Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1
NZZ am Sonntag4. August 2019
Sport 35

FavresSchicksalssaison

DortmundwilloffiziellMeisterwerdenundfordert denFCBayernheraus. EinesoambitionierteVorgabe


hattederzurü ckhaltende SchweizerTrainernochniezuerfüllen.Von FlurinClalüna


L


ucienFavre sitzt in kurzen Turn-
hosen in einemPolstersessel im
Mannschaftshotel inBad Ragaz,
wo die BorussiaDortmund im
Trainingslager ist. Er lächelt
zurückhaltendwie immer und
sagt: «Man kannviel erzählen, aber eswird
sehr, sehr schwer.» Draussen im Gartenkön-
nen die deutschenJournalisten kaumgenug
bekommenvon dieser Nachricht, die siewie
eine kleineSensation in dieWelt hinaus-
tragen:Dortmundwill in der neuen Bundes-
ligasaison also tatsächlichMeisterwerden.
Ganz offiziell. Irgendwann mussSebastian
Kehl, derfrühereFussballer und heutigeLei-
ter der Lizenzspielerabteilung, sagen:«So,
jetzt ist es aber dann auchgenug.Lasst uns
erst einmal spielen.»
Wer in Deutschland Titelansprücheformu-
liert, sagt nicht nur, dass erMeisterwerden
möchte. Er sagt gleichzeitig auch, dass er sich
starkgenug fühlt, dasGewohnheitsrecht des
FC Bayern nach sieben Titeln inFolge anzu-
zweifeln. Und das mit einem Trainer, der zwar
seit mehr als einemVierteljahrhundertFuss-
ballcoach ist, aber noch nie in seiner Karriere
zu Beginn einerSaison eine solcheVorgabe
von einer Klubführung erhalten hat.Viele hal-
ten Lucien Favre für den talentiertesten
Schweizer Trainer überhaupt, aber eben auch
für einen, der immer liebervor denGegnern
warnt, als je ein unbedachtes Wort zuviel zu
sagen. DieÜbervorsicht ist einTeil seinerPer-
sönl ichkeit. Und jetzt hatFavre soviel Erfolgs-
druckwie noch nie. Und allefragen sich: Kann
er damit umgehen? Eine so gute Mannschaft
wie jetzt hatte er noch nie, das sagt er selber.
Und allzuviel Zeit hat er mit 61Jahrenver-
mutlich nicht mehr, um der internationale Er-
folgstrainer zuwerden, denviele in ihm se-
hen. Es wäre in dieserSchicksalssaison der
Moment für seinen Karrierehöhepunkt. Die-
ser soll imAuslandgelingen, wo er seit zwölf
Jahren ist. «In einemSchweizer Klubwerde
ich sicher nie mehr Trainer», sagt er.

Mehr Punkte als Hitzfeld und Klopp
Favre lehnt sich imSessel zurück und sagt:
«Ich kann dieVorgabe Dortmundsverstehen,
sie istkein Problem für mich, ich habe mein
Okaygegeben.» Er habe bloss am Anfang sei-
ner Zeit inDortmund um etwasGeduldgebe-
ten, aber dann habe auch er erklärt, um den
Titel spielen zuwollen, «ich habe das selber
gesagt». Niemand musste ihn überreden.
Für Favre ist allesTeil eines grösseren Mas-
terplans. Und eigentlich läuft bis jetzt ja auch
alles tatsächlich sowie imSommervor einem
Jahr besprochen, als erBVB-Trainerwurde.
Für den Klub und für ihn selber.Dortmund
spielte letzteSaison die drittbesteSaison der
Vereinsgeschichte, undFavre gewann im
Durchschnitt mehr Punkte als alleVorgänger,
mehr als Ottmar Hitzfeld, mehr als Matthias
Sammer, mehr alsJürgen Klopp auch. Statis-
tisch warFavre in seiner Karriere nie besser

IMAGO

Statistisch nie
besser alszuletzt:
LucienFavre.(Bad
Ragaz,28. Juli 2019)

als zuletzt.Jetzt muss er noch besserwerden.
Denn Hitzfeld,Sammer und Kloppwurden
mit DortmundMeister. Aber auchFavres ers-
te Saison mit demBVB war mit dem zweiten
Platz eine Erfolgsgeschichte, weil im letzten
Sommer niemand imVerein auch nur im
Traum an denMeistertitel gedacht hatte.
Erst im Nachhinein musste sichFavre weh-
ren, als dieser zweite Rang in einen Misserfolg
umgedeutetwerden sollte,weil Dortmund
einen so grossenVorsprung auf dieBayern
verspielt undFavre nach einer Niederlage
gegen Schalke denFehler begangen ha tte, die
Meisterschaft zufrüh verloren zugeben.
Irgendwannwurde der Druck auf den Trainer
so absurd gross, dass sich der Sportchef
Michael Zorcgenötigt sah, offiziell zuverkün-
den, dass man mitFavre sicher in die nächste
Saisongehen werde. Als ob etwas anderes je
ein Themagewesen wäre. «Es intere ssiert
mich nicht, was damalsgeschriebenwurde»,
sagt Favre. Sein Vertragwurde im Juni um ein
Jahr verlängert. Er läuft jetzt bis 2021.Der
letzteDortmunder Trainer, dessenVertrag
verlängert worden war, warJürgen Klopp, da-
mals um zweiJahre. Favre sagt: «Es bedeutet,
dassDortmund mirvertraut. Daswusste ich
schon, dafür brauchte es d ie Verlängerung
nicht. Aber es ist schön. Und ichwill auch gar

nicht mehr fünfJahre. Ich habe das nichtgern,
ein Jahr genügt.Sonst fühle ich michwie in
einemGefängnis.» Mankönnte ihm das nun
wieder als Indiz für seine Bindungsängste aus-
legen,weil er Klubs schonfluchtartigverlas-
sen hat,wenn er sich nicht mehrwohl fühlte,
in Mönchengladbach war das zumBeispiel so.
AberFavre ist auch ein Trainer, der oft unge-
wöhnlich lange an einem Ort bleibt, im Kar-
rieredurchschnitt sind esfast dreiJahre.

