Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

4


NZZamSonntag4. August 2019
International

ALGERIEN

LIBYEN

TSCHAD

MALI NIGER

MAROKKO

NIGERIA

MAURETANIEN

TUNESIEN

GAMBIA

SENEGAL
Agadez

Sabha

Sahara

Niamey
Ouagadougou

Bamako

Banjul BUFARKINASO

Tripolis

Migranten erzählen, dass
sie inSabhafestgehalten
undnur gegen Lösegeld
freigelassenwordenseien.
Manchewerdenverkauft.

DieVerhältnissein den
Lagern inTripolissind
schrecklich. Oft wird den
Insassen nichteinmal
regelmässig Essenverteilt.

Mindestenssoviele
Migranten sterbenbei
der Durchquerung der
Saharawiebei derFahrt
über das Mittelmeer.

Häufig benutzte Routevon Gambia Richtung Europa

Der Weg ins vermeintliche Glück


Kaum


Chancen


aufArbeit


Gambia


In Gambia istgelungen, was auf
dem afrikanischenKontinent
nicht selbstverständlich ist:
erfolgreiches Krisenmanage-
ment. Als der Oppositionspoliti-
ker Adama Barrow Ende 2016 die
Präsidentschaftswahlengewann,
wollte der langjährige autokrati-
sche HerrscherYahya Jammeh
den Wahlsieg nicht anerkennen.
Er ha tte wohl nicht damit
gerechnet, dass jemand anderes
gewinnenkönnte als er selbst. Es
droh te ein Bürgerkrieg.Doch die
Staaten derWestafrikanischen
Wirtschaftsgemeinschaft
Ecowas griffen ein, liessen Trup-
pen an der Grenze aufmarschie-
ren und machten mit einer
Mischung aus Krisendiplomatie
und militärischem Drohszenario
einenÜbergang zurDemokratie
möglich.Dennoch haben sich
die Lebensverhältnisse kaum
verändert.Mehr als zweiJahr-

zehnte Diktatur haben das kleine
Land an derwestafrikanischen
Küste derart heruntergewirt-
schaftet, dass eineverbesserte
Wirtschaftslage inweit er Ferne
liegt.Rund die Hälfte der 15- bis
24-Jährigen ist arbeitslos, auf
dem Land sind es sogar über
70 Prozent. Die Abwanderung in
die urbanen Zentren ist deshalb
enorm hoch.
Die Landwirtschaft ist so
ineffizient, dass Gambia sich
nicht einmal annähernd selbst
mit Nahrungsmitteln versorgen
kann. Angebaut werd en neben
Getreidevor allem Erdnüsse, die
allerdings nichtweit erverarbei-
tet werd en und deshalb nur
geringen Gewi nn abwerfen.
ModerneBewässerungsmetho-
den sind nichtverbrei tet. Man
verlässt sich ausschliesslich auf
die Regensaison. Nach einem
Bericht der gambischenRegie-

rung hat es ausserdem in den
vergangenen Jahren Ernteein-
brüchevon 20 bis 40Prozent
gege ben, die auf den Klima-
wandel zurückzuführen sind.
Das englischsprachige Gambia
mit seinem tropischen Klima
und denAtlantikstränden ist
zwarvor allem bei Briten als
Wint erreiseziel beliebt.Der Tou-
rismus im muslimischenLand
mit sehr liberalerAusprägung
und ohne grösseren Einflussvon
Extremisten ist allerdings zu
klein undgeneriert zuwenig
Investitionen, um denBedarf an
Arbeitsplätzen undwirtschaft-
licher Entwicklung zu decken.
Trotz der neuenRegierung hat
der Migrationsdruck deshalb
kaum nachgelassen. Gambia
zählt nur zwei Millionen Einwoh-
ner, gehört aber zu denTop Ten
der Herkunftsstaaten von Flücht-
lingen auf der Mittelmeerroute.

Werbleibt,


giltalsVersager


InGambiaversuchenRückkehrerihreLandsleutedavonabzuhalten,


nachEuropaaufzubrechen.SieberichtenvonTod,ElendundSklaverei.


