Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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FOTO

S: SIL KE MERTINS

Mustapha Sallah
hat eine Organisa-
tion gegen die ir-
reguläre Migration
aus Gambia gegrün-
det. Er ist selbst
Rückkehrer.(Banjul,
Dezember2018)

LINUS SUNDAHL-DJER

F / THE NEW YORK

/ REDUX / LAIF

Auch trendige Cafés in Stockholm sind bargeldlos.(6.November2015)

Schweden ist auf dem Weg
in eineGesellschaft ohne
Bargeld. Doch nun kommen
vermehrtZweifel auf.
NielsAnner, Kopenhagen

Touristen erkennt man inSchwe-
den sofort. Sie kramen an der
Kasse nach Noten undMünzen.
Einheimische bezahlen dagegen
in der Regel mit Karte oder
Handy, selbst wenn nur eine
Glacegekauftwird. Laut einer
internationalen Studievon 2018
bezahlen dieSchweden durch-
schnittlich 461 Mal proJahr bar-
geldlos; das istweltweit am meis-
ten. Über 80Prozent derEinkäufe
werden ohneCash abgewickelt.
Auf einem kleinemDorf-Floh-
markt «swishen» dieKunden: Sie
bezahlen per Handy-App. Mit die-
serwird auch in Kirchen die
Kollekte eingesammelt, und
selbst Strassenmusiker stellen ein
Schild mit ihrerSwish-Nummer
auf. Daneben liegt der gute alte
Hut – für dieTouristen.Der Trend
besteht seitJahren, doch die Ent-
wicklung beschleunigt sich. 35
Bankomaten auf 100 000 Ein-
wohner gibt es noch inSchwe-
den, sowenigwie nirgends sonst
in Europa. In derSchweiz sind es
120, inÖsterreich gar160. Gleich-
zeitig ist in derSchweiz mit 8500
Franken am meistenBargeldpro
Kopf im Umlauf, während es in
Schweden620 Franken sind.

Bankräubergehenleeraus
In der Nähevon Stockholm öff-
nete im Mai der erste Supermarkt
ohneBargeldund ohne bediente
Kassen. ImJuni kündigte dieVer-
waltung der südschwedischen
KleinstadtYstad als erste an,kein
Bargeldmehr zu akzeptieren. In
öffentlichenMuseen, Bibliothe-
ken oderSchwimmbädern kann
bald nur noch mit Karte oder
Handy bezahltwerden, laut der
Stadt eine Sparmassnahme. Sie
vollzieht einenSchritt, denviele
Restaurants,Warenhäuser,Ver-
kehrsbetriebe und über die Hälfte
derBankfilialen schongemacht
haben: OhneBargeldzugeschäf-
ten, ist billiger und sicherer. Die
AnzahlBanküberfälle sank seit
2008 von über 100 auf eine
Handvoll. 2017 musste einBank-
räuber in Uppsala ohneBeute
flüchten, weil er eine bargeldlose
Filiale überfallen hatte.
Ökonomen der Universitäten
Stockholm und Kopenhagen
haben errechnet, dass es sich im
Jahr 2023 für den schwedischen
Handel nicht mehr lohne, mit
Bargeldzu arbeiten. Gleichzeitig
ergab ihre Untersuchung, dass die
Hälfte derGeschäfte glaubt, spä-
testens 2025 bargeldlos zu sein.
Auf Kundenseite gaben in einer

ObfürStrassenmusik


oderGlace:Bezahlt


wirdelektronisch


Umfrage der Nationalbank sieben
von zehn derBefragten an, sie
könnten bereits heute ohneBar-
geldleben. Die Gründe für die
Entwicklung liegen laut Fach-
leuten zum einen in derTechnik-
affinität der Skandinavier. 70 Pro-
zent der Schweden nutzen dieBe-
zahl-AppSwish. Zudem ist das
Vertrauen in staatliche Institutio-
nen gross. DassBehörden eine
Vielzahl privater Daten erhalten
undBanken denKontostandvon
Privatkunden direkt an die
Steuerbehörden übermitteln, ist
normal. Deshalb kümmert es
auch nurwenigeSchweden, dass
Kartenzahlungen überall Spuren
hinterlassen. ImGegenteil,Bar-
geldist ingewissem Mass gar in
Verruf geraten, Mittel einer
Schwarzgeld-Wirtschaft und kri-
mineller Kreise zu sein.

