Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1
NZZamSonntag4. August 2019
InternationalRussland 3

Risse imSystem Putin


RusslandsPräsidentWladimirPutingaltja hrelangalsübermächtig. NunzeigtseineHerrschaft


ungewohnteSchwächen .DerKremlwirkt ratlos.Von Klaus-Helge Donath,Moskau


D


er Kremlreagiert, als wäre er direkt
im Machtzentrum angegriffenwor-
den. Die Nationalgarde, die Wladi-
mir Putin direkt untersteht,wurde
gesternSamstag aufgeboten und ging brutal
gege n dieTeilnehmer einer nichtgenehmig-
ten Demonstration im Moskauer Stadt-
zentrumvor. Etwa600Personenwurdenfest-
genommen, unter ihnen auch unbeteiligte
Passanten. An einerKundgebung eineWoche
zuvor waren es1400 gewe sen. Inzwischen
wurden bereitsvier Verfahrenwege n Anstif-
tung zu Massenunruhen eingeleitet. Darauf
stehen Haftstrafenvon 5 bis 15Jahren.
Wovor fürchtet sich der Kreml?Derzeit
gehendieLeutedochblossaufdieStrasse,um
gege n denAusschluss der Oppositionskandi-
datenbeidenWahlenfürdasMoskauerStadt-
parlament am9.September zu protestieren.
Es sind nur ein paarBewerber, die sich zur
Wahl stellenwollen. Zudem hat das 45-köp-
figeStadtparlamentkeineentscheidendepoli-
tische Macht.Dennoch führte diese eher un-
bedeutende lokaleWahl zur grössten politi-
schenErschütterung derletztensiebenJahre.

ÜberheblicheElite
AusgelösthatdieseKrisediepolitischeElitein
Moskau, die sich über dieRechte ihrer Bürger
hinwegsetzte.MitfadenscheinigenArgumen-
ten liess die städtischeWahlkommission Kan-
didaten nicht zurWahl zu: Sie erklärte Unter-
sch riften,diedieKandidatenfürsichsammeln
mussten,kurzerhandfürungültig. Damit ging
die Elite zu weit. Berauschtvom klarenWahl-
sieg Putins imFrühling 2018, glaubt sie sich
alles erlauben zu dürfen. Infolge ihrerÜber-
heblichkeit macht sie immerwieder Fehler.
Nicht nur inMoskau. Imvergangenen Juni
wurdewährenddesPetersburgerWirtschafts-
forumsIwanGolunowfestgenommen.DerIn-
vestigativjournalist hatte enthüllt, dass sich
der Geheimdienst imGeschäft mit demBe-
stattungsdienst bereichert. Nunversuchte
man, ihn mit untergeschobenen Drogen aus
dem Verkehr zu ziehen – tat dies jedoch äus-

serstungeschickt.FünfTage verbrachte Golu-
now inPolizeigewahrsam, bevor massiver
Protestvon Journalisten und der Zivilgesell-
schaft seineFreilassung bewirkte.Putin soll
sich persönlich eingeschaltet haben.Der Fall
ist einzigartig. Normalerweise werd en Perso-
nen, die in die Mangel der russischenJustiz
geraten, verurteilt, ob sie nun etwasverbro-
chen haben oder nicht. Intellektuellewie der
russischeSchriftstellerWiktor Jerofe jewglau-
ben, dieserFall werd e Russland massgeblich
verändern.
DieVorkommnissezeigen,dassdasSystem
Putin nicht mehr störungsfrei funktioniert.
DemPräsidentenen tgleitetdie Kontrolleüber
dieses autoritäreSystem. 2000 trat er an, um
eine funktionsfähige,weisungsgebundene
und wirksame«Vertikale der Macht» einzu-
führen. Durch seinAuftreten erweckt er zwar
den Eindruck, erkont rolliere alles.Tatsäch-
lich verfolgen auf den tieferenEbenen der
VertikaleGouverneure, Minister undBeamte
oft eigennützige Intere ssen.Putin greift nur
ein, wenn dieses Umfeld seine Kreise stört.
Die Sorgen und Ängste derBevölkerung
intere ssieren kaum. Immer öfter müssen sich
die Russen gege n die lokalenBehörden zur
Wehr setzen, etwa zumSchutz ihrer Umwelt.
In 30 Orten undRegionen haben sich Initiati-
ven gebildet, die sichgege n die Errichtung
von Abfalldeponienwehren. Häufig sind das
PlänezurVerteilungdesriesigenAbfallsMos-
kaus imLand. Ein berüchtigtesProjekt ist die
DeponieSchies mehr als 1000 Kilometer
nördlichvon Moskau.Vorübergehendwurde
der Weiterbau eingestellt.Aufgebrachte Bür-

