»
Doch wer dieKommentare auf seinenFace-
book-Eintrag liest, der findet lauterMen-
schen, die zurSelbstjustiz aufrufen:
Sven F.: «Wenn die deweder edSchwiiz
löhnd,gohni nego jage, deSouhond!»
Heidi R.: «Chume mit»
Tom P.: «Bin derbi»
Warum schreibt ein Nationalrat einenText,
der in anderen Menschen Jagdinstinkte
weckt? Wäre es ni cht andersgegangen? Ist ein
gemässigterTon heute nicht mehr möglich?
Nein. Davon ist derKommunikationsbera-
ter Réda El Arbi überzeugt, der politischge-
sehen so ziemlich auf GlarnersGegenseite
steht. «Als ich nochJournalist war, dachte ich,
dass ich dem Hass im NetzFakten entgegen-
setzen kann.Doch Fakten erreichen nur
Leute, die zum Dialog bereit sind.»
Am Dienstagabend, 30.Juli, entscheidet
sich El Arbi, sich in dieDebatte einzubringen.
Er reagiert auf dieTweets zweierSVP-Politi-
ker, die dieTat von HabteA. zum Anlass neh-
men, dieSchweizer Asylpolitik zu kritisieren.
«Die beiden masturbierengerade ihrenWahl-
kampf auf die noch warmeLeiche einestote n

Kindes», schreibt El Arbi, was 128Personen
«gefällt»,17 antworten, darunter Mayla: «Dein
Kommentar ist nicht minderwiderlich.Geht’s
noch!»
Den Einwand, dass er mit solchenTweets
die Hassspiraleweit er befeuert,wischt El Arbi
beiseite. Wo Dialog möglich sei, suche er ihn,
wo die Fronten bereitsverhärtet seien, ziehe
auch er eine harte Linie.
Die sozialen Netzwerke sind fürRéda El
Arbi auch eine Arena, in der der Stärkerege-
winnt. «MeineTweets sind polemisch und
hart,weil man schmerzhafteSachverhalte
metaphorisch so deutlich aufzeigen muss,
dass sie beimLesen weh tun», sagt er.Höfl ich-
keit eigne sich dafür schlecht. «Wer immer nur
die andereWange hinhält, kauert am Ende zu-
sammengeschlagen in einerEcke.»

Hass auch auf Instagram
Was dieser ganze Hass mit uns macht, diese
Tweets, die beimLesen weh tun,weiss kaum
jemand besser als dieSocial-Media-Redakto-
rin Pola Nathusius. Ihre Arbeit bestand diese
Woche darin, alleKommentare über dieTat in
Frankfurt, die auf denFacebook-Seiten des
HessischenRundfunks eingingen, aufTwitter
und Instagram auf justiziable Inhalte zu sich-
ten und zu moderieren.Mehrere tausend
seien dasgewesen, überdurchschnittlich viele
und aussergewöhnlich scharfe. Nach der
Arbeit habe sie sichgefühlt, «als hätte man
mich stundenlang aufsÜbelste angeschrien».
Die öffentliche Stimmung inHessen sei seit
Wochen aufgeheizt, was auch mit demMord-
fall Walter Lübcke zusammenhänge, dem
Regierungspräsidenten aus Kassel, dervon
einemRechtsextremisten erschossenwurde.
«Nachdem amMontag bekanntgeworden
war, dass derTäter vom Bahnhof aus Eritrea
stammt, waren die Hassbotschaften nicht zu
stoppen.»
Nathusius beobachtet, dass derTon in den
sozialen Netzwerken immer rauerwird. Neu
sei, dass sich der Hass und dieWut auch auf
Instagram ausbreiteten.Der bis anhin alsWohl-
fühlnetzwerk bekannte Bilderdienstwerde
«politischer und zunehmend radikaler».
Was bleibt, eine knappeWoche nach der
Tat: eine trauerndeMutter, die inVergessen-
heit geriet, ein deutscher Innenminister, der
schärfereKontrollen an den Grenzen zur
Schweiz fordert, und eine Masse aufgewiegel-
ter Bürger, die sichvon einerSchreckens-
meldung zur nächsten hangelt, auf der Suche
nach einem Sündenbock.Frankfurt ist schon
passé. In Stuttgart wurde ein Mann erstochen.
Der Täter stammt angeblich ausSyrien.

MICHAEL PRO

BST / AP

Die Social-Media-
Redaktorin sagt, nach
der Arbeit habe sie sich
gefühlt, «als hätte man
mich stundenlangaufs
Übelste angeschrien».

Interview hören
Passagen des Interviews sind auf
unserer Website zu hören,unter:
nzz.as/urbaniok

Andreas Glarner,
SVP:«Ich will,
dass die Schweizer
erwachen.»

Réda El Arbi, Kom-
munikationsprofi:
«Tweets, die beim
Lesenweh tun.»

Pola Nathusius,
Social-Media-Redak-
torin: «Der Ton ist
rauer geworden.»

WutimNetz

Free download pdf