Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1
NZZ am Sonntag4. August 2019
Wissen 43

Brauchtes einenneuen


Riesenbeschleuniger?


100 Kilometer langsoll der neueTunnel amCern beiGenf werden und


20 Milliarden Euro kosten. Er sei sein Geld nicht wert, sagtPhysikerin


Sabine Hossenfelder – und wird heftig angefeindet.Von RalfNester


E


s wäre einteurerFehler.Rund
20 Milliarden Euro Steuergeld
für eine – was man bisher
erahnen kann – kleineAusbeute.
«Das lohnt sich nicht», sagt
SabineHossenfelder. «Man
sollte dasGeld in andereForschungsvorha-
ben investieren, die mehr Erkenntnissever-
sprechen,womöglich echte Durchbrüche
liefern.»Mit solchenSätzen hat die theoreti-
sche PhysikerinvieleVertreter derTeilchen-
physikgegen sich aufgebracht. Esgeht um
einen Nachfolger des 27 Kilometer langen
LargeHadron Collider (LHC) amKernfor-
schungszentrum Cern beiGenf, dasvon
22 Mitgliedstaaten getragenwird.
Kommt die Zukunftsmaschine mit dem
KonzeptnamenFuture Circular Collider
(FCC), soll sie bis 2035 laufen. Sie wäre ein
Gigant.Verborgen in einem 100 Kilometer
langen, kreisrunden Tunnelwürde man Ele-
mentarteilchen noch näher an die Licht-
geschwindigkeit heran beschleunigen, um sie
schliesslich ineinanderkrachen zu lassen.
DieseKollisionen mit nochmals höherer
Energie als beim LHC ermöglichten noch
tiefere Einblicke in dieWelt der Elementar-
teilchen und der fundamentalen Kräfte.
Erste Empfehlungen sollen Anfang 2020
erfolgen. Noch ist nichts entschieden, auch
in Japan und in China gibt es Pläne für solche
Grossgeräte. Doch dieSchweizer Community
hat sich bereits positioniert. DieForscher
sind überzeugt, dass diese Maschineweitere
Erkenntnisse liefern,vielleicht sogar die
Grenzen des Standardmodells derTeilchen-
physik erreichenwird. Dieses beschreibt
dieVorgängein der Mikrowelt ziemlich gut
und hat mit der Entdeckung des Higgs-Bo-
sons imJahr 2012 den letztenwichtigen
Baustein erhalten.
Doch es hatSchwächen.Sokann es bei-
spielsweise nicht die dunkle Materie
beschreiben. Und es lässt die Gravitation
ausser acht, diewiederumvon Einsteins
AllgemeinerRelativitätstheorie beschrieben
wird. Bis jetzt ist es nichtgelungen, beide
Theorien miteinander zuvereinen.Ideen zur
Erweiterung des Standardmodells gibt es
viele, etwa die Supersymmetrie, dochexpe-
rimentelleBelege für die theoretischvorher-
gesagtenweiterenTeilchenfehlen.

Einer schrieb: «Fuckyou»
«Es gibtkeinen Grund, anzunehmen, dass
man dieseTeilchen ausgerechnet in dem
Energiespektrum des nächstgrösseren
Beschleunigers findet», sagtHossenfelder in
ihrem Büro amFrankfurt Institutefor
Advanced Studies. Hat sierecht? Oder ist sie
blossfrustriert,weil sie selbst in derTeil-
chenphysik nichtweiterkam,wie Kritiker
meinen? Oderwill sie nur ihr Buch «Das
hässliche Universum» promoten, in dem sie
mit dem«Schönheitswahn der theoretischen
Physik» abrechnet, der ihrerMeinung nach
dazu beiträgt, dass es seitJahrzehnten
keinen Durchbruch in der Grundlagenphysik
mehr gab, und der mittlerweile inKonflikt
mitwissenschaftlicher Objektivitätgerät?
Eskaliert ist die Situation EndeJanuar. In
einem Artikel in der «NewYork Times»
bezeichneteHossenfelder die bisherigeAus-
beute des LHC – abgesehenvon der Ent-
deckung des Higgs-Bosons – als «enttäu-
schend» und argumentiertegegen einen
Nachfolger. Sie sei eine «Nestbeschmutze-
rin», schrieb ihr jemand, «respektlos», ein
anderer. Ein LHC-Forscher beendete seine
Widerrede aufFacebook gar mit «Fuckyou».
Man habeversucht, sievon Veranstaltun-
gen wieder auszuladen, berichtet Hossenfel-
der, man habe sich bei derVerwaltung ihres
Instituts beschwert. Sie habe so etwas erwar-
tet, sagt sie. Angesprochen auf denVorwurf,
sie «reite auf derGenderwelle»,weicht der
cooleGesichtsausdruck fürAugenblicke
einer Empörung: «Ich? Ganz bestimmt nicht.
Ich habe nie eineFrauenquote oder ähnliche
Sonderbehandlungen gefordert.» Es sei aller-

