Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

48


NZZ am Sonntag4. August 2019
Kultur

Fortsetzungvon Seite 47


Mehr als...


Kolonialmächten ein gezogen wurden, von
Traumen undGewalt. Und erweiss, dassdas
Wissen um dieseSchicksale nicht zuletzt
durch die Erinnerung bedroht ist. Sierückt
ins Licht, verschiebt, blendet übereinander,
lässt Reste stehen und montiert sie neu.
Technischzeigt Kentridge das durch das
Zeichnen mitKohlestiften. Er radiert ständig
aus, zeichnet neu,verwischt. Immerwieder
hält er die einzelnen Stadien mit der Kamera
fest und lässt so animierteGeschichten ent-
stehen.Seine Werke sind eindrücklicheVer-
gege nwärtigung nicht nur desVergangenen,
sondern auch derFrage, wie wir der Vergan-
genheit überhaupt habhaftwerd en können,
woraus Wahrheit denn letztlich besteht. Er
collagiertProzessionenvon Menschen und
Dingen, diekommen undwieder verschwin-
den. Es gibtzeitliche Folgen, aberkeine ver-
lässlichenGeschichten mehr. Und er deutet
an, dass historischeWahrheit immerwieder
neu imGespräch zwischen denBeteiligten
gefunden und auch neu interpretiertwerd en
muss. Darin steckt die Erfahrung einerfrag-
mentiertenWelt, wie wir sie heute trotz
einemvereinheitlichenden Internet haben.
Anders als beiKentridge bleibenviele
Arbeiten mitgesellschaftskritischem Impe-
tus im öffentlichen Diskurs stehen, präsen-
tieren ihn, statt ihn zureflektieren. Sie sind
nur plakativ. So hat dieMenschenrechtsakti-
vistin undKünstlerin AndreaBowers kürz-
lich bei der ArtBasel zweiWände aufgestellt,
auf denen sierund 200 Anklagenvon Frauen
wege n sexuellerBelästigung und Missbrauch
sowie die Antworten der beschuldigten
Männer präsentierte.Sessel luden zumVer-
weilen undLesen ein. Es ist eine journalisti-
sche Recherche, derenBerichte erschüttern,
sich dann aber nichtweit er verdichten.

D


iese Arbeit der Amerikanerin
machte noch ein anderesProblem
sichtbar: Inwiefern ist jemand auto-
risiert, mit den Mitteln derKunst
über dasLeid anderer zu sprechen? DieFrage
der Inklusion tauchte prominent erstmals bei
der Whitney-Biennale 2017 auf, als die Male-
rin DanaSchutz auf ihrem Bild «Open
Casket» aufFotomaterial zurückgriff, das
den 1955 von zweiweissen Männern in Mis-
sissippi ermordeten jungen Emmett Till
zeigte. DieKünstlerin Hannah Black protes-
tierte dagegen, dass eineweisse Künstlerin
diese afroamerikanische Tragödie zum
Gegenstand einesKunstwerks machte, mit
dem sieBeachtung undVerdienst erzielte.
Sie schlageProfit ausfremdemLeid, lautete
der Vorwurf. AndreaBowers wurde von
einer derFrauen auf ähnlicheWeise beschul-
digt, sie für eineKunstpräsentation noch
einmal zum Opfer zu machen, das auch noch
mit einem entsprechenden Bild zu sehen
war, welchesvia Instagram um dieWelt ging.
Die Künstlerin entschuldigte sich und ent-
fernte den Beitrag umgehend.Dennoch blieb
der Eindruck, dass eine gutgemeinte Aktion
zu kurz griff undkeine Form fand, die die
Betroffenen mit einschloss.
Nun könnte man ja mit einigem Grund
sagen,wir lebten in einem journalistischen
oder vielleicht sogar postjournalistischen
Zeitalter, in dem das indirekte Sprechen
durchkomplexe Werkstrukturen nicht mehr
zeitge mäss sei. Das gilt zumindest in Zeitun-
gen, wo Klicks, und aufSocial-Media-Kanä-

FRIEDEL AMMANN

Rund200 Fällevon sexuellerBelästigung aus der #metoo-Debatte als Wandzeitungvon AndreaBowers: «OpenSecretsPart I & II»,2018.

© PRO LITTERIS

Unser Naturbild schärfen: GiuseppePenone bei der Arbeit an der «Zeder ausVersailles».

Wenn man die
Ökonomiedes schnellen
Blicks zur Massgabe von
Kunst macht, begibt
mansichihres besten
Potenzials.

len, wo Likes undFollower zu Argumenten
werd en. Alles bis zumGesässpickelwird
mitgeteilt und bebildert, nurweniges aber
reflektiert. Nachdenken und einordnen
braucht Zeit; daswiderspricht denGesetzen
der Vermarktbarkeit. «Time is money» gilt als
Geschäftscredo kapitalistischer Margenver-
wertung auch im Internetzeitalter.
Wenn man diese Ökonomie des schnellen
Blicks und der kurzenAufmerksamkeits-
spanne aber zur Massgabevon Kunst macht,
verzichtet man auf ihr bestesPotenzial.
Denn sie entfaltet ihreWirkung in derRegel
nicht mit dem lautestenSchrei und der
grellstenFarbe, sondern indem sie nach
Formen sucht, in denen beispielsweise das
Parforce-Konzept sichtbargemacht, also auf
seineBedingungen und Intere ssen befragt
wird. Und sieverbindet damit meist auch
den Entwurf eines anderenModells von
Welt. Man muss nicht so eisern seinwie einst
TheodorW. Adorno.Der Frankfurter Philo-
soph sah in derVerweigerung das grösste
Widerstandspotenzialvon Kunst in einer
Gesellschaft, die in derForm von Ware und
Geld alles verfügbar macht. Erst das Nicht-
Verwertbare öffnet einen Raum, in dem man
sich frei von Verwertungsintere ssen bewe-
gen kann.Heute ist dagegen das tangentiale
Surfen auf solchen Intere ssen und mit den
Verwertern längst zu einer künstlerischen
Strategie geworden, dieVeränderung über
Mitgestaltung und Interaktion anstrebt. Die
umfassende Opposition zurGesellschaft ist
der Abgrenzung zahlloser identitärer Grup-
pen voneinander undvom Mainstream
dieserGesellschaftgewichen. Das bürger-
liche Konzept einerAutonomie derKunst ist
längst nur noch eines unter anderen.
So stellt sich dieFrage einer eingreifenden
Kunst vielleicht eher alsFrage nach der
Wirksamkeit:Wie sieht das kritischePoten-

zial von Kunst aus, undwo wird es besser
genutzt? Eine zugegeben simpleGegenüber-
stellung macht deutlich,worum es geht: Bei
der gerade zurückliegenden ArtBasel gab es
zwei Beiträge, die sich mitBäumen beschäf-
tigten: Enzo Enea liess mehrere hundert
Jahre alte Olivenbäume zwischen Zeitschrif-
tenständen,Café und Rolltreppen aufstellen.
Sie sollten auf dieSchädigung der Natur
durch den Klimawandel hinweisen. Siever-
kamen aber zumDekor, verloren Blätter und
litten erkennbar unter der unglücklichen
Platzierung. Statt auf ökologische Notwen-
digkeiten verwiesen dieBäume auf den
unverantwortlichen Umgang mit ihnen.Der
Initia tor mutete ihnen Strapazen zu und
schien nicht einmal zuwissen, dassKünstler
Olivenbäume schon zuvorverwendet hatten.

W


eiter hin ten in derMessehalle
stand dagegen auf einem seit-
lichen Plätzchen der entrindete
Stamm einer Zeder. Sie war
1999 bei einem Sturm imSchlossparkvon
Versailles umgerissenword en, wo sie wohl
die meiste Zeit ihrer194 Lebensjahregestan-
den hatte. GiuseppePenone legte in einem
Ausschnitt ein frühes Stadium des Stammes
und einiger Ästefrei. Die Zerbrechlichkeit
des jungen Baums, seine majestätische späte
Gestalt von 1,7 Metern Durchmesser, die
Macht der Natur und unser Glaube angesell-
schaftliche Machbarkeit,verschiedene
Zeiten und Zeitebenen traten nebeneinander
als Faktoren, die unserLeben bestimmen.
Die Zeder hatte Revolutionen undWeltkriege
überlebt, ein Sturm brachte sie zuFall. Der
Künstler traf eineAussage zurGeschichte,
die von einem aktionistischenProgramm
weit entfernt und dochgesellschaftlich
höchstrelevant war. Erverwies viele Jahre
vor Greta und dem Ökoboom darauf,wie
sehr die Natur uns prägt.Sein Werk bietet
uns Gelegenheit, uns und dieWelt anders zu
sehen, umfassender als bei journalistischen
Tagesmeldungen. Das ist nichtviel anders als
bei WilliamKentridge. Es ist das, was grosse
Kunst auszeichnet.

