Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1
NZZ am Sonntag4. August 2019
Sport 37

Die Sportwoche


«Seienwir froh, ist noch nicht alles perfekt»,
sagte derSchweizerFussballerChristian
Schneuwlyvor anderthalbWochen. Er hatte
den FC Luzerngerade zum 1:0-Heimsieg
gegen einTeam von denFäröern geschossen.
«Wir leben nicht in diesem Phantasieland,
in dem du einfach bekommst, was immer du
willst», sagte der deutscheFussballtrainer
Jürgen Kloppvor einerWoche.Vier Vereinen
auf derWelt sei es offensichtlich möglich,
sich stets zu leisten, was quasi diePerfektion
begehrt:Real Madrid,Barcelona, Manchester
City, ParisSaint-Germain. Klopp stand
geradevor einemTestspiel mit Liverpool.
«Wenn man oftgewinnt, wird das Gewin-
nen zu einer ArtGewohnheit. Das hatte ich
die letztenMonate nicht, dasVertrauen war
nicht da», sagte der deutscheTennisspieler
Cedrik-Marcel StebeAnfang dieserWoche in
der «Süddeutschen Zeitung». Er befand sich
gerade am Flughafen für dieWeiterreise ans
nächste Turnier inMexiko. Am Turnier in

Robertsonfür den Sparpreisvon 9Millio-
nen. Hingegen verkaufte LiverpoolPhilippe
Coutinho,was denFC Barcelona, einen Klub,
der einfach bekommt, was immer erwill, 145
Millionenkostete. Eine Stange Geld.
Stebe kassierte inGstaad 48870 Euro.
Am vergangenen Mittwoch gabSchneuwly
bekannt, dass er denVertrag mit demFCL
auflöst. Er und der Klub hätten nicht mehr
die gleichen Zukunftsvorstellungen, hiess es.
Wer oder was istteurer: einFussballstar
oder eine perfektegemeinsame Zukunft?
Und am Dienstag schied Stebe inMexiko
in der erstenRunde aus. 2:6, 1:6, chancenlos.
Wie viel kostet einePrise Selbstvertrauen?
Undwie viel eine Stange Geld?
Wenn man oft fürviele Millionen einkauft,
wird es zu einerArt Gewohnheit.
Es gibt Stebe oderSchneuwly in derWelt
des Sports. Und es gibt solcheMenschen, die
nicht merken, dass sie selber längst in einem
Phantasieland leben.

Eine FragederPhantasie, oder:Waskostet eine Stange Geld?


Gstaad hatte er zuvor den Final erreicht, als
Weltnummer 455, nach22 Monaten ohne
Sieg auf höchster Stufe.
2016 wechselteSchneuwly fürrund
500 000Frankenvom FC Zürich zumFCL.
2018 verpflichtete LiverpoolAlisson
Beckerlaut transfermarkt.ch für über 60
Millionen Euro, zweiweit ere Spieler für 60
und 45 Millionen undXherdan Shaqirifür
den Spottpreisvon 15 Millionen.
Stebe hatte für dieReise nachMexiko vier-
mal umgebucht, «das hat eine Stange Geld
gekostet, aber das macht mangerne, wenn
man soweitkommt».Der Final inGstaad
fand amSonntag statt, eigentlich hatte Stebe
den Flug schon für zweiTage vorhergeplant.
Das Vertrauen war nicht dagewesen.
2015 wechselteSchneuwly fürrund
100 000Frankenvom FC Thun zumFCZ.
2017 verpflichtete LiverpoolVirgil van
Dijkfür über80 Mill ionen Euro, zweiweit ere
Spieler für 42 und 38 Millionen undAndrew

Von BenjaminSteffen


«Ich wusste: DieLeute
stehen voll hinter
mir. Siewollten mich
haben,wollten
unbedingt mit mir
zusammenarbeiten.»

Blickt wiederzu-
versichtlich in die
Zukunft: Tom Lüthi.

VINCEN

T GUIGNET

/ FRESH

FOCUS

InderKönigsklasseMotoGPmusste RennfahrerTomLüthi2018untendurch.ErarbeitetedenAlbtraummit


einemSportpsychologenaufundbeschlos s, unabhängigerzuwerden.MitErfolg.Von Fr iede mann Kirn


R


egenschauer machten das Trai-
ning zumTöff-GP in Brünn zum
Reifenpoker,weshalb sichTom
Lüthi auf Startplatz 12 ein-
reihte. Trotzdem hat er alle
Chancen, imRennen heute
Sonntag(Start 12.20 Uhr)vorne mitzukämp-
fen. Auch die Titelentscheidung derMoto2-
Klasse ist bei nur acht WM-PunktenRück-
stand nochvöllig offen.Von solchenPer-
spektiven konnte der Emmentaler imver-
gangenen Sommer nur träumen. DieHonda-
Werksmaschine entpuppte sich als schwer
beherrschbar, doch dringend benötigteTests
fielen aus,weil dasTeam schonfrüh Zerfalls-
erscheinungen zeigte.Selbst das beschei-
deneSaisonziel, einmal einen WM-Punkt zu
holen, blieb unerreichbar.Der Traum, in der
Königsklasse anzutreten,wurde zum Alb-
traum. «EndeJuni am GP in Assen war der
Tiefpunkt. Die Situation warfast ausweglos»,
sagt Lüthis Manager Daniel Epp.
Doch der Tiefpunktwurde zum Neu-
anfang. «DieKombinationvon Dingen, die
nicht in Ordnung waren, hatTom schon rich-
tig runtergehauen.Wir haben uns bewusst
gemacht, dass das nie mehr passieren darf.
Auch wenn es sportlich nicht gut läuft,
dürfen dieWellen nicht auf dieseWeise über
ihm zusammenschlagen», sagt Epp. Lüthi
und er beschlossen, sich ganz neu aufzustel-
len und für die Zukunft einTeam imTeam zu
bilden, das Lüthi invielenBereichen unab-
hängiger machenwürde.