dings bemerkenswert, dass sichkein Teil-
chenphysikergemeldet habe, um sachlich
über ihre Argumente zu diskutieren. Im
Gegenteil: SiezeigtPostingsvon Forschern,
denenVorgesetzteverboten hätten, sich in
irgendeinerWeise dazu zu äussern.
«Mir ist nicht bekannt, dass esBestrebun-
gen gibt,FrauHossenfelder auszuladen oder
dieKommunikation zuverweigern», sagt
Günther Dissertori,Teilchenphysiker an der
ETH Zürich und alswissenschaftlicherDele-
gierter derSchweiz im Cern-Rat gutvernetzt.
«Ich hätte es allerdings begrüsst,wenn es zu
einer direkten Diskussion mit den Physikern,
etwa am Cern,gekommen wäre, anstatt über
andere Kanäle zukommunizieren.»
Selbstverständlich stehe es jedemfrei,
kritischeFragen zu stellen, doch das tue die
Community auch selbst. Dissertori ist über-
zeugt, dass es sichwissenschaftlich lohnt,
einen Nachfolger für den LHC zu bauen.«So
können höhere Energiebereiche und grös-
serePräzision erreicht und damitweitere
Theoriengetestetwerden.Selbstwenn eine
Vielzahl dadurch ausgeschlossenwird, ist
das auch eine enormwichtige Erkenntnis.»
Mit «garantierten» Entdeckungen neuer
Teilchen sei es in derTat schwieriger als
beim LHC. Da sei derBereich,woman nach
dem Higgs-Boson habe suchen müssen, ein-
geschränktgewesen. «Jetzt sindwir in einer
rein explorativen Phase.»Aufgrund der

langen Vorlaufzeiten bei solchen Grosspro-
jekten sollte man bereits jetzt mit Machbar-
keitsstudien beginnen. «Europa hat sich in
derTeilchenphysik eineFührungsrolle
erarbeitet, es sollte in unserem Interesse
sein, diese zu behalten», erklärt Dissertori. Er
fürchtet, dass sonst zahlreicheForscher
abwandern. «Dann ist das so», sagtHossen-
felder. «Es ist dochkein Naturgesetz, dass
ständig neueBeschleunigergebautwerden
und überJahrzehnte Jobs fürTeilchenphysi-
ker schaffen.» Man möge ihr denFokus auf
diese Disziplin nachsehen, sagt sie. «Ich habe
auf demGebiet promoviert undkenne mich
da aus, deshalbrede ich über dieses Thema
imBesonderen. Aber dasselbe giltwohl auch
für andereFachbereiche.»
Wenn es darumgehe,wofürForschungs-
mittel eingesetztwürden, sollte dieAussicht
auf grosseFortschritte entscheidend sein,
fordertHossenfelder. Sie hätte Ideen, etwa
die Erforschungvon Quantenfluktuationen

imfrühen Universum, die helfenkönnte,
Gravitation und Quantentheorie zuvereinen.
«Aber das ist meine private Meinung, der
allein sollten Sie auch nicht trauen.»
Dochwer kann diegesamte Physik über-
blicken, um fundiert entscheiden zukönnen,
welche Investitionvielversprechend ist?
«Das kannkeiner», gibt sie zu. «Die derzeitige
Organisation derWissenschaftverstärkt die
Probleme jedoch.» UmForschungsgelder zu
erhalten, müsse man auf demGebiet bereits
gearbeitet haben.«Wer beispielsweise nach
zwanzigJahren dieTeilchenphysikverlassen
will, hat kaum eine Chance, anderswo einzu-
steigen. Alsowird er immerweiter erklären,
wie wichtig dieseForschung ist, auchwenn
er selbst grosseZweifel hat.»