Manchelassensi chüberzeugen.DochderDruck,auszuwandern,


bleibt.VonSaikouSuwarehJabaiundSilkeMertins, Banj ul


A


n den abgenutztenHolztischen der
Grundschule sitzen normalerweise
Kinder.Doch an diesemSamstag-
morgen sind es junge Männer und
Frauen, die sich auf den schmalenBänken im
Dorf Kuntair niedergelassen haben. Es ist
noch nichtzehn Uhr, aber schon heiss und
stickig.DerWindweht Staubindasvorvielen
Jahren einmal gelb gestrichene Klassen-
zimmer.DiejungenGambiersindgekommen,
um BiranJeng zuzuhören.Auch er hatte ein-
mal den Traum, den alle hier im Raum immer
nochhaben:inEuropaeinneuesLebenanzu-
fangen, Geld zu verdienen und derFamilie zu
Hause ein besseresLeben zu ermöglichen.
Jengwill sie davon abbringen – mit seiner
eigenenGeschichte. «Ichwerd e dafür nicht
bezahlt, ich mache es,weil andere nicht das
erlebensollten,wasichdurchgemachthabe.»
Er spricht leise,fast emotionslos, ein erns-
ter Mannvon 30Jahren, der nicht lächelt,
nicht abschweift und gar nicht erstversucht,
denEindruckzuerwecken,esseiallesnichtso
schlimmgewe sen auf demWeg ans Mittel-
meer.Seine blau-weisse Mütze hat er bis über
die Augenbrauengezogen. Über demT-Shirt
trägt er eine graue Sportjacke, alswürde ihm
kalt, wenn er an das denkt, was er gleich be-
richten will. Sein Aufbruch nach Europa fing
an wie dervieler anderer auch. Erverkaufte
die Ernte der Familie,Cashew-Nüsse, und
statt von dem Erlös denRest derSaison zu le-
ben,finanzierteerdenerstenTeilseinerReise
auf dem «BackWay». So nennen die Gambier
die Migrationsroute durch die Nachbarländer
und dieWüste Sahara bis an Libyens Küste.

Todesfalle Sahara
Überproportionalviele junge Leute aus dem
kleinen,von Senegal umschlossenenLand in
Westafrikamigrieren.Gambiagehörtsogarzu
den Top Ten der Herkunftsstaaten von
Migranten,dieüberdasMittelmeerEuropaer-
reichen.ObwohldasLandmitnurzweiMillio-
nen Einwohnern inzwischen die Diktatur
überwunden hat, ist über dieJahre einSog
entstanden. DieJuge nd, besonders Knaben
undjunge Männer,machtsichmassenhaftauf
den «BackWay», obwohl Chancen auf Asyl in
Europa kaum mehr bestehen.
Doch schon die Durchquerung derWüste
Sahara imLastwagen ist für die meisten ein
Schock. Angehaltenwird nicht.Fällt jemand

vor Durst, Erschöpfung oder Krankheitvon
der Ladefläche,wird er einfach liegengelas-
sen. Ein hochrangiger Diplomat der Europäi-
schenKommission schätzt, dass mindestens
so viele Migranten in derSahara sterbenwie
imMittelmeer.Undfürdiemeistenistdaserst
der Anfang.Jeng erzählt, dass seine Gruppe
später in der libyschen Hauptstadt Tripolis
schonvonMilizengeschnapptwird,bevorihr
Boot überhaupt richtig aufsMeer fährt. Sie
sperren die Migranten in ein Internierungs-
lager undverlangen Lösegeldvon denFami-
lien. Jeng s Eltern jedochkönnen nicht bezah-
len. EinJahr und dreiMonate vergehen.
«Dann kam einBauunternehmer insLager
und kaufte mich.»
Im Klassenzimmer ist es stillgeworden.
Erst langsam begreifen die Zuhörenden, dass
der Mann, den sievor sich haben,versklavt
und wie ein StückVieh gehandeltwurde, als
seidieZeitplötzlichumdreiJahrhundertezu-
rückgedreht in eines der dunkelsten Kapitel
der Menschheitsgeschichte. Jeng sagt, dass
dieseErfahrungihnsehrveränderthabe,dass
er heute ein andererMensch sei.
Als ervor seinem «Eigentümer»flieht und
wieder eingefangen wird, gerät er in ein noch
grausameresGefängnis: kaumWasser, zu
wenig Essen,keinerleiWaschmöglichkeit,
ständigePrügel, Nächte voller Albträume –
dereigenenundjenerderMitgefan genen.Wer
krankwird, stirbt.Jeng wird krank. Er stirbt
nur nicht,weil ein Mitgefan gener aus Nigeria
ihmhilft.SpätersageneinigeZuhörerimKlas-
senzimmer,dassgeradedieseGeschichte,die
Hilfsbereitschaft in einer Situation, in der alle
nur aufÜberleben programmiert sind, sie be-
sonders beeindruckt habe.
Viele auf denSchulbänken derKuntair
Basic CycleSchool sind ins Nachdenkenge-
kommen. Manche überlegen noch, anderen
istdieLustzumigrierengründlichvergangen.
«Ich wollte auch immer den ‹BackWay› neh-

men, hatte aber nie dasGeld, um dieReise zu
beginnen»,sagtAnsumanaSanneh,einjunger
Dorfbewohner.Für ihn sei Erfolg immer
gleichbedeutendmitMigrationgewe sen.Jetzt
sehe er das anders.

Imamruft zu r Polygamie auf
ZwarbrechennochimmerTausendegenNor-
denauf,docheswird auchvieldiskutiertüber
die Rückkehrer und ihre Erlebnisse. Biran
Jeng gehört der OrganisationYouth Against
IrregularMigrationan,dieinganzGambiamit
Juge ndlichen spricht. IhreBotschaft: Die
überwältigendeMehrheit schafft es nicht,
stirbt auf demWeg zum oder im Mittelmeer.
NachhorrendenBerichtenüberdieVersteige-
rung von Sklaven, die Angstvor dem Ertrin-
ken undvor Deportation sinkt dieZahl der
«BackWay»-Migranten,dochderSogistimmer
noch da.Wer bleibt, gilt alsVersager.
SulaymanMorong ist so einer. Er lebt in
Jarjari, einem kleinenDorf auf der Nordseite
des Flusses Gambia, das man über eine unbe-
festigte Strasse mitvielen Schlaglöchern er-
reicht.«ZuerstwollteichnachderSchuleauch
gehen, denn all meineFreundewollten weg,
sie redeten über nichts anderes als den ‹Back
Way›.» Doch er blieb.«Wer soll sich denn um
meinenVater kümmern,wenn es um Dinge
geht, die er nicht mehr selbst machen kann?»
Der Preis: Er hatkeine Freunde in seinem Al-
ter mehr.Fast diegesamte männlicheJuge nd
des Dorfes hat den «BackWay» genommen.
DieSituationistsodramatisch,dassderImam
die verbleibenden,vor allem älteren Männer
sogardazuaufgerufenhat,mehrereFrauenzu
heiraten. «Viele meinerFreunde schreiben
mir, dass sie es bereuen», sagtMorong. «Und
keiner von ihnen hat bis jetzt auch nur einen
Cent geschickt.»GleichamDorfeingangneben
einem grossen Mangobaum arbeitet Morong
nunalsLehrerinderDorfschuleundverdient
umgerechnet 90Franken imMonat. Um ihn
herumspringenMädchenundJungenin rosa-
rot kariertenSchuluniformen. «Ichwollte
etwas für dieGemeinschaft tun.»
EsklingtwieeineRechtfertigung,undviel-
leicht ist es auch sogemeint.Denn für seinen
Vater DembaMorong, denDorfvorsteher,
wird er t rotzdem nicht derjenige sein, der die
Familievoranbringt,ihrHoffnunggibtaufein
bisschenWohlstand.EristderJunge, dersich
nichtgetraut hat.

Die Durchquerungder
Wüste istfürdie meisten
einSc hock.Angehalten
wirdnicht.Fällt jemand
vonderLadefläche,wird
erli egengelassen.

DembaMorong ist eingrosser, kräftiger
Mann mit strenger Ausstrahlung. Er erwartet
vonseinenSöhnen,dasssieeinenBeitragleis-
tenzumFamilieneinkommen.Je 17 0Franken
hat er für den erstenTeil derReise seiner bei-
den anderenSöhne bezahlt. Einerwird ver-
misst, der andere aber hat es tatsächlich bis
nachItaliengeschafft,wo er allerdings in
einemLager sitze undkein Geld verdiene.
«Ich möchte, dass er arbeitet und derFamilie
hilft», sagt er mit grimmigem Blick.Demba
Morong hat drei Ehefrauen und insgesamt 22
Familienmitglieder zuversorgen. 500Fran-
ken im Monat wären seiner Ansicht nach gut.
Im Dorf jedoch hat die abwesendeJuge nd
bereitsWundengeschlagen.Wersollohnedie
jungen Männer die körperlich schweren
Arbeiten in derLandwirtschaft übernehmen?
Wer soll dieToten zu Grabe tragen?Familien
kommenauchnurschwerdamitzurecht,dass
sie nichtwissen,wo ihre Söhne oder Brüder
geblieben sind.Auf dem «BackWay» wird oft
namenlosgestorben.Junge Migranten ver-
schwinden in libyschenGefängnissen oder
Zwangsarbeitslagern.Undmanchetrauensich
auch einfach nicht nach Hause,weil so viele
Hoffnungen auf ihnenruhen und sie es nicht
geschafft haben.
«Viele, die zurückgeblieben sind, leiden an
psychischenProblemen,weilsienichtwissen,
ob ihreJungs in Libyen festsitzen oder im
Meer ertrunken sind», sagtBakary Jammeh

Rückkehrer


SovieleMigranten
sindzwischen
Januar 2017und
Juni2019mit
derInternationalen
Organisationfür
Migrationnach
Gambiazurück-
gekehr t.Allein
2018habenindes
38491Menschen
GambiaRichtung
Mittelmeerverlas-
sen.Lautdem
Flücht lingshilfs-
werkUNHCR
sind
GambierinEuropa
angekommen.

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