Die Ausstellung William Kentridge, «A Poem
That Is NotOur Own» ist bis 13.10. imKunst-
museum Basel in allen drei Häusern zu sehen.

Salzburg


suchtGott


undfindet


seine Gurus


MythensinddasThemader


diesjährigenFestspiele.Dochdie


Regisseure fürchtensieund


fliehenindieAktualität.Die


verkehrteTheaterweltkommt


beimzahlungskräftigen Publikum


gutan.Von Christian Berzins


T


heater! Allüberall zurSalzbur-
ger Festspielzeit. Naturgemäss
auch beimSonntagshochamt
um 9Uhr in derFranziskaner-
kirche. Die Kirche ist übervoll,
da so manchfremderFest-
spielgast hier sitzt: mit halbem
Ohr denGebeten, mit ganzemHerzen Mozart
lauschend.Von der Orgelempore erklingt die
«Credo»-Messe, derSalzburger Meister zieht
Gott lobend alle Opernregister.
Aber dannwett ert der Pater in derPredigt,
dass davorne in derHofstallgasse zurFest-
spieleröffnung einAuflauf gewe sen sei,wie
er liturgisch nie und nimmer so prunkvoll
hätte inszeniertwerd en können.Bald spottet
er, dass sie dort über den Klimawandelreden
und sich denKopf zerbrechen über das Tun
griechischerGottheiten. Nur der christliche
Gott, der sei dortvorne tabu. Noch ehevon
der Orgelempore das «Credo (in unum
deum)» erschallte, ward dem Pater von
seinerGemeinde heftig applaudiert – am
vermeintlichen «Ort der Stille und des
Gebets»,wo die katholischen Riten weit erhin
so eingehaltenwerd en wie die Besteckord-
nung am englischenHof.
Nach einerWoche Festspiele stellte sich
die Einsicht ein:Der donnerndePater lag bei
«denen davorne», den99. Salzburger Fest-
spielen, ziemlich richtig – beinahe prophe-
tisch. Nur in einer Hinsicht hat derGeistliche
in Rage einwenig geschwindelt.Denn der
christlicheGott ist bei denFestspielen alles
andere als tabu. Egal,wie das Thema heisst
(heuer «Mythen»):Seit 99 Jahren zeigt man
auf demDomplatzHugo von Hofmannsthals
«Jedermann – das Spielvom Sterben desrei-
chen Mannes».Gott, der Tod, derTeufel und
der Glaube spielen um dieSeele Jedermanns.
Regisseur Michael Sturminger lässtGott
zwar nur mehr abTonband sprechen und hat
dem Stück auch dasVaterunser ausgetrie-
ben, das jeweils grosseSchauspielkunstver-
langte, damit es auf derDomplatz-Bühne
nicht peinlichwurde. Aber sonst ist alles
noch da, auchwenn dasGeschehen biswei-
len recht beschleunigt daherkommt und die
Bemühungen, möglichst modern und chic zu
sein, dem Drama seine moralische,ver-
meintlichveraltete Kraft ein Stückweit
rauben:Fürchtet jemand denTod, wenn er
diesen «Jedermann»gesehen hat? Kaum. Das
Sterbengeht flott vor sich, derWeg zum
Büsserhemd erweist sich als glatt, ohnePein-
lichkeiten. In der700. «Jedermann»-Auffüh-
rung der Festspielgeschichte spielteTobias
Moretti die Titelrolle: überlegen, kühn, nie
richtig böse, nie richtigflennend.
14 Mal gab’s «Jedermann». Immer ausver-
kauft, jedes Mal 2544 Zuschauer.Doch nicht
nur «Jedermann»-Karten sindgesucht.
Free download pdf