Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

50


NZZamSonntag4. August 2019
Kultur

DOMINIC

BÜTTNER

Der Mundartautor, Sprachforscher und GenealogeVikt or Schobinger lebt seit Jahrzehnten im Zürcher Stadtteil Wipkingen.(22. Juli2019)

JedenTagzehnSeiten

ViktorSchobingerhat


aufZürichdeutsch


40Krimisumden


ErmittlerÄäschme


geschrieben,dazu


Grammatikenund


Dial ekt-Wörterbücher.


Zeit füreinenBesuch


beidem84-jährigen


heiterenChrampfer


inZürich.


VonManfredPapst


K


ein Stäubchen liegt imgeräumi-
gen Wohn- und Arbeitszimmer,
kein Blatt Papier ist anders aus-
gerichtet als imrechten Winkel.
Der riesigeSchreibtisch mit
seinen zwei Computern gleicht
einerKommandozentrale. Akribisch sind die
Enzyklopädien aufgereiht.MehrereRegal-
bretter werden bevölkertvon denWerken,
die derBewohner dieser urbanen Eremitage
selbstverfasst hat. Dass die meistenvon
ihnen in Blau undWeissgehalten sind, ist
kein Zufall: Es sind die ZürcherFarben, und
ViktorSchobinger ist mitLeib undSeele Zür-
cher.Dem Zürichdeutsch gilt seinLebens-
werk,zeit seinesLebens hat er über diesen
Dialekt undvor allem in ihmgeschrieben.
Der gebürtigeWädenswiler erinnert nicht
nurwegen seiner zierlichenGestalt an ein
Heinzelmännchen; er ist auch sofleissigwie
die märchenhaftenKölner Hausgeister, und
wie siewirkt ergern imVerborgenen. Nach
der Matur am Literargymnasium Zürich
schlug er eineBanklaufbahn ein – trotz
einem Dreier in Mathematik!Lange Jahre
war erWerbeleiter der Zürcher Kantonal-
bank. Das war für ihn mehr als ein Brotberuf:
«Wer in derWerbung dauerhaft Erfolg haben
will, muss sich mit seinemProdukt und
seiner Firma identifizieren», sagtSchobin-
ger. «Und natürlich müssenWerbetexte kurz
sein, sofortverständlich und einprägsam.
Das ist nicht die schlechtesteSchreibübung.»

Von Salomozu Simenon
Gleichwohl füllte ihn derBeruf nicht ganz
aus.Schon als junger Mensch hatte er sich
für Sprachen begeistert und neben Grie-
chisch undLatein auchHebräischgelernt.
«Obwohl ich bereits damalsAtheist war»,
erzählt er, «hat mich das BuchSalomo in
seinenBanngeschlagen.Ich habe es ins
Schweizerdeutsche übersetzt, und es beglei-
tet mich bis heute.»Gegen den Einwand, der
Dialekt seivielleicht nicht diegeeignetste
Zielsprache für heiligeTexte,wehrtSchobin-
ger sich dezidiert. «Die Bibelwird oft eine
Stilschicht zu hoch übersetzt», sagt er.
«Dabei istgerade das NeueTestament in
einer ganz alltäglichen Sprachegehalten.
Daran habe ich mich bei meinerÜbertragung
des Matthäus-Evangeliums orientiert.»
Die zweite grosse Liebe neben Zürich ist
imLebenViktorSchobingers die Stadt Paris.