ger, die vor einemJahr versuchten, Klarheit
über dasVorhaben zu erlangen, wurden
weder vom Bauherrn nochvon derPolitik an-
gehört.Aus dem ökologisch motiviertenWi-
derstandwurde ein politischerProtest. Das
politischeSystem inRusslandverfügt über
keineInstitutionen,dieinKonfliktsituationen
solchen Unmut auffangen könnten. Dievon
Moskau eingesetzten Amtsträger wollen
immerwenigerVerantwortung übernehmen.
Die Menschen sind misstrauischergewor-
den.Der Sozialvertrag zwischen Staat und
Bürgerndrohtsichaufzulösen.Seit Jahrzehn-
ten galt eigentlich, dass dieRegierung für die
finanzielleundsozialeSicherheitsorgtundim
Gegenzugerwartenkann,dassBürgeraufihre
Mitspracherechte verzichten. Nun ist nicht
mehrsoklar,obdieBürgerdenVertrageinhal-
tenwollen,zumalPutinseinenPartnichtein-
gelöst hat.
Seit sechsJahrensinkendieReallöhne,und
eine Besserung ist nicht in Sicht. Die Abhän-
gigkeit der heimischenWirtschaftvom Roh-
stoffsektor stieg unter Putins Führung noch
weit er an. Um sich dengewohnten Lebens-
standardnochleistenzukönnen,greifenBür-
gerverstärktzuKrediten.Beobachterwarnen
schonvordemPlatzenderKreditblasespätes-
tens 2021.14 Prozent oder 21 MillionenMen-
schen inRusslandgelten als arm. Unabhän-
gigeExpertengehenvonnochmehrbedürfti-
gen Bürgern aus.
Wütend sind dieRussinnen undRussen
auch über dieRentenreform, bei der dasRen-
tenalter um fünfJahre erhöhtwurde, auf 65
für Männer und 60 fürFrauen. Dabei sterben
Männer imSchnitt mit knapp65 Jahren. Bis-
her durfte man nämlich auch alsPensionär
weit er arbeiten und zugleichSeniorenver-
günstigungen in Anspruch nehmen:kosten-
losen Nahverkehr,geringere Telefon gebüh-
ren, billigereBahnfahrten.Der Kreml hat es
gewagt, den seit70 Jahren geltenden Status
des Pensionärs zu schwächen. DieRenten-
refo rm war fürviele Putin-Anhänger ein
eigentlicherSchock.

Wird der PräsidentanderHeimatfro nt nun
plötzlich angreifbar? Bisher umgabPutin die
Aura desHeiligen. Niemand wagte es, ihn an-
zugreifen.Der Präsidentkonnte sich immer
vondenNiederungenderinländischenPolitik
heraushalten undwurde auch nicht für sie
verantwortlichgemacht.Für ihn spielte es
auchkeine grosseRolle, was zu Hause pas-
siert. Die eigentlicheLeidenschaftPutins gilt
den aussen- undweltpolitischenBelangen.
Die enge Entourage lässt den Chef im Glau-
ben, ausserhalb der Kremlmauerngebe es
keine besonderenVorkommnisse.

