Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4. August 2019
SportLeichtathletik

«Manchmal


sagtdas


Herzei nfach:


Laufweiter!»


TadesseAbraham flohaus Eritrea und wurde


nach schwierigenJahren für dieSchweiz


Europameister. JulienWanders zogvon Genf


nach Kenya, um sich ganz dem Laufenzu


widmen. ImEngadin treffen si ch die beiden


zum Gespräch. Siereden von der Passion des


Laufens und erzählen, wieder Sport ihrLeben


verändert hat.Interview:Remo Geisser


NZZ am Sonntag:Sie trainieren beide in
St.Moritz,wo sich derzeit sehr vieleAthleten
aufhalten. Die meisteZeit verb ringen Sie aber
in Kenya oder Äthiopien. Ist die Atmosphäre
im Engadinverg leichbar mit jener in den Läu-
ferländern Ostafrikas?
Julien Wanders:Überhaupt nicht. Aber es
ist sympathisch, dass es hierviele Sportler
hat, das motiviert mich. Man spürt, dass hier
ein Leistungsdenken herrscht.
Tadesse Abraham:Wenn ich inÄthiopien
bin, konzentriere ich mich zu 100Prozent
auf den Sport, und ich binTeil einer grossen
Gruppe. Hier sindwir in derSchweiz, wir
sind zu Hause. Das ist etwas ganz anderes.


Worin liegt der grösste Unterschied? Gibtes
hier mehrAblenkung?
Wanders:Ich denke, es ist die Gruppe,
welche den grossen Unterschied ausmacht.
Hier hatTadessevielleicht einen oder zwei
Trainingspartner, und ich habe auch nicht
mehr. InOstafrika sindwir mit 20 oder sogar
30 Leuten unterwegs. Da fällt das Training
leichter.


Treffen Sie hierFans oderTourist en, die Sie
erkennen und anspornen?
Abraham:Es gibt immerwieder Touris-
ten, die uns zurufen oder etwas mit uns
plaudernwollen. Es ist motivierend, zu
sehen, dass sich dieLeute für uns und unse-
ren Sport intere ssieren. Andererseits hat es
auf denWegen viele Wanderer und Spazier-
gänger, wir laufen invollem Tempo und
müssen ständig aufpassen, dass nichts pas-
siert. Ständigrufen wir: «Entschuldigung!»
Wanders:Das ist in Afrika ganz anders.
Dort respektieren dieLeute unsLäufer, das
ist Teil ihrerKultur. Hier denkt niemand,


dass wir Profis sind undfreie Bahn brauchen.
Hier müssenwir die Touristenrespektieren.

TadesseAbraham, Sie trainieren meist in
Äthiopien; JulienWanders, Sie leben in Kenya.
Gibt es Unterschiedezwischen denbeiden
Läuferkultur en?
Abraham:Ich warfrüher auch inKenya, es
gibt schon Unterschiede. Aber für mich ist
entscheidend, dass ich mich alsgebürtiger
Eritreer inÄthiopienwie zu Hause fühle. Das
Land hat die gleicheKultur wie Eritrea, das
Essen ist gleich, und ich spreche auch die
Sprache.Ausserdem hatte ich dasGefühl,
dass man inKenya jedenTag nach dem glei-
chenSchema trainiert.
Wanders:Ich war nie inÄthiopien, aber
ich habegehört, dass dieLäufer dort sehr gut
organisiert sind.Jede Gruppe hat ihren
Coach, der die Pläne schreibt. InKenya trai-
nierenviele eher improvisiert. Sie schliessen
sich irgendeiner Gruppe an undrennen mit.
Die Kenyaner sind etwas entspannter, etwas
wenigerverbissen. Aber am Ende gibt es in
beidenLändern dieseLaufkultur, siewissen,
dass sie Siegertypen sind.Wenn sie irgendwo
starten,wollen siegewinnen.

In Kenya stellt man sich an denStrassenrand
und hängt sich an die nächste Gruppe, die
vorbeikommt – inÄthiopien ginge das nicht?
Abraham:Nichtwirklich. Du musst den
Coachfragen,wenn du mittrainierenwillst.