130 Millionen fürneueSpieler
Dortmund hat in diesem Sommer rund
130 Millionen Euro für neue Spieler ausge-
geben, für MatsHummelsvom FC Bayern zum
Bespiel. Das lässt die Erwartungen weit er
wachsen.Ausserdem hat derBVB alle seine
Vorbereitungsspielegewonnen, eines 6:0
gegen denFC Zürich. Und danach sagteFavre
doch tatsächlich, diese Partie sei okaygewe-
sen, «aberwir müssen nochviel besserwer-
den».Für denFCZ musste sich das unschön
anhören, auchwenn er an diesemTag nicht
mit der besten Mannschaftgespielt hatte.
Favre hat immer einen ästhetischen An-
spruch an seine Mannschaften. Dabeivergisst
man manchmal,wie gut seineTeams oft auch
verteidigt haben,gerade inBerlin oder auch in
Mönchengladbach.Vielleicht ist esgenau das,

In den USA assen die
Spieler Hamburger. Der
alte Favre hätte nur den
Kopf geschüttelt. Der
neueFavre gab seine
Erlaubnis.

was denDortmundern zuletztgefehlt hat.
«Wir haben in der letztenSaisonattraktiv und
sehr offensivgespielt», sagtFavre, «aberwir
müssen defensivFortschritte machen.Wenn
du Titel gewinnenwillst, musst du amwenigs-
ten Tore kassieren.»Auch dafür hat derBVB
den Verteidiger MatsHummelsverpflichtet.
SebastianKehl sagt: «Hummels ist einBau-
stein, der uns letzteSaisongefehlt hat.»
Favre wirkt in diesenTagen socharmant
wie immer, abervielleicht ist er etwasweniger
gehetzt und entspannter als auch schon. Dazu
passt auch dieseGeschichte aus demTrai-
ningslager in denUSA, wo der BVB si ch imJuli
auf dieSaisonvorbereitet ha tte. In einemFast-
Food-Laden assendie Spieler fröhlich Ham-
burger undPommes und tranken dazu Shakes.
Der alteFavre hätte nur denKopf geschüttelt.
Der neueFavre gab seine Erlaubnis.

Meister,


Nothelfer,


Trainer


des


Jahres


Stationen einer Karriere


AlsRückkehrer in Genf.

KEYSTONE

Als Erfolgstrainer in Zürich.

FOTO-NET

Als Internationaler inBerlin.

FOTO-NET

Als Retter in Mönchengladbach.

KEY STONE

AlsBalotelli-Bändiger in Nizza.

IMAGO

2001 : Cup-Sieger und Uefa-Cup-
Achtelfinal.

20 05: Cup-Sieger. 20 06:Meis-
ter. 20 07 : Meister.

20 09:Vierter Rang in der
Bundesliga.

20 15: Dritter Rang. Teilnahme
an der Champions League.

20 17: Dritter Rang. Play-offszur
Champions League.

Als LucienFavre im Jahr 2000
Trainer bei Servette wird, istes
auch eine Rückkehr für ihn.Mit
den Genfern ist er als Spieler 1985
Meister ge worden. Mit einem
3:0-Auswärtssieg bei Hertha BSC
stösst Servette 2001 in den Ach-
telfinal des Uefa-Cupsvor. Der
BerlinerManager Dieter Hoeness
vergisst das Spiel nie undver-
pflichtet Favre im Jahr2007.

2003 wechselt Favre zum FC
Zürich.Beim FCZ erlebt er als
Trainer den13. Mai2006, als die
Zürcher in der letzten RundeBasel
bezwingen und Meister werden.
Im Mai2007 wird er zumzweiten
Mal inFolge zum Schweizer Trai-
ner des Jahres gewählt. Gygax,
Dzemaili, Margairaz,von Bergen
und Inlerwerden in der Zeit unter
Favre Nationalspieler.

Unter einigen Misstönen geht
Favre 2007 vom FC Zürich zu
HerthaBerlin. Die Saison 2008 /09
ist er folgreich. Aber nach einem
schlechten Start2009/10 mit
sechs Niederlagen inFolge und
dem letzten Tabellenplatz wird
Favre im September2009 frei-
gestellt. Er gibt daraufhinzwei
Pressekonferenzen und äussert
sich negativ über denVerein.

2011 rettet Favre Borussia Mön-
chengladbach ausfast aussi chts-
loser Situationvor dem Abstieg.
Mit einer nahezuunveränderten
Mannschaft wird erfolgende
Saison Vierter. 2014 /15 spielt
Mönchengladbach in der Grup-
penphase der Europa League.
Nachsechs Niederlagen zum Sai-
sonstart tritt Favre am20.Sep-
tember2015 zurück.

Von 2016 bis2018 trainiertFavre
in Nizza und trifft dort auf den
Stürmer MarioBalotelli. In Favres
erster Saisonscheidet Nizza nach
zwei Siegen bei vier Niederlagen
in der Gruppenphase der Europa
Leagueaus. Schon im Sommer
2017 will ihn Dortmundverpflich-
ten. Im Mai2018 kündigtFavre
seine Trennungvon Niz za an. Er
wechselt zumBVB.(fcl.)
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