Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZ am Sonntag4. August 2019
Wissen

Fortsetzungvon Seite 41


WiedasZähmen...


Artikeln in Kinderzeitschriften.Zwar steht er
nicht selbst auf derBaustelle, liest sich aber
ein undvergibt dieAufträge per Outsour-
cing. Etwa, da Expertenwissen in der
Schweiz zu der Zeit rargesät war, anJohann
Gottfried Tulla, den badischen Ingenieur,
Hydrotechniker und spätere n Meister der
Rheinbegradigung. «An demKooperations-
projekt – Escher managt, Tulla baut – sieht
man,wie sichSchweizer und deutsche
Geschichte verbinden», stellt Hannigfest.

GeschäftfürVersicherungen
Doch bei der Linth bleibt es nicht.Wäre ein
Mensch aus dem18. Jahrhundert per Zeit-
reise im späten 19.Jahrhundertgelandet,
hätte er seinLand nicht mehrwiedererkannt.
Fast alle Flüsse zwang man in einem Gross-
angriff auf die Natur inteilweise schnur-
gerade Kanäle. «Eidgenossen imKorrek-
tionsfieber», schreibt Hannig.
Auch derBerner Umwelt- und Klimahisto-
riker Christian Pfister sieht die Linthbegradi-
gung alsSchrittmacher derModernisierung
und alsWegbereiter derSchweizerSolidar-
gemeinschaft. Daher auch seinAusdruck der
«Naturkatastrophe als Kriegsersatz»: als
Feind, gegen die sich die Nationverbündet.
Aber da sei nicht allesrosig gewesen, ent-
gegnet Nicolai Hannig. DiePraxis der Spen-
den und Hilfsabgaben, Liebesgabengenannt,
die als einSymbol derSolidargemeinschaft
gilt, habe immerwieder für Unmutgesorgt,
weil dasVerteilungsverfahren nichtgerecht
war. Und in manchenGebieten kann man
keine Hilfe anbieten,weil man schlicht nicht
hinkommt. Ist das betroffeneGebiet zudem
zu klein, umAufsehen zu erregen, gibt es gar

EinVorteilvon
Liebesbeziehungen:
Wenn uns jemand
berührt, reagiert
unser Gehirn
stärker, alswenn wir
uns selbst berühren.

Bitteeinmal


kräftig


kuscheln


Neurowissenschaftli che Tests


zeigen, wie unserGehirnauf


Berührungenreagiert – u nd


warum wir unsselbst nicht kitzeln


können.VonMartinAmrein


E


in Kratzen amRücken, ein Streichen
über den Arm.Wir berühren uns
selbst unzählige Male amTag –
und merken es nicht einmal. Spüren
wir aber die Handvon jemand anderem auf
unserer Haut, ist der Sinneseindruck
völlig verschieden.
Schon als Neugeborene beginnenwir zu
lernen,wie sichfremde und eigeneBerüh-
rungen anfühlen. «Diese Unterscheidung ist
für das spätere Leben enormwichtig», sagt
RebeccaBöhme. In ihrem Buch «Human
Touch» (C. H.Beck) erklärt die deutsche
Neurowissenschafterin dieBedeutungvon
Berührungen in unserem Alltag. «Eigene
Berührungen haben kaum jemals eine
besondereBedeutung für uns.Fasst uns aber
eine anderePerson an,will sie unsvielleicht
auf etwasWichtiges hinweisen.»
Doch wie ist es möglich, dass sich die
genau gleichenReize auf unserer Haut so
verschieden anfühlen?Böhme und ihreKol-
legenwollten es herausfinden und luden
über fünfzigVersuchspersonen zu einem
drei teiligen Streichelexperiment ein
(«PNAS»,Bd. 11 6, S. 2290). Zunächst muss-
ten sich dieProbanden in einenScanner

legen.So liessen sich dieGeschehnisse in
ihrenKöpfen mittels Magnetresonanztomo-
grafie (MRI) überwachen.
Sie erhielten denAuftrag, ihren linken
Arm auf denBauch zu legen und ihn mit
ihrerrechten Hand zu streicheln. Danach
berührte einForscher ihren Arm auf die
genau gleicheWeise. Mit unterschiedlichem
Effekt:Bei der eigenenBerührung waren die
Hirnfunktionen herunterreguliert.Bei der
Fremdberührung hingegen machten dieWis-
senschafter gleich in mehreren Hirnregionen
eine erhöhte Aktivität aus.
Messungen mit Elektroden beim zweiten
Teil desVersuchs machten anweit erenKör-
perstellen Abweichungen aus:Wenn die
Versuchspersonenvon jemand anderem

berührtwurden,flitztedasentsprechende
Signalgeradezu durch ihrRückenmark.Bei
der eigenenBerührung war es langsamer.
«Wir vermuten, dass dasGehirn irgendwie
dafür sorgt, dass die Neuronen desRücken-
marks das Signal derFremdberührung
schnellerweit erleiten», sagtBöhme.
ZumSchlusskonnten dieForscher auch
Unterschiede bei der Empfindlichkeit der
Hautfeststellen. Sie berührten die Arme der
Probanden mit unterschiedlich dicken
Kunststofffasern, während diese sich selber
streichelten odervon jemandemgestreichelt
wurden. Während derSelbstberührung war
die Sinnesempfindung deutlichgedämpft.
Von genau dieserWirkung machenwir wohl
unbewusstGebrauch,wenn wir uns den Arm
reiben, nachdemwir ihngegen den Tisch
geschlagen haben.
Die Resultate bestätigen dieVorstellung
von Hirnforschern, dass unserGehirnver-
sucht, die sensorischenFolgen unserer
Handlungen vorherzusagen und denKörper
daraufvorzubereiten. Das erklärt auch,
warumwir uns nicht selber kitzelnkönnen:
Das Signal, dasvon der entsprechendenKör-
perstelle stammt,wird gedrosselt.

