Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4. August 2019
Sport

SAMUEL GOLAY/ KEYSTONE

«Wundervollbracht»: Luganos Mehrheitsaktionär und Präsident Angelo Renzetti (l.) und TrainerFabio Celestini.

Beiden


Mutigen


imCornaredo


Was haben einruss ischer Unternehmer,


ein emotionaler Klub-Präsident und


ein idealistischer Trainer gemeinsam? Die


Ambition, mitdem FCLugano Grosses


zu erreichen.Von MicheleCoviello


A


ngeloRenzetti schiebt dieLese-
brille zurück auf die Stirn und
schluckt leer. Er ist gerührt. Es
istFreitagmorgen auf derTer-
rasse derResidenceVillaSassa,
woderArchitekt undPräsident
desFCLugano unter derWochewohnt. Tisch-
tuch und Stühle sind nochfeuchtvom nächt-
lichenGewitter, doch dieSonne glitzert be-
reits wieder unten auf dem Luganersee.Auf
dem Smartphone hatRenzetti ebengerade
einenFacebook-Post seinesSohnes Lucage-
sucht undgelesen. Als Lugano am 25.Mai mit
Rang 3 die Qualifikation zur EuropaLeague
schaffte, schrieb dieser einLob auf denVater.
Sinngemäss:Ich bin stolz auf dich, Papà. «Das
brachte mich zumWeinen», sagtRenzetti. Er
ist auch jetzt nahe dran.
Es sind aufwühlendeJahre, dieRenzetti
hinter sich hat, und sie lassen sich an seinem
Körper ablesen. Erwirkt müde an diesem
Morgen. «Langemöchte ich den Klub nicht
weiter führen», sagt er, «ich habeMühe, auch
psychisch.» DieVerantwortung sei gross. Die
Kosten sind es ebenso. Und er istkeiner, der
sich mitwenig zufrieden gibt. «Lieber einTag
alsLöweals hundert alsSchaf», sage er sich.
Wenn er etwas in Angriff nehme, dann richtig.
Diese Einstellung hat ihn alsBauunterneh-
mer erfolgreichgemacht. Und inzwischen
darf man sagen: auch alsPräsidenten. «Mit
unseren Mitteln habenwir eigentlichWunder
vollbracht», sagt er. In neunJahren Amtszeit
summieren sich einAufstieg, ein Cup-Final,
zweimal Rang 3 und damit zweiTeilnahmen
an der Europa-League-Gruppenphase. Diese
fünfteSaison inSerie in der SuperLeague
nimmt Lugano schon längst nicht mehr als
Abstiegskandidat in Angriff, sondern als
ernstzunehmender Habitué der Liga.
Eswird zwar erst die dritte Rundegespielt.
Aber an diesemSonntag duellieren sich die
Tessiner inBern mit demMeister YB um die
Tabellenführung – und daskeineswegs als
deutlicheAussenseiter. In den letzten16 Par-
tien hat Lugano nur einmalverloren. Und in
dieseSaison startet dasTeam einmal mehr
stärker besetzt, mit noch besserenFüssen und
offensivwieder ein Stückgefährlicher ausge-
richtet. Renzetti hat einen Riecher fürTechni-
ker auf dem Platz und für Draufgänger auf der
Bank.Seine Mannschaften hat er eigentlich
nur Trainern mit Flair für den Angriff anver-
traut.Sein gegenwärtiger istFabio Celestini,
der in Lugano seitvergangenemHerbst auf-
blüht. InLausanne hatte man ihm das Etikett
desKonter-Coachs angeheftet, der nichtver-
teidigen lassen kann. Im Cornaredo beweist
er, dass seinTeam einen Angriff auchvom
eigenenGoalie her starten kann und dieser gar
nicht so oft hinter die Linie greifen muss.
Aber das hat auch mit einem ausgespro-
chen guten Kader zu tun, das seinenPreis hat.

