Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

NZZ am Sonntag4. August 2019


Wirtschaft 23


Fortsetzung von Seite 21


DieLufthans a...


Stadt befand in seinem Urteil
vom 15.Mai 2012, die EU-Verord­
nung sei nur auf Flüge zwischen
derSchweiz und der EU anwend­
bar, nicht aber auf Flügevon
und zu sogenannten Drittstaaten.
DasBazlteilt diese Ansicht im
Grundsatz nicht und hat dies den
Fluggesellschaften seinerzeit
entsprechend kommuniziert»,
erklärt das Amt und bekräftigt:
«Auch dieseFällefallen unter die
Verordnung.»
Und jetzt,wer hat in dieser
Streitfrage das letzteWort?
Hier kommen die selbst­
bewussten Passagiere zum Zug,
die sichvon ihrer Airline nicht ab­
wimmeln lassen, sondern beim
Bazl das online aufgeschaltete
Meldeformular ausfüllen. De
facto macht der Passagier damit
eine Anzeige.
2018 schnellte dieZahl der in
Bern eingegangenen Passagier­
beschwerden umrund 100% auf
7167 hoch. Laut derLeiterin der
Fachstelle Passagierrechtebeim
Bazl kann das Bundesamt selbst


aufgrund der Gewaltenteilung
zwarkeine zivilrechtlichen Kla­
gen zugunstenvon Reisenden an­
strengen. Trotzdem hat dieAuf­
sichtsbehörde Möglichkeiten,
Druck auf die Airlines auszuüben.
Falls das Amt zum Schluss
kommt, dieAirlineverweigere zu
Unrecht eine Entschädigung,
kann sie eine Busse sprechen.
Und da dasBazl imFallevon
Annullierungen auch Flüge aus
derSchweiz in Nicht­EU-Länder
durch dieVerordnunggedeckt
sieht, bleiben die anderslauten­
den zivilrechtlichen Urteile in
diesem administrativen Verfah­
ren ohneWirkung.
Meist leisten die Airlinesvor
dem Behördenentscheid eine
Zahlung an den Fluggast, um
einer Busse zu entgehen: «In der
Regel kommen die Passagiere
dann zu ihremRecht», sagt die
Bazl­Fachfrau.Tatsächlich hat

das Amt in den letztenJahren nur
99 Strafgelder ausgesprochen,
angesichts derTausendenvon
Meldungen ein tieferWert. Die
höchste Busse belief sich auf
5000 Fr. «Einige» Bussen kas­
sierte auch dieSwiss,wie ein
Sprecher bestätigt: «Weil die
Rückerstattungteilweise zu lange
gedauert hat.»
Eine Klärung derwidersprüch­
lichen Situation über denRechts­
weg ist nicht in Sicht.Der Weg sei
SchweizerKonsumenten effektiv
verbaut, sagt der St. Galler Uni­
professorVitoRoberto.Der Ex­
perte für Haftungsrecht steht
demAusbau der Entschädigungs­
rechte fürKonsumenten grund­
sätzlich zwar eher ablehnend
gegenüber, doch noch deutlicher
kritisiert er die unklareRechts­
lage in derSchweiz: «Die Airlines
setzen alles dran, dass keine
neuen Urteile zu den erwähnten
hinzukommen. Damit verhin­
dern sie, dassRechtssicherheit
entsteht.»
Komme es in einem Streitfall
mit eindeutigerAusgangslage zu
einemGerichtstermin, zahlten
die Airlines imRegelfall bewusst
die Passagiere zuvor aus oder er­
schienen nicht zumTermin. Dann

müssten sie zwar auch zahlen,
aber: «Damitkommtkein begrün­
detes Urteil zustande.»Sobleibt
es bei den problematischen Urtei­
lenvon Basel und Bülach: «Es ist
eine normale Firmenstrategie,
die man auch in anderen Bran­
chen findet», sagt derJurist.
Auch der direkte Weg zur
nächsthöheren Instanz ist den
Konsumenten praktisch ver­
wehrt. DieSchweizer Zivilpro­
zessordnung sieht dafür nämlich
einen Streitwertvon über 10 000
Fr. vor. DieseHöhe erreichen Kla­
gen auf Entschädigung bei Flug­
annullationen in derRegel nicht.
Das Bundesamt für Zivilluft­
fahrt ist über die verworrene
Rechtslage als Aufsichtsamt
wenig glücklich. Es wartet drin­
gend darauf, dass die in der EU
bereits 2013 angedachte Revision
der Fluggastrechteverordnung
endlichvorankommt. Bis dahin
herrscht für Passagiere, die aus
der Schweiz gestartet sind,
weiterhin dieDevise:Bei grossen
Verspätungen und Annullierun­
gen sollte man dieWeigerung der
Airline zur Zahlung einer
Entschädigung nicht ungeprüft
hinnehmen. Eslohnt sich oft
zu insistieren.