Diese sensorische Abschwächungversagt
aber beiSchizophreniepatienten. Manche
von ihnen sind imstande, sich selbst zu kit-
zeln. Der Grund: IhreSelbstwahrnehmung
ist gestört, siekönnenweniger gut zwischen
sich selbst und anderen unterscheiden. Nicht
nur Berührungen, sondern auchHöreindrü-
cke sind davon betroffen. Dieverzerrten
Wahrnehmungen sindwomöglich sogar der
Grund für ihre Halluzinationen:«Wenn Men-
schenmit Schizophrenie die eigene Stimme
nicht sich selbst zuordnenkönnen,wundern
sie sich über ihreHöreindrücke», erklärt
Böhme. «Manchevon ihnen entwickeln
dann ausufernde Erklärungsmodelle dafür.»
Die Neurowissenschafterin plant deshalb,
ihrenVersuch mitSchizophreniepatienten
zu wiederholen.«Vermutlich sind bei ihnen
die von uns entdeckten Unterschiede
zwischen eigener undfremderBerührung
geringer», sagt sie.Wenn es tatsächlich
so wäre, sei sogarvorstellbar, basierend
auf derMethodik eineSchizophrenie-Früh-
erkennung zu entwickeln. OderBerührungs-
reize für Therapiezwecke zu nutzen,
damit sich die Patienten körperlichwieder
besser wahrnehmen.

ALAM

Y STOCK PHOTO

Feuer nach Erdbeben in der Market Street in SanFrancisco, 1906. Schlammlawine im Oktober 20 00 in Gondo.

REUTERS

InderSc hweiz
kannsich
das Versiche-
rungswesen
erstnachder
Gründung des
Bundesstaats
1848etablieren.

keine Spende.Langfristig helfen die Eingriffe
in die Natur nur bedingt. ImGegenteil: Die
Bevölkerung wächst stetig, und sowerden
auch Flussufer alsBaugebiete ausgewiesen.
Es gibt zwar seltenerÜberschwemmungen,
aberwenn sie auftreten,verursachen sie
grössereSchäden,weil sich mehrWerte in
den Gefahrenregionenkonzentrieren.
In diese Bresche springen dieVersicherun-
gen. Lange schreckten sievor den Summen
zurück, die im Spiel sind.Beim Erdbeben
von San Francisco1906 endet das in einem
peniblenAufrechnen derSchäden,weil
Brändeversichert waren, Erdbeben aber
nicht.Weil auch Aktenverbrannt waren,
wusste man kaum,wer überhauptversichert
war.Doch langfristigwollen sich die europäi-
schenPioniereSchweizer undMünchner

Rück dasGeschäft nicht entgehenlassen. Sie
werden auchvon derPolitik gefördert, die
auf dieseWeise ihreAufgabe, Hilfszahlungen
zu leisten, an diePrivat wirtschaft delegieren
kann. Umversichern zukönnen, braucht
man aberverlässliche Risikoabschätzungen.
So beginnen dieVersicherungen, Gefahren
zu berechnen, Statistiken zu erstellen. Suk-
zessive werden sie zuKompetenzzentren für
Erdbeben- oderHochwassergebiete.
In derSchweiz kann sich dasVersiche-
rungswesen erst nach der Gründung des
Bundesstaats1848 etablieren – im europäi-
schenVergleichrecht spät.Doch weil bereits
1886 das EidgenössischeVersicherungsamt
gegründetwird, das die privaten Versiche-
rungen reguliert, wächst dasVertrauen der
Menschen rasant. Als sich die Erkenntnis

durchsetzt, dass es bei dieserTopografie
jeden treffen kann,gelingt es auch infast
allen Kantonen, eine obligatorische Elemen-
tarschadenversicherung durchzusetzen.

Vollständigen Sc hutzgibtesnicht
Und dochverbreitet sich die Erkenntnis, dass
in einer dichten Infrastruktur einvollständi-
ger Schutz illusorisch bleiben muss. Zudem
sind die Massnahmenvon Anfang an
umstritten,wieChristianPfisteraufzeigthat.
MancheSoziologen bezeichnen Naturkata-
strophen alsKulturkatastrophen: Eine
Lawine in einem unbewohnten Tal verur-
sacht kaumSchäden; erst dasBesiedeln
eines Risikogebietes macht das Naturereignis
zur Katastrophe,wie der Niedergang der
Schlammlawine inGondo (VS) imHerbst
2000 gezeigt hat.
An die Stelle derVorsorge tritt der
Wunsch,Gefahren in den Griff zu bekom-
men, treten Naturschutz,Frühwarnsysteme
und Nachsorge, etwa inGestalt der Katastro-
phenschutzdienste.Doch diewerden poli-
tisch ausgenutzt: DieSchweiz etwa disku-
tiert in den 50er und 60erJahren, ob sich die
Neutralität mit einem Hilfsdienst aussen-
politisch legitimieren lasse, derweltweit
Hilfe anbietenkönnte.
«DasVerhältnisvon Vorsorge und Kata-
strophe ist bis heute ambivalent», sagt der
Historiker Nicolai Hannig.Auf der einen
Seite überlassenwir nichts dem Zufall,ver-
hindern zumBeispiel mit Computerpro-
grammenVerbrechen. «Auf der anderen
Seite habenwir diegelebteSorglosigkeit,von
der Suche nach Abenteuern bis zurVorsorge-
verweigerung – denken Sie nur an die Impf-
pflicht-Diskussionen.»

NicolaiHannig:KalkulierteGefahren.
Naturkatastrophen undVorsorge seit 1800.
Wallstein 2019, 654 Seiten.

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