Vor allem dieJugend ist frustriert
Sein Desintere sse könnte ihn allerdings nun
teuerzustehenkommen.Vielefragensich,ob
Russland imSyrienkrieg eine so grosseRolle
spielen soll.Vor allem für junge Leute recht-
fertigen Grossmachtintere ssen keinen weit e-
renökonomischenVerzicht.Russenzwischen
25 und 35Jahren sind ziemlich unglücklich
undstelltenbeidenletztenDemonstrationen
das Hauptkontingent.
Zum zweiten Mal seit 20Jahren steht
Putins Regimevor demProblem,wie es mit
grösserenProtesten umgehen soll.Gegen die
Demonstrationen nach demWahlbetrug des
Kremls 2011/12 ging dasSystem mit Sicher-
heitskräften und drakonischen Strafenvor.
Damals beteiligten sich sehrviel mehrMen-
schenamProtest.DasharteDurchgreifenvon
Polizei undJustiz trocknete denWiderstand
aus.Moskaus Annexion der ukrainischen
HalbinselKrimundseinMitmischenimKrieg
in derOstukraine 2014 liessen zudemviele
Gegner dieSeite wechseln.
Heute ist derProtest inMoskaugeringer,
dafür aber entschlossener. Die jüngere Gene-
rationwill sich nicht mehrwie ihre Eltern be-
vormunden lassen.Der Kreml greift aber auf
diealteStrategiederEinschüchterung zurück.
LautderPolitologinTatjanaStanowajanimmt
der Verdruss in derBevölkerung zu: «Putin
verliert dieMöglichkeit, die innenpolitische
Agenda zu bestimmen».

DMIRTY SEREBRYAKO

V / AP

Polizisten nehmen die Oppositionskandidatin und Korruptionskritikerin Ljubow Sobolfest.(Moskau,3. August 2019)

Wütend sinddie
Russinnen undRussen
auch über die
Rentenreform, beider
das Rentenalter um fünf
Jahre erhöht wurde.

Auchgestern Samstag sind beieiner Pro-
test aktion in Moskau wieder Teilnehmer
festgenommenworden. DasBürg errechts-
portal OWD-Info ging von mindestens 600
betroffenen Personen aus. Die Demonstran-
ten wandten sich gegen den Ausschlussvon
Oppositionskandidatenvon der Wahlzur
Stadtduma Anfang September. DiePolizei
nahm auchdie A nti-Korruptionskämpferin
Ljubow Sobol auf dem Wegzur Demonstra-
tion fest. Sie gehörtzur Gruppedes inhaf-
tierten Politikers und Korruptionskritikers
Alexei Nawalny. Sobol war zur Wahl auch
nichtzugelassen worden und tratvor zwan-
zig Tagen in einen Hungerstreik.
Die Veranstaltungwar von denBehörden
nicht genehmigtworden. Die Opposition
rief daher zu einem «Spaziergang» fürfaire
Wahlen auf. Wie viele dem Aufruffolgten,
lässt sich nicht genau beziffern. Hinter
einem Flaneurkonnte am Samstagnachmit-
tag auch ein Regimegegnerstecken. Auf
dem Puschkin-Platz im Zentrum der Haupt-
stadt empfing die Nationalgarde die Protes-
tierenden mit dem seltsamen Hinweis, sie
sollten mit denPolizisten vorsichtig und
schonend umgehen.«Es könnte auch Ihr
Sohn unter den Wehrdienstleistenden
sein», mahnte eine Stimme. Das hattees bei
früherenDemonstrationen nicht gegeben.
Die Sicherheitskräfte gingen mit den
Demonstrantenweniger zimperlich um. Sie
näherten sichoft hinterrücks, um siefest-
zunehmen, undwendeten wiederrohe
Gewalt an.Für den Abtransportstanden
Dutzende Gefängnisbussezur Verfügung.
In den Seitenstrassen desZentrums hatte
eine ganze Streitmacht der Nationalgarde
Position bezogen. Streckenweise fiel dort
auch der Internetempfang aus. Die «Spa-
ziergänger»hätten sich besonnenverhalten
und sich nicht provozieren lassen, wie das
OWD-Info am Abendfesthielt.(khd.)

NeuerProtest


Hunderte


Festnahmen


in Moskau


oder 21 Millionen
Menschen in Russ-
land gelten als arm.
Laut unabhängigen
Experten ist die
tatsächlicheZahl
höher.

14 %


Armut

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