Sie besucht er seitJahrzehnten mindestens
zweimal jährlich; ihr hat er – natürlich auf
Zürichdeutsch – einen kundigenFührer
gewidmet, dessen dritte Auflage ergerade
vorbereitet. In ihm finden sich nicht nur die
obligaten Sehenswürdigkeiten, sondern
auchEcken, Gässchen und Plätze, die nicht
einmal die Einwohner der Stadtkennen.
«Dèèverthebet», hat ihm einKenner der
Stadt zu seinerFreudegesagt.
In Paris hatSchobinger auch schonfrüh
Georges Simenon und dessenKommissar
Maigret entdeckt. «Mir ist zupassgekom-
men», sagt er, «dass Simenon bewusst ein
sehr einfachesFranzösisch schreibt. Er hat
sich den Rat der Colette, ‹Vor allemkeine
Literatur, mein Kleiner!›, zuHerzengenom-
men. Gleichwohl schreibt er nuanciert.»
Der behäbige, nachdenkliche Pfeifen-
raucher Maigret hatSchobinger auf seinen
Polizeileutnant Ääschmegebracht.Übungs-
halber übersetzte er zunächst einmal Sime-
non ins Zürichdeutsche. «Das ging aber gar
nicht», erinnert er sich. «Deshalb habe ich
mirgesagt:Probierst du es halt selber!Meine
ersten beiden Krimis sind im Papierkorb
gelandet, beim drittenfasste ich dann Tritt.
MeinefrühenVersuche waren aber bis ins
Detail abhängigvon Simenon.»
Tatsächlichverbindet einiges Ääschme
mit Maigret:Auch er liefert sichkeineVerfol-
gungsjagden mit Gangstern und ballert nicht
in derGegend herum.Sein Revolver bleibt
meist in derSchublade. Er ist ein bisweilen
etwasverträumter Beamter, der seine Arbeit
macht. Aber erversteht dieMenschen, und
er hat eine besondere Affinität zu solchen,
die auf die schiefeBahngeraten sind.
Krimis müssen fürViktorSchobinger
geradlinig sein, rasch zurSachekommen
und bei ihr bleiben. «LangeLandschafts-
beschreibungen interessieren einen Krimi-
leser nicht», sagt er. An den neuerenFolgen
der erfolgreichenFernsehserie «Tatort»

Krimismüssenfür
ViktorSc hobinger
geradlinigse in.Lange
Beschr eibungenvon
Landschaftenwollen
Lesernicht.

missfällt ihm, dass die Ermittler dauernd mit
persönlichenProblemen kämpfen. «Die arme
Hagle!»Was nicht zwingend zumFall gehört,
fliegt bei ihm raus.Bewusstgelegtefalsche
Fährtenvermeidet er.
Gelegentlich sorgt sichViktorSchobinger,
dass ihm in seinen Krimis nachvierzig
Bänden allmählich die Themen ausgehen
könnten. Zur Panik besteht indeskein
Anlass:AchtneueFolgen hat er schon auf
derFestplatte gespeichert, und publiziert
werden sie dann,wenn derAutor eswill.

Hilfsmitte l, hausgemacht
ViktorSchobinger setzt auf dasPrinzip
Selbstverlag.Für ihn ist daskeine Notlösung,
sonderngewissermassen einGeschäfts-
modell. «Mit Dialektbüchern lässt sich ohne-
hin kaumGeld verdienen», sagt er. «Dann bin
ich doch lieber mein eigenerHerr, anstatt
Klinken zu putzen und mich imWarten zu
üben.» Alle seine Bücher sind bei der Buch-
handlungBeer an derPeterhofstatt im
Herzen Zürichsvorrätig. Direkt dorthin
gelangen auch dieBestellungen via Internet,
die immerwichtigerwerden.
Neben seinen Krimis und anderen erzäh-
lendenWerken hat sichSchobinger theore-
tisch und historisch eingehend mit dem Zür-
cher Dialekt beschäftigt. Einige seiner philo-
logischenWerke hat erverfasst,weil er sie
beimÜbersetzenvermisste.Sein Synonym-
Wörterbuch zumBeispiel hat er ursprünglich
in Angriffgenommen, um sich das Krimi-
schreiben zu erleichtern. «Hätte ichgeahnt,
auf was ich mich da einlasse, wäre ichwohl
schon am Anfangverzagt», sagt er heute.
Seine «ZürichdeutscheKurzgrammatik» ist
für Einsteiger so nützlichwie der Quer-
schnitt «Zürichdeutsch kurz und bündig».
Sein erfolgreichstes philologisches Buch ist
jedoch eines überZweifelsfälle:«Säit me soo
oder andersch?» Eine besondereHerausfor-
derung stellte für denAutor sein Buch über
den zürichdeutschen Grundwortschatz dar:
«Es ist für Zuwanderergedacht», sagt
Schobinger. «Deshalb darf es dieWörter nur
mit denjenigenBegriffen erklären, die es
auch selbst enthält.»
Ein besonders ehrgeiziges undzeitrauben-
desProjekt sindSchobingers genealogische
Forschungen. Seine «Quellensammlung zur
Geschichte derSchowinger»(sic!) setzt 1137
ein und führt bis insJahr 1600.Bauern,

Handwerker und Kaufleutekommen hier
vor; Adlige allerdings nicht. Siebenvon neun
geