Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZamSonntag4. August 2019
Wissen

Schluss-StrichvonNico lasMahler


NeuesausderWissenschaft


Sprachentwicklung
beginntvorGeburt

DieBegeisterung junger Eltern
ist gross,wenn ihr Kind nach
monatelangem «Da-da-da» erst-
mals einverständlichesWort
von sich gibt. Das tritt meistens
im Altervon 12 bis18 Monaten
ein. Die Spezialisierung jener
Regionen imGehirn, die sprach-
licheLaute erkennen undverar-
beiten, beginnt jedoch schonviel
früher.Bereits im letzten
Schwangerschaftsdrittel ist das
Hörorgan desFötus nämlich
funktionsfähig, und imGehirn
bilden sich sprachspezifische

Areale.SolernenBabys bereits
imMutterleib, erste Sprachlaute
zu unterscheiden. Das entdeckte
eine Arbeitsgruppe der Universi-
tätsklinik für Kinder- und
Jugendheilkunde derMedizini-
schen UniversitätWien («Deve-
lopmental CognitiveNeuro-
science»). Das Neurolinguistik-
Teamkonnte ausserdemzeigen,
dassreifgeborene Neugeborene
schon amTag nach derGeburt
Sprachlautevon nichtsprach-
lichenLauten differenzieren
können.(ruf .)

Wiesc hnellStahlin
Betonkorrodiert

Als imAugustvergangenen
Jahres dieSchrägseilbrücke in
Genua – bekannt alsMorandi-
Brücke – einstürzte, starben
43 Menschen. Danachwurde
intensiv überKorrosionspro-
zesse berichtet. ETH-Forscher
konnten nunzeigen,wie schnell
Stahl in porösen Materialienwie
Beton korrodiert. DiesesWissen
istzentral fürvieletechnische
Anwendungen wie Rohrleitun-
gen im Erdreich oder eben Stahl-
betonbrücken. Bisher ging man
davon aus, dass dieKorrosion

am schnellsten bei «mittlerer»
Feuchtigkeit abläuft,wenn in
denPoren desBetons sowohl
Wasser als auchSauerstoffvor-
handen ist. Die Zürcher haben
nun ein neuesModell entwickelt
(«Nature Materials») und ent-
deckt:Befindet sich Stahl in
porösem Materialwie Beton, ist
nicht derSauerstoff entschei-
dend, sondern die Fläche, die
mitWasser inKontakt ist.(ruf .)

Fleder mäusenutzen
BlätterzumOrten

Da sie in der Dämmerung und
nachts auf dieJagdgehen,
finden Fledermäuse ihreBeute


  • Insekten – perEchoortung.
    Dabei senden die Tiere Ultra-
    schallwellen aus, die je nach
    Distanz zum angepeilten Objekt


unterschiedlich schnell zurück-
kommen und imGehirn ein drei-
dimensionales Bild entstehen
lassen. Sitzt ein Insekt still auf
einem Blatt, tarnt es sich sozu-
sagen akustisch. Das nahm man
zumindest an. In Experimenten
konnte einTeam am Smithso-
nian TropicalResearch Institute
in Panamazeigen, dass Blatt-
nasenfledermäuse die sich in
Sicherheit wähnenden Insekten
austricksenkönnen – indem sie
ihren Anflugwinkel ändern
(«Current Biology»). Die optima-
lenWinkel, um zu erkennen, ob
sich auf einem Blatt ein Insekt
tummelt oder nicht, betragen
zwischen 42 und 78 Grad.(ruf .)

Dreidimensionale
KartederMilchstr asse
Unsere eigene Galaxie – die
Milchstrasse – ist nichtflach,
sondern krumm undgedrehtwie
ein S. Das habenForscher jetzt
erstmals direkt nachweisen
können, indem sie den Abstand
unsererSonne zuTausenden
anderen Sternen massen und
daraus eine dreidimensionale
Karte der Milchstrasse erstellten
(«Science»).(pim.)

SaurerRegenmacht
Pflanzendurstig

In Gebieten mit sauremRegen
halten PflanzenwenigerFeuch-
tigkeit imBoden zurück. Das
zeigt ein Experiment inWest
Virginia («ScienceAdvances»).
Die Analyse über 23Jahre ergab,

dass durch dieVersauerungCal-
cium aus denBöden ausge-
waschenwird. Die Pflanzen aber
brauchen dieses Element, um
ihre Spaltöffnungen schliessen
zukönnen. Ist das nicht möglich,
verdunsten sie mehrWasser und
ziehen dieses ständig aus dem
Boden nach.(pim.)

REUTERS

WasunsderMüllerzählt


Gegenwartsarchäologen sammeln Informationen inehemaligenFlüchtlingslagern odervon Abhöranlagen


desKaltenKrieges.Zum 50 .JahrestaghabensiedasWoodstock-Geländeuntersucht.VonEstherWidmann


D


ie Menschen sind halbnackt, sie
tragenJeans, langeHaare und
rundeSonnenbrillen, sie tanzen,
sind high und sofrei wie ihre Liebe:
Die Bildervon Woodstock, dem berühmtes-
ten Musikfestival aller Zeiten imJahr 1969,
kenntfast jeder. Einigemvon dem, was sie
nicht abbilden,versuchen nunForscher auf
die Spur zukommen, derenFokus sonstviel
weiter zurückgeht: Archäologen.
DurchAusgrabung haben Experten der
Binghamton University imUS-Gliedstaat
NewYork bereits diegenauePosition und
Ausrichtung der Bühne und derLautspre-
chertürme bestimmt.Pünktlich zum
50-Jahr-Jubiläumvon Woodstock haben sie
eineGeländebegehung in einemWaldstück
durchgeführt. Hier befand sich der Bindy
Bazaar,woes an StändenKunsthandwerk,
Kerzen,Poster und Kiffer-Material zu kaufen
gab. Die Pfade durch denWald – hand-
gemalteSchilderwiesen sie als HighWay,
GroovyWay oderGentle Path aus – waren
mit Lichterketten dekoriert. Nach Angaben
der Archäologen gibt es jedoch nur eine ein-
zigeFoto von einer dieser aus herumliegen-
dem Materialkonstruierten Buden.
Bei ihrerBegehung – Survey genannt–
fanden sie noch einige solcher aufgeschich-
teter Steinhaufen, jedoch nicht da,wosie
sich laut einemvor demKonzert erstellten
Plan befinden sollten. «Das ist ein Hinweis,
dass dasFestival ein Eigenleben entwickelte»,
sagtProjektleiterin Maria O’Donovan. «Der
Ortveranschaulicht den informellen, unbe-
kümmertenGeist derGegenkultur.»
Die bei derAusgrabung zutagegeförderten
Objekte sindwenig spektakulär.Dennoch
erzählen sievon derGeschichte desOrtes. Im
Bereich der Bühnefanden die Archäologen
etwa einen Stift, der erst ab 197 1 produziert
wurde, also nichtvom Original-Woodstock
stammen kann.

Was dieBulldoze r übrig liessen
Die zahlenmässig häufigeren Glasscherben
undGetränkedosenverschlüsse lassen sich
zwar nicht eindeutig demKonzertvon 1969
zuordnen, «doch es ist wahrscheinlich, dass
viele davon mit diesemrelativ intensiven
Ablagerungsvorgang zusammenhängen»,
wie es im offiziellenBericht heisst. Anders
formuliert: DieFestivalbesucher hinterlies-
sen riesigeMengenMüll, Flaschen,Schlaf-
säcke, Kleidung.
Wie so oft sind aber die Zeithorizonte im
Boden nicht sauber übereinandergeschich-
tet, sondern durch spätereAktivitäten

gestört: Direkt nach Ende der «dreiTage
Liebe,Frieden undMusik» schoben Bull-
dozer alles den Abhang hinab,von woes
abtransportiertwurde. Seitdem haben zahl-
reicheweitereVeranstaltungen auf demFeld
stattgefunden.
Ebenfalls mit der Archäologie einesFesti-
vals, nämlich des jährlich inReno statt-
findendenKunstfestivals Burning Man,
beschäftigt sichCarolyn White, Professorin
für Anthropologie an der Universitätvon
Nevada.Der Ansatz sei jedoch ganz anders
als beiWoodstock.
«Was ich bei Burning Man tue, ist Archäo-
logie einer aktiven Stätte. Ich sammle die
Informationen, während dasGelände
genutztwird, und muss deshalb nichts aus-
graben», erklärt sie. «ImÜbrigen sind die
Techniken Kartierung, Survey und doku-
mentarische Analyse aber die gleichen,wie
Archäologen sie überallverwenden, um die

EVERETT COLLECTION

/ KEYSTONE

Spuren unserer Zeit: Gegenwartsarchäologen freuen sich über Abfallberge wie am Woodstock-Festivalvon 19 69.

«Warum
warten,bis
etwas
vollständi g
versch wunden
ist,bevorwir
versuchen,es
zu verstehen?»

Vergangenheit zuverstehen, unabhängig
davon, wie alt derFundort ist.»

Bedeutend wieHöhlenmalerei
Dass sich Archäologen mit der jüngstenVer-
gangenheit oder Zeitgenössischem beschäfti-
gen, alsoGegenwartsarchäologie betreiben,
ist im deutschsprachigen Raum nochfast
unbekannt. Einzig an der Universität Ham-
burgwidmete sich einDoktorand kürzlich
der Erforschung desProtestcamps der
«FreienRepublikWendland» amAtommüll-
Zwischenlager inGorleben.
Im angelsächsischen Raum ist dasFeld
sehrviel etablierter. Es gibt ein «Journal of
Contemporary Archaeology» und ein
«Oxford Handbook» zum Thema. EineAus-
stellung imPitt Rivers Museum inOxford
widmet sich derzeit der Archäologie des
inzwischengeräumten, «Dschungel»
genannten Flüchtlingslagers inCalais.

Besonders aktiv auf demGebiet istJohn
Schofield,Professor an der Universitätvon
York. Er hat Abhöranlagen aus dem Kalten
Krieg inBerlin ebenso untersuchtwie den
Umzug seines Arbeitgebers in ein anderes
Gebäude. Die Graffiti, die derSex-Pistols-
Sänger JohnnyRotten an dieWand seines
Quartiers inLondon kritzelte, stelltSchofield
in ihrer kulturellenBedeutung den altstein-
zeitlichenHöhlenmalereienvon Lascaux
gleich.Schofields berühmtestesProjekt: Er
liess Studenten einen 25Jahre alten Liefer-
wagen «ausgraben» beziehungsweise ausein-
andernehmen und nach archäologischen
Standards dokumentieren.
Wozu etwas untersuchen, das bisvor
kurzem sicht- und erlebbar war?Carolyn
White erklärt den Nutzen derGegenwarts-
archäologie mit einerFrage:«Warum warten,
bis etwasvollständigverschwunden ist,
bevorwir versuchen, es zuverstehen?»
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