«Zu esoterisch,zu dogmatisch»
So wie Hossenfelder. Zunehmend entsetzt
sei siegewesen,wie viel Wert daraufgelegt
worden sei, dass Theorien «schön» seien.
Also möglichst einfach, harmonisch,gern
mitSymmetrien. «Mirwurde das alles zu
esoterisch und zu dogmatisch», sagtHossen-
felder. «Nicht zuletzt,weil sich auch der
Schönheitsbegriff selbst imLauf der Zeit
verändert.» ZuKeplers Zeiten galten kreis-
runde Planetenbahnen als schön, elliptische
als hässlich. «Heutewissenwir, dasssie
genau sogeformt sind, niemand käme auf
dieIdee, sie als hässlich zu bezeichnen.»
HansPeter Beck,Präsident derSchweize-
rischen PhysikalischenGesellschaft und
Experimentalphysiker am Cern, sieht das
ähnlich. Ervergleicht das Standardmodell
derTeilchenphysik mit demModell einer
flachen Erde:«Wenn man ein Haus baut,
braucht man den Erdradius nicht zu
kennen.»BeimGotthard-Basistunnel aber
führte solches Nichtkennen in die Irre:
Würde man dieBasislinie desFundaments
beim Nordportal in Erstfeld bis zum Süd-
portal inBodioverlängern, käme manHun-
dertevon Metern zu hoch an. DasModell der
flachen Erdeversagt, man muss daskompli-
ziertereKugelmodell nehmen.
«Ähnlichverhält es sich mit dem Stan-
dardmodell», sagtBeck. «In allenBereichen,
bei denenwir bis heuteMessresultate mit
Vorhersagen des Standardmodellsverglei-
chenkonnten, hat sich dieses als ausrei-
chendgenau erwiesen. ExakteMessungen in
neuenBereichenwerden aberzeigen,wodas
Standardmodell seine Grenzen hat. Erweite-
rungen des Standardmodells, oder ein gänz-
lich neuesModell,werden aus heutiger Sicht
komplizierter sein.»Auch daranwürden sich
die Physikergewöhnen, es einesTages viel-
leicht sogar als schön empfinden, meint er.

Wie beiKepler undNewton
«Viele Einwürfevon FrauHossenfelder tref-
fen zu», sagtBeck. «Nur bei ihrerSchluss-
folgerung, denFCC nicht zu bauen, da liegen
wir diametral auseinander.»Der FCC solle
nicht aus«Schönheitsgründen», sondern aus
Erkenntnisgründengebautwerden. Nur mit
neuen,exaktenMessdaten könnten Abwei-
chungen zum Standardmodellgefunden
werden. «Dies war bei den Planetenbahnen
ebenfalls so», sagtBeck. «Erst dieexakte
Vermessung derBahnen durchTycho Brahe
und diegenaue Analysevon Kepler haben
gezeigt, dass Kreisbahnen nicht funktionie-
ren. Die Erkenntnis, dass es sich um ellipsen-
förmigeBahnen handelt, hat es Newton
dann ermöglicht, das Gravitationsgesetz zu
formulieren.» Brahe habe übrigens mit seiner
Sternwarte ein «Forschungszentrum» betrie-
ben, das für die damalige Zeit an die absolute
Grenze des Machbarenvorgestossen sei – mit
extremenKosten. Und er habe so denWeg
für eineRevolution desWeltbildes mit berei-
tet, an das er selbst gar nicht glaubte.
DieKosten für denFCC scheinen hoch,
breche man sie aber auf die beteiligten
Länder und auf dieLaufzeit herunter, relati-
vierten sie sich stark, sagtBeck. Es ist eine
Chance, nicht mehr und nichtweniger.

TIM WEGNER

/ LAIF

Streitbar: Die deutsche Physikerin Sabine Hossenfelder.(Heidelberg,20. Februar2019)

20 Mrd. €


Die Kosten des
neuen Teilchen-
beschleunigers
sind mit rund
20 MilliardenEuro
veranschlagt.

100 km


So lang soll der
Tunnelwerden, in
dem die Elementar-
teilchen beschleu-
nigt würden.

100 TeV


Die im FCC beschleu-
nigten Teilchen
könnten eineEner-
gievon biszu 100
Teraelektronenvolt
erreichen. ImVor-
gänger, dem Large
Hadron Collider,
sind es «nur» 13 TeV.

FutureCircular
Collider (FCC)

«Es istkeinNaturgesetz,
dassständigneue
Beschleuniger gebaut
werden undJobs
fürTeilchenphysiker
schaffen.»
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