AngstvorDatenklau
Dennoch erkennt Niklas Arvids-
son, Spezialist fürBezahlsysteme
an derTechnischen Universität
Stockholm, dass dieGegner einer
bargeldlosenGesellschaft zuneh-
mend mehrGehör finden.Denn
es gebe nachwie vor grosse Grup-
pen, dievom Tempo der Umstel-
lung überfordert seien. Björn
Eriksson, Gründer einer Organi-
sation, die fürsBargeldkämpft,
sprichtvon einer MillionMen-
schen: Ältere ohne Kreditkarte,
Personen in abgelegenen Orten,
die stundenlang zum nächsten
Bankomaten fahren müssten,
FlüchtlingeohneKonto sowie
Touristen. Eriksson, einfrüherer
nationalerPolizeichef,wirft den
Bankenvor, das Kartengeschäft
wegen der Gebührengewinne
voranzutreiben.
Sicherheitsexperten warnen
zudemvor Risikenwie dem Miss-
brauchgestohlener Daten oder
Systemausfällen.Solche haben
bereits dazugeführt, dass elek-
tronischesBezahlen während ei-
niger Stunden landesweit nicht
funktionierte. Zudem schrecken
die Datenskandale in sozialen
Netzwerken auch inSchweden
auf. Eriksson bezeichnetBargeld
als ein für dieDemokratiewichti-
ges, «vonTechnik unabhängiges
undvor Eingriffengeschütztes
Bezahlsystem». Niklas Arvidsson
glaubt, dassBargeldals Sicher-
heit, als «Backup», bedeutsam
bleibe.Letztlich sei die Entschei-
dung für odergegen Noten und
Münzen eine politische.
Die schwedische Regierung
arbeitet derzeit an einemGesetz,
dasBanken zu einer landesweiten
Versorgung derBevölkerung mit
Bargeld verpflichten soll. Die
Finanzinstitute drohen nun da-
mit, in diesemFall neueGebüh-
ren zu erheben – für das Abheben
von Geld amBankomaten.

Biran Jeng wurde als Migrant in Libyen in
Lager gesperrt undversklavt.

BintaBassama hatvier Söhne und zwei Brü-
derverloren, die nach Europa aufbrachen.

Anders alsfrüher haben Gambier
inzwischen in Europakeine
Chance mehr aufpolitischesAsyl.
Ihnen droht die Abschiebung.
Auch internationale Hilfe läuft
nur langsam an, denn es mangelt
an Hilfsstrukturen.Viele inter-
nationale Organisationen haben
während der Diktatur ihre Ein-
richtungen in Gambiageschlos-
sen oder solche gar nicht erst
aufgebaut. Die Internationale
Organisation für Migration
(IOM), eine Unterorganisation
der Uno, musste beispielsweise
in Gambia bei null anfangen.
Inzwischen sind mithilfe der
IOM über4300 Gambier aus
Nordafrika zurückgekehrt.Für
diese gibt es zwar kleinere Hilfs-
undAusbildungsprogramme,
jedoch ebenfallskeine länger-
fristigenJobs.PräsidentBarrow
fordert Migranten dennoch
immerwieder auf, nach Gambia

zurückzukehren. Sie seien eine
«Bürde für Europa», sagte er
vergangenesJahr inLondon.
«Wenn ihr in einemfremden
Landwie England lebt, seid ihr
immer begrenzt, anders als in
eurem eigenenLand,woes
keineBegrenzungen für euch
gibt.» Er selbst sei das besteBei-
spiel, denn auch er sei Migrant
gewesen und 2016 zurück-
gekehrt. «Ichwollte dieses
Denkenverändern.»
Die imAusland lebenden
Gambier spielen jedoch eine
bedeutendeRolle imLand. Sie
schicken enorme Summen nach
Hause zu ihrenFamilien.Zwi-
schen 2013 und 2015 waren es
nach Angaben derWeltbank
181MillionenDollar. Das ent-
spricht 20Prozent desBrutto-
inlandprodukts und einer der
höchsten Raten weltweit.
Silke Mertins, Banjul