Trainieren Sie hier inSt.Moritz gemeinsam?
Abraham:Das ist etwaskompliziert.
Julien trainiert für dieRennen auf derBahn,
ich aber bin Marathonläufer.Wenn er auf die
Rundbahngeht, läuft er eher kurze Distan-
zen, diese aber sehr schnell.Ich braucheviel

Volumen bei langsameremTempo. Aberwir
haben uns so organisiert, dasswir einzelne
Einheiten gemeinsam absolvierenkönnen.
Wanders:Einmal sindwir uns an einem
Morgen begegnet.Tadesse hatte 25 oder 26
Kilometer auf demProgramm, ich nur einen
einstündigen Dauerlauf. Aberwir konnten
fast 50 Minuten miteinander laufen.Solche
Dinge sind immer wieder möglich.

Sie kennen sich sehr gut.Können Sie trotz
unterschiedlichenTrainingsplänenvoneinan-
der profitieren?
Abraham:Früher war ich schneller als
Julien, und er hatte die Motivation, mich
einzuholen.Jetzt ist es umgekehrt. Wenn ich
sehe,wie schnell er läuft, denke ich, dass ich
da auch noch etwas zulegenkönnte. Ausser-
dem ist es cool, einen anderenSchweizer zu
haben, der so stark läuft. In derSchweiz ist
es nicht selbstverständlich, in einer Disziplin
zwei Leute auf diesem hohen Niveau zu
finden.Wir sind guteFreunde, aberwenn es
ums Rennengeht, sindwir doch Rivalen.
Wanders:Ich bin schnell, aberTadesse ist
im Marathon schon 2:06gelaufen undver-
fügt über eine hervorragendeAusdauer.
Wenn ich michverbessernwill, muss ich
daran arbeiten. Wir sind derzeit in einer
Phase, in der jeder andere Stärken und
Schwächen hat.Wir konkurrenzieren uns
nicht,wir ergänzen uns.

JulienWanders, Sie sinderst 23-jährig und in
Kenya bereits derChef einer Trainingsgruppe.
Können Sievon derReife TadesseAbrahams
profitieren?
Wanders:Ganz bestimmt. Als ichTadesse
vor zwei, dreiJahren zum ersten Malgetrof-
fen habe, war ichwirklich jung.Ich war zu

wenig flex ibel im Training, im jugendlichen
Ungestümwollte ich alles erzwingen. Im
Sport muss man aber auch entspannt sein;
wenn ein Training einmal nicht gut läuft,
darf man sich nicht gleichverrückt machen.
Tadessekennt all das, er hat zwanzigJahre
Erfahrung.

Bringt Ihnen das jugendliche Ungestüm des
jüngeren Kollegen etwas, TadesseAbraham?
Abraham:Es ist schwierig, das mit 36
Jahren noch herauszukitzeln. Aber es tut
gut, es aus der Nähe zu erleben.Wenn ich
Julien sehe, denke ich:Auch ich kann immer
nochFortschritte machen.

Im Unterschiedzu vielen jungen Afrikanern,
die früh auf denMarathon gehen, hab en Sie
sich entschieden, zunächst auf die Bahnzu
setzen, Juli en Wanders.Weshalb?
Wanders:Schon als ich klein war,wollte
ich immer ein guterBahnläuferwerd en.
Meine Inspiration sind die ganz Grossen:
KenenisaBekele, Mo Farah, früher Haile
Gebrselassie. Sie alle warenexzellente Bahn-
läufer, bevor sie zum Marathonwechselten.
Ich will nichts überstürzen, auchwenn mich
Leute davon zu überzeugenversuchen, dass
ich heute schon gute Chancen im Marathon
hätte. Er wird kommen, aber erst,wenn die
Zeit dafürreif ist.

TadesseAbraham, Sie haben nie eine Bahn-
karriere gemacht.
Abraham:Überhaupt nicht. In Eritrea bin
ich zwar einigeRennengelaufen, aber als ich
in dieSchweiz kam, musste ichGeld verdie-
nen. Arbeiten und laufen nebeneinander, das
ging nicht. Und ich war Flüchtling, ich hatte
damalskeine Verbandsunterstützung. Also

Zuweilenreicht es für eine gemeinsame Runde:Juli en Wanders (l.) und Tadesse Abraham in St.Moritz.(22. Juli2019)

Ich fühlte
mich wie in
einem
riesigen
Haus ohne
Licht.

Tadesse Abraham
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