Der Abstieg war un vermeidbar
Zunächstwurde ein neuerRennstallgesucht.
Ein Verbleib in derMotoGP war unrealis-
tisch. Zu dürftig waren dieResultate, zu hoch
die Kosten, sich in einTeam einzukaufen.
Die probate Lösung war dieRückkehr in die
preiswertereMoto2-Klasse, in der Lüthi
schonvon 2010 bis 2017 antrat. Dass dort
von betagtenHonda-Vierzylinder-Einheits-
motoren auf moderne Dreizylinder-Trieb-
werke von Triumph umgerüstet wurde,
machte den Abstiegverlockender.Mehr
Hubraum, mehrLeistung, mehr Durchzug
hiess dieDevise. «Der Umstieg auf Triumph
war ein klarerVorteil. Es war eineHeraus-
forderung, die ich packenwollte», sagt Lüthi.
Passend dazu bot sich im Dynavolt-Intact-
Team ein Platz an. Grundsolide finanziert,
seriös und mit erstklassigenTechnikern aus-
gestattet, entsprach der deutscheRennstall
ganz derSchweizerMentalität. «EinTop-
team. Und ichwusste: DieLeute stehenvoll
hinter mir. Siewollten mich haben,wollten
unbedingt mit mir zusammenarbeiten. Auch
das hat mirgeholfen», sagt Lüthi.Genau vor
einemJahr, am Brünn-GP 2018, stellte Dyna-
volt-Intact-TeamchefJürgen Lingg denKon-
takt zu AlvaroMolina her.Der 43-jährige
Spanier, selbst langjähriger GP-Fahrer,
wurde zu Lüthis persönlichem Riding-
Coach, einJob, der in derMotoGP-Klasse bei
allenTeams gang und gäbe ist.

ImDuellmitsichselbst


Besonderswertvollwurden Molinas Rat-
schläge, als zuJahresbeginn 2019 die ersten
Tests mit der brandneuenMoto2-Maschine
anstanden.«Wenn duvon einerMotoGP-
Maschine mit 280 PS auf einMoto2-Bike mit
140 PS umsteigst, musst du auch deinen
Fahrstil anpassen, mit anderen Linien und
mehrKurvenspeed», sagt Lüthi. «Anviele
Dinge musst du dich erstwiedergewöhnen.
Ein Beispiel ist der Umgang mit der Hinter-
radbremse. In derMotoGP-Klasse benutzt du
sie ständig, schon allein, um das Bike um die
Kurve zu zwingen. Das hatte ich am Anfang
noch drin, beim erstenMoto2-Test waren die
Bremsbeläge nach einemTag verschlissen.
Früher bin ich die halbeSaison mit den glei-
chenBelägengefahren.»
Molina geht sehr analytischvor, präsen-
tiertVideos, tauscht sich mit denTechnikern
aus undkonzentriert seinAugenmerk ganz
darauf, was Lüthifahrerisch und taktisch
verbessern kann.Für das seelischeWohl-
befinden, den klarenKopf, ist Sportpsycho-
logeJörg Wetzel zuständig. «Ichwollte verar-

beiten, was schiefgegangen war in der
MotoGP. Ich wollte verstehen, aus diesem
Verständnis lernen und mitnehmen, was
man besser machen oder ändern kann», sagt
Lüthi. Bis EndeJanuarwidmeten sich Lüthi
und Wetzel derAufarbeitung. «Dannzogen
wir einen Strich und sagten: Es ist absolut
vorbei,wir schauen nur noch nachvorne.»

Der WM-Titel ist ein Thema
Jetzt, nach einem Sieg und insgesamtvier
Podestplätzen in neunRennen,wirkt Lüthi
mental stärker denn je und hat auch auf die
brennendstenFragen die passende Antwort.
ZumBeispiel auf die nach dem WM-Rivalen
Alex Márquez, der zuletztvier von fünf
Rennengewann. «Alex ist schlagbar, das
habenwir schon Anfang derSaisongezeigt»,
sagt Lüthi. «Doch derFokus liegt nicht bei
ihm.Wir müssen uns auf unskonzentrie-
ren.» Den eigenen Speed zuverbessern, ohne
in die Nachbarbox zu schielen, ist auch für
Manager Epp dasMotto. «Wir holen immer
noch nicht das Maximum heraus aus der

Maschine. Esgeht um die letzte Zehntel-
sekunde, den letztenMeter. Wir duellieren
uns mit uns selbst.»
Die zweite heikle Frage ist die nach dem
WM-Titel, ein in derVergangenheit lästiges
Thema, das Lüthi mittlerweile jedochgelas-
sen sieht.«Wir sind inSchlagdistanz.
Logisch, dass dieMedienvom Ti tel spre-
chen, ganz klar.Auch ich muss in die Rich-
tung denken», räumt er ein. «Dochwenn ich
den Job mache auf demMotorrad, dann
denke ich nur daran, dasBeste herauszu-
holen, alles anderewegzuschieben und den
Fokus bei mir zu halten.»

Gemeinsam in eine neue Zukunft: Christian Schneuwly und Sohn.

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