Runddie Hälfte
der15- bis


24-Jährigenist
arbeitslos,auf


demLandsind
esso garüber


70Prozent.Die
Abwanderung


indieStäd teist
enormhoch.


von derMorgan ClarkFoundation, die in
Jarjari dieDorfschule und ein Gästehaus auf-
gebaut hat. Manche erholen sich nicht mehr
davon, sagt er und erzähltvom Nachbarort
Katchang. EineFamilie dort habe sechs Mit-
gliederverloren, ohne dass es auch nur ein
Einziger nach Europageschafft hätte.


Siegingen,ohne zufragen


Einweitere unbefestigte Strasse führt nach
Katchang. Ziegen dösen amWegrand oder lie-
gen unter Boabab- und Mangobäumen.Der
Boden ist lehmrot, die Luft schwer. Binta
Bassama sitzt auf einer Matte vor ihrem halb
verfallenen Häuschen und starrtteilnahmslos
vor sich hin. Siewill eigentlich nicht über den
«BackWay»reden,weil es sie zu sehr auf-
wühlt, tut es dann aber doch.Vier Söhne und
zwei Brüder hat sieverloren. «Als sie gingen,
haben sie nicht um Erlaubnisgefragt und sich
auch nichtverabschiedet», klagt sie. Sie sind
immer zu zweit aufgebrochen – biskeiner
mehr da war. «Jetzt gibt es nur noch Traurig-
keit, wir sind eine einsameFamilie.»
Wenn es nachMustaphaSallah ginge, dann
würde er denn Exodus derJugend eigen-
händig aufhalten.Der 28-Jährige ist Mitbe-
gründervon YouthAgainst Irregular Migra-
tion. Er sitztvor derBehausung seinerMutter
in der HauptstadtBanjul und macht eine ein-
facheRechnung:Würde man dasGeld, das
man auf dem «BackWay» ausgibt, zu Hause


investieren – in einTaxi, einenVerkaufsstand
oder eine kleineWerkstatt –, wäre man auch
in Gambia erfolgreich.
Meistensverlassen die jungen Menschen
nur mitGeldfürden erstenReiseabschnitt
ihreHeimat; es stammtvon einemVerwand-
ten, von der letzten Ernte oder einemFreund.
Manche bedienen sich auch unerlaubt aus der
Familienkasse oderverkaufen ein StückLand.
Viele brechen ohneWissen der Eltern auf, be-
sonderswenn sie noch jung sind. Spätestens
von Ouagadougou in BurkinaFaso oderAga-
dez in Nigerrufen sie zu Hause an:Schaut,
jetzt bin ich schon soweit gekommen, bitte
schickt mirGeld. Die Eltern,wenn sie dieRei-
se nichtvon Anfang an mitfinanzieren, sind
meist ambivalent, schwanken zwischen Angst
undHoffnung, bringen am Ende aber doch
etwasGeld aufund schicken es perWestern
Union oder einen anderen Transferdienst.
Manche Migranten arbeiten auf den Durch-
reisestationen,weshalb sich ihreReise über
Jahre hinziehen kann.
Wer auf demWeg nach Europa soviele Stra-
pazen auf sichgenommen hat, gibt nur un-
gern kurzvor dem Ziel auf.Soging es auch
MustaphaSallah, denn sein Bruder hatte ihm
dieReise finanziert.Doch als er imGefängnis
in Tripolis war,wollte er nur noch eines: nach
Hause. Er stimmte sofort zu, alsVertreter der
Internationalen Organisation für Migration
(IOM) ihm anboten, dieRückreise nach Gam-
bia zu organisieren.Wiederfrei und sicher zu
sein, habe sich gut angefühlt, sagt er.
Doch dieHeimreise mit leeren Händen war
auch unendlich schwer. Die über4300 Män-
ner undFrauen, die in den letzten zwei-
einhalbJahren mit der IOM nach Gambia
zurückgekehrt sind, fühlen sich alsGeschei-
terte. Aber sie leben.

FOTO: SAIKOU SUWAR

EH JABAI
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