Seit dem Aufstiegvon 2015 hat sich das eins-
tige Challenge-League-Budget mehr alsver-
doppelt und beträgt inzwischenrund 13 Mil-
lionenFranken.Renzetti hatviele Sponsoren
aufgetrieben, die Europacup-Gelder helfen
ihm. «Mein eigenes Risiko ist aber enorm»,
sagt er. Nicht jedeSaison führt ins internatio-
naleGeschäft, nicht jede Transferphase bringt
einen Millionengewinn. Oft mussRenzetti
selbstRechnungen decken.

Viele Fans, wenige Zuschauer
Denn imTessin ist derCalcio zwar ein täg-
lichesGesprächsthema, dieCamerierireden
Renzetti als «Presidente» an, zweiTages-
zeitungen schreiben über die Luganesi, der
öffentlichrechtlicheSenderRSI verfolgt sie
eng,Teleticino strahltwöchentlich einenTalk
aus. Die Zuschauerzahlen im Cornaredo sind
aber trotz Erfolg und Sichtbarkeit bei einem
Schnitt von rund 4000 pro Partie tiefgeblie-
ben. «Es liegt am Charakter desTessiners,
eher die Mängel zu sehen», sagtRenzetti.Der
Fussball hat sein Publikum enttäuscht.
Lugano,Bellinzona undLocarno erlebten
Konkurse,HeliosJermini, einVorgänger Ren-
zettis, ertränkte sich und seineGeldsorgen im
See. «Wir sprechen hier zwarviel überFuss-
ball, aber nach allem, was passiert ist,fehlt

denLeuten derMut», sagtRenzetti. Die
Schweiz biete eine derart solideBasis, da sei
mit einwenigMut doch einiges zu erreichen.
Renzetti hat es beruflich und im Sport als
Sohnitalienischer Einwanderer bewiesen. Er
plant schon ein neuesProjekt, umGeldgeber
aus demTessin anzufixen. Und auchwenn er
immerwiedervom bevorstehenden Abschied
redet,würde er sich am liebsten nur dem Klub
widmen. «Aber ich muss zuerst arbeiten, um
Geld fürdenFussball zugenerieren», sagt er.
Bald darauf steigt er in seinen Smart und muss
zu einemGeschäftstermin brausen.
Vor wenigenWochen wäre die ÄraRenzetti
fast zu Endegegangen. Sein Partner imVer-
waltungsrat hätte vom Minderheits- zum
Mehrheitsaktionär aufsteigenkönnen. Aber
Leonid Nowoselskiverzichtete. Nun steht der
russische Unternehmer in lilaMokassins und
blauen Shortsvor seinemAuto und hält die
Türe auf.Der 49-Jährige setzt sich neben sei-
nen Chauffeur auf den hellenLedersitz, blickt
nach hinten undredet mit je einem Handy in
jeder Hand begeistert über einJugendturnier,
das dieserTageim Cornaredo stattfindet.Bei
sibirischen16,5 Grad, Klimaanlage sei Dank,
erzählt er, dass auchwichtige Klubswie Liver-
pool ihre U-16-Teams nach Luganogeschickt
hätten. Er unterstreicht aber auch, dass
Jugendliche mitBehinderung ins Turnier
integriertwürden.
Es ist eineFacette desreichen Business-
man, die selten durchdrang. Undvielleicht
war es dasBeste für sein Image, dass er im
Juni nicht zum Kluboberhauptgeworden ist.
Alles hätte das Bild desZaren bestätigt, das
man in ihm sehenkonnte. Nowoselski ist seit
dreiJahrenPräsident der Nachwuchsabtei-
lung undverkörpert, wasRenzetti mitMut

meint.Kurz nach demVerfall derSowjetunion
gründete er als 21-Jähriger mitFreunden ein
Unternehmen, dasSchönheitspflegeprodukte
vertrieb.Heute produziert die Moskauer
Firma mit 6000 Angestellten und einemJah-
resumsatzvon 700 Millionen Euro eigene
Kosmetika – mit Nowoselski alsVorsitzen-
dem. ZumFCLuganogeriet erwegen seines
Sohnes.Seit 2010 lebenFrau und Kinder am
Luganersee, und der eine Bub spielt im Nach-
wuchs. Also habe er helfenwollen, das Niveau
anzuheben, sagte Nowoselski einst.

