Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4. August 2019

Kopfsache Teilchenphysik


DerStreit übereinen


neuenBeschleuniger


am Cern eskaliert 43


WieunserGehirn auf


Berührungenvon


anderenreagiert 42


ALESSANDR


O DELL


A BELLA


/ KEYSTONE


Mit seinemBau näherten sich diezerstrittenen eidgenössischen Stände im 19. Jahrhundert an: Linthkanal bei Reichenburg.(9. 8. 2012)

Wie dasZähmen der


Natur Staatenschafft

Überschwemmungen,Bergst ürze,Lawinen:Der Kampfgegen die


Gefahrender Natur kann auchpolitische Gräben schliessen. Das


Bändigender Elementarkräfte hat moderneGesellschaften und


Nationengeprägt, besondersauchdie Schweiz.Von Valeria Heintges


E


s ist dasJahr 1932. Der Glar-
ner Hotelier undMetzger
Frit z Heer wendet sich an die
Behörden und bittet um
Unterstützung.Zwei
Sommer lang schon bleiben
die Touristen aus, sein
Betrieb in Linthal ist beinaheruiniert. Das
Hotel «Rabe» befindet sich in einem Kata-
strophengebiet, seit an den Mauern der
Lawi nenverbauung am Kilchenstock Risse
entdeckt wurden. Expertengehen davon
aus, dass derBerg in nächster Zeit insTal
rutschenkönnte und dasDorf nicht ausrei-
chendgesichert wäre.Seit den Bergstürzen
auf Goldau 1806 mit 457Toten und Elm
1881 mit 114 Opfernweiss jeder, dass das
fatal wäre.
Seit sich dieMeld ung verbrei tet hat,
bleiben dieHotelbetten leer, und imDorf
tummeln sich Experten,Journalisten und
Katastrophentouristen. Immerwieder
werd en die Linthaler aufgefordert, ihre
Häuser zu räumen und beiFreunden oder
in Notbaracken zu übernachten. Doch der
Berg stürzt nicht, bis heute nicht. Nur lang-
sam normalisiert sich nach zweiJahren
Ausnahmezustand dasLeben imDorf.
Hotelier Frit z Heer bekommt eine Entschä-
digungvon 2500Franken, die seineAus-
fälle nicht annähernd deckt. Die Naturkata-
strophe am Kilchenstock blieb aus. Aber
die eigentlicheVorsorge hatte durchaus
katastrophale Züge angenommen.
Aufgrund ihrerTopografie ist die
Schweiz mehr als andereLänder gezwun-
gen, sich mit denGefahren der Natur aus-
einanderzusetzen. Zuviele Flüsse, die über
die Ufer treten, zuviele Berge, die insTal
rutschen und auf denen sichLawi nen
bildenkönnen. Dazu Sturm und Hagel,
Feuer und Erdbeben.«Wer diesen Raum
besiedeln und kultivieren will, muss die
Natur sogestalten, dass sie lebenswert ist»,
sagt Nicolai Hannig.Der Historiker an der
Ludwig-Maximilians-Universität inMün-
chen hat untersucht,wie die Idee derVor-
sorge vor Naturkatastrophen moderne
Gesellschaftengeprägt hat.
Vorwiegend betrachtet HannigDeutsch-
land und dieSchweiz, mitAusflügen nach
Österreich und in die ganzeWelt. Den
SchwerpunktSchweiz begründet er auch
mit derTatsache, dass das Thema auf die
Politik desLandes Einflussgehabt habe:
Der Kampfgege n Katastrophen einte die
Bevölkerung, führte aber zuKompetenz-
gerangel zwischen Kantonen und Bund, die
im Umgang mit der Natur ihre Zuständig-
keiten voneinander abgrenzen.
Der Münchner Historiker unterteilt drei
Zeitfenster: Im19.Jahrhundert habe man
vor allemversucht, mit massiven Eingriffen
in die NaturGefahren zuverhindern. Um
1900 sei man dazu übergegangen, Gefah-
ren zu berechnen. Und im 20.Jahrhundert
arbeitete man daran, mitverstärktem
Natur- und Katastrophenschutz dieGefah-
ren zu mildern.
Der Ausbruch desVulkansLaki 1783 auf
Island lässtweltweit dieTemperaturen
stürzen; die Niederschläge steigen und
führen mittelfristig zu starkenÜber-
schwemmungen. Gleichzeitigwill sich der
Staat inPreussen und den Rheinbundstaa-
ten, aber auch in derSchweiz alsSouverän
und Schutzmacht etablieren. Dakommen
Projektewie die Rheinbegradigung oder
die Linthkorrekturwie gerufen. «Grössere
Wasserbauprojekte, die die Kantone im
Namen des Katastrophenschutzes, der
Landgewinnung undVerbesserung der
Schifffahrt initiieren, sorgen dafür, dass
sich diezerstrittenen eidgenössischen
Stände annähern», schreibt Hannig.
StarkePersönlichkeiten wie derSchwei-
zer Hans Conrad Escher treiben die «Rekti-
fikationen der Flüsse»,wie das damals
hiess, massgeblichvoran. Eschers Name ist
untrennbar mit der Linthkorrekturverbun-
den, derenVermarkter undBauleiter er war
und die Escher den Zunamen «von der
Linth» einbrachte.
Er managt dieGefahren- und Sicher-
heitspolitik und beherrscht dieRegeln des
Marketings. Immerwieder überzeugt
Escher diePolitik, viel Geld zu i nvestieren.
Dafürwirbt er auf allen Kanälen, sogar mit

FortsetzungSeite42

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