Weltweitlaufen Klagengegen
die Schweizer Ticketbörse
Viagogo. Ein Konzertbetreiber
aus Luzern entlarvt die
Plattformauf eigeneFaust.
KatharinaBracher

DieBeschwerdengegen die On­
line­TicketbörseViagogoreissen
nicht ab. DasKonsumentenforum
(kf) schreibt, dassvon rund 300
Meldungen betrügerischenVor­
gehens im Online­Handelrund
ein Drittel aufViagogo entfalle.
«Ticketskommen oft nicht an,
sind auf denfalschen Namen aus­
gestellt, oder esfallen hohe Zu­
satzgebühren an», erklärt kf­Prä­
sidentinBabette Sigg. DieSchwei­
zer Gesetze schützten eher die
Betrüger als die Opfer.
Zu den Opferngehören auch
kleinereKonzertveranstalter, die
sich teure Rechtsstreitigkeiten
mitViagogo nicht leistenkönnen.
Marco Liembdvon der«Schüür»
in Luzern nimmt dieGeschäfts­
praktikenvon Viagogo seit einer
Weilegenau unter die Lupe, sam­
meltBelege und warntKonzert­
besucher über soziale Netzwerke
vor den Maschen der Firma.
EinBeispiel: Zu einemKonzert
der «Aeronauten» imHerbst in
der«Schüür», dessenVorverkauf
gerade begonnen hat, steht auf
Viagogo, dassnur noch 42 Tickets
übrig seien.Wer zwei Karten kau­
fen will, erhält die Meldung
«Glückgehabt, das sind die bei­
den letzten Tickets».«Viagogo be­
hauptet, nur eine Plattform zu
sein, auf der private Käufer ihre
Restkarten verkaufen können.
Das stimmt nicht», sagt Liembd.
Viagogo bestreitet dieVorwür­
fevehement. Man sehe sich als
Marktplatz für Käufer undVer­
käufervon Tickets aus zweiter
Hand, schreiben dieVerantwort­
lichen. Manverwende auchkeine
Technologien, die Erstanbieter
benachteiligenwürden.
Google hat kürzlich entschie­
den, Inserate des 2006gegründe­
ten Unternehmens mit Sitz in
Genf nicht mehr anzuzeigen. In
Grossbritannien ermittelt die
Wettbewerbsbehörde CMA, und
immer mehrKonzertveranstalter
undFussballklubsweigern sich,
überViagogo erworbene Eintritts­
karten anzuerkennen.

Faule


Tricksim


Ticket-


KatharinaBracher Handel


Bombastisch sei es einmal mehr
gewesen, ihr Open Air auf dem
«Güschu», sagen dieVeranstalter
vom Gurtenfestival, das auch die­
sesJahr Mitte Juli aufBerns Haus­
berg stattfand.Bandswie Patent
Ochsner, Ms.Lauryn Hill und
Lo&Leduc spielten beiwolken­
losem Himmel undSonnenschein
vor insgesamt 76000 Besuchern.
DasFestival war an dreivon vier
Tagen ausverkauft.
Zu den erfreulichen Dingen in
der Bilanzgehören nicht nur die
Eintrittsgelder, sondern auch die
Konsumfreudigkeit derBesucher:
Im Durchschnitt luden sie 120Fr.
auf ihre Prepaid­Karten, mit
denen sie fürGetränke und Essen
bezahlten.


VerzichtaufRestbetrag


Auf solche bargeldloseZahlungs­
systeme setzt inzwischen die
Mehrzahl der Musikfestivals.
Restguthabenkönnen je nach
Veranstalter noch am Ort oder
später im Internet während zwei
Jahren zurückgefordertwerden.
«Wir wollten unseren Kassier ent­
lasten, da sich doch eine statt­
liche SummeBargeldaufeinem
Festival befindet», sagt Yves
Ammannvom Open Air Etziken.
Um grössere Bargeldbestände
vom Gelände abzutransportieren,
habe man jedes Mal einen Sicher­
heitsdienst beauftragen müssen.
Auch dieVeranstalter des Open
Airs St. Gallen sehen in ihremPre­
paid­System nurVorteile. «Es ent­
stehenwenigerWartezeiten am
Bankomaten, und das Anstehen
fürGetränke oder Essen ist kür­
zer, weil dieBezahlung schneller
abgewickelt ist», erklärt Nora
Fuchsvom Open Air St. Gallen.
AmSchluss bleibt erfahrungs­
gemäss immer einRest des Gut­
habens.Doch nicht alleBesucher
nehmen denAufwand auf sich,
den oft sehr kleinenRestbetrag
zurückzufordern. Eine Umfrage
beizehnSchweizerFestivals, die
auf bargeldlosePrepaid­Systeme
setzen, zeigt:Zwischen 1 und
1,5% der Guthabenwerdenvon
denBesuchern gar nicht erst zu­
rückgefordert.
Der Grund dafür dürfte sein,
dass derAufwand, um eingerin­
ges Guthaben zurückzufordern,
vielenBesuchern zu hoch er­
scheint.Je nachVeranstalter sind
in allerRegel etwa sechs Arbeits­
schritte erforderlich, um per On­


OpenAirsmachenbargeldl osKasse


line­Formular das Guthaben zu­
rückzufordern: Eingeben eines
Codes und je nachdem desPins
desPrepaid­Systems. Dann er­
folgt dieRegistration per E-Mail­
Adresse, oft mit anschliessender
Rückbestätigung imPosteingang
des eigenen E-Mail­Kontos. Da­
zischenwerden Sicherheitstests
geschaltet, die sicherstellen, dass
es sich beim Antragsteller tat­
sächlich um einenMenschen und
nicht um einenRoboter handelt.
Schliesslich muss dieBankver­
bindung inForm der IBAN-Num­
mer angegebenwerden.
Innovative Festivals sorgen
mittlerweile für eine automati­
sierteRückerstattung.Soetwa
das Open AirFrauenfeld. DieBe­
sucher haben dort die Option,
ihreBankverbindung bereits bei
der Einrichtung desPrepaid­Kon­
tos anzugeben. Trotzdem bleiben
auch inFrauenfeldRestbeträge
hängen, über derenHöhe dieVer­
anstalter schweigen.
Ein fiktives Anschauungsbei­
spielzeigt,wie hoch die übrig
gebliebenen Guthaben etwa sein
könnten: Das Gurtenfestival 2019
verzeichnete 76000 Besucher,
die imSchnitt 120Franken pro
Prepaid­Karte ausgaben.Wenn

davon durchschnittlich1%nicht
bezogenwürde, betrüge dasRest­
guthaben stattliche 91 200Fran­
ken. DieseRechnunggehtall er­
dings davon aus, dass auchwirk­
lich jeder einzelne Besucher
einenBetrag auf diePrepaid­Kar­
tebezahlt – was in derRealität
vermutlich nicht derFall sein
dürfte. DieVeranstalter des Gur­
tenfestivalswollenkeineAus­
kunft darübergeben,wie hoch
der übriggebliebeneBetrag tat­
sächlich ist. Nur soviel: 2018 hat­
ten dieBesuchervom Gurten­
festival98,5% ihresRestgutha­
bens zurückgefordert.
Und was passiert mit denBe­
trägen, die auch nach Ablauf der
zweijährigenFristvon nieman­
dem beanspruchtwerden? Das
Geld bleibe auf einem separaten
Konto, schreibt NorbertCavegn
vom Open Air Lumnezia:«Wir
werden in den nächsten 2–3Jah­
ren einReglement erstellen, was
mit diesemGeldpassiert.» Die
Idee sei, einenTeil in dasFestival
zureinvestieren und einenTeil an
regionale Institutionen zu spen­
den.Auch das Open Air Etziken
schreibt, eswisse noch nicht, was
mit nicht erstattetemRestgutha­
ben in Zukunftgeschehen solle.

Die meisten Festiv als setzenauf «Cashless»-Systeme. Davon profitie ren dieVeranstalter


Nach Ablauf der zweijährigen
Fristwerde man darüber ent­
scheiden. Das Open AirFrauen­
feld schreibt hingegen, dieRest­
guthaben seienverschwindend
klein, auch aufgrund des sehr
jungen, kostenbewusstenPubli­
kums desFestivals, das sich auf
Bands aus der Hip­Hop­Szene
spezialisiert hat.GenaueZahlen
wollen dieVeranstalter trotzdem
nicht preisgeben.

Nichtallemachenmit
Zwei grosseAusnahmen bleiben
Festivalswie das «Rock the Ring»
in Hinwil oder dasJazzfestival
Montreux. Diese beidenVeran­
stalter haben ihre bargeldlosen
Zahlsystemewieder eingestellt –
denFestivalbesuchern zuliebe.
«Wir wollenkeineBeträge einbe­
halten, die denBesuchernge­
hören», sagt Marc Zendrinivom
MontreuxJazzfestival. MitBar­
geldzu bezahlen, sei einKunden­
bedürfnis, dem man entsprechen
wolle. Ähnlich motiviert waren
dieVeranstaltervon «Rock the
Ring». Man habe aufgrundvon
Rückmeldungen von Festival­
besuchernwieder aufBargeld­
bezahlung umgestellt,wie eine
Sprecherin sagt.

ANTHONY ANE

X / KEYSTONE

DasBier haben sie nicht mit
Bargeld bezahlt, sondern mit
Prepaid-Karten: Besucher am
Gurtenfestival inBern.

Zwischen1und 1,5%
derRestguthaben
werdenvonden
Besuch ernni cht
zurückgefor dert.

PETER

KNEFEL

/ EPA / KEYSTONE

Anzeigen mit annulierten Flügen sindkeine Seltenheit.

«DieAirlinessetzen
allesdran,dass
keine neue nUrte ile
zude nerwähnten
hinzukommen.»
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