Mit Coaches aus Belgien
Inzwischenwill er im Cornaredo eineTalent-
schmiedevon internationalemRenommee
einrichten und stiftet dafür jährlich eine Mil-
lionFranken.Doch er erntet auch Kritik. Die
Lugano-Akademie krempelt er zielstrebig um,
lässt monatlich Coaches ausBelgien zur Trai-
ner-Weiterbildung einfliegen, liessTalente
zahlreich ausItalienrekrutieren.Vor einem
Café in Lugano Paradiso erklärt er dies alsvor-
übergehende Massnahmen – um die örtlichen
Talente zufördern. Inzwischen sei dieZahl an
Kindern aus Lugano bereitswiedergestiegen.
AlsRenzetti in dervergangenenSaison
einen Engpass erlebte, stieg Nowoselski ein,
mit Kaufoption fürs ganze Paket. Es gabAuf-
ruhr.Vielen kam das alleswie einDéjà-vuvor:
Ein ausländischer Investor mit hochtraben-
den Zielen krallt sich einen Klub und richtet
ihn innertKürze zugrunde. Aber Nowoselski
bewiesVernunft. Kapital für einen Kauf hätte
er gehabt. Er sagt aber: «Kaufenreicht nicht.»
Er wollte nicht bloss die 1. Mannschaft finan-
zieren und den Nachwuchs aufs Spiel setzen.
Die Akademiegehört für ihn ins Zentrum
eines Langzeitprojekts. Nur mit starkem
Nachwuchskönne der Klub bestehen. Erver-
suchte, ein Budgetvon 50 MillionenFranken
zu sichern, undwollte denBetrieb aufzehn
Jahre hinaus garantieren. Esgelang ihm nicht.
Nun setzt er sichweiter für den Nachwuchs
ein, trotz Misstrauen. Und trotz einer mut-
losen Haltung im Kanton, einer ganz ähn-
lichen,wie sieRenzetti beschreibt.Weil die
Region klein sei,werde es als normal erachtet,
dass eswenigeFussballtalentegebe, sagt
Nowoselski. «Aber es hat dochviel eher damit
zu tun,wie vieleJugendliche man in den
Sport involviert,wie die Qualität ihrerAusbil-
dung ist», sagt er.Deshalb hat er auch mehrere
Projekte im Breitenfussball und in Zusam-
menarbeit mitSchulen lanciert.«Wennwir
gut arbeiten, dann kann dasTessin ein Zen-
trum fürexzellenten Fussballwerden. Nie-
mand garantiert das. Aber probieren müssen
wir es. Es funktioniert in Kroatien, inBelgien,
in Island.Wieso nicht in derSchweiz, imTes-
si n?» Der Chauffeur hat inzwischen denWa-
gen vorgefahren und heruntergekühlt. Die
nächsteJuniorenpartie wartet schon.

PABLO GIANINAZZI

/ TI-PRESS

«Wiesonicht in der Schweiz, im Tessin?»: Minderheitsaktionär Leonid Nowoselski.

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In so vielen Spielen
hat der FC Lugano
zuletzt saisonüber-
greifend nur einmal
verloren. Heute
Sonntag gegen YB
kann er Tabellen-
platz 1verteidigen.

13


Auf so viele Millio-
nen Franken beläuft
sich das Klubbud-
get. Vor fünf Jahren
war es nochweniger
als die Hälfte.

1


Jährlichzahlt der
Russe Leonid Nowo-
selski eine Million
Franken an den
Nachwuchs des FC
Lugano, dener zur
Kaderschmiede
machen will.

LuganosZahlen


Vor wenigen Wochen
wäre die Ära Renzetti
fast zu Ende gegangen.
SeinPartner im
Verwaltungsrat hätte
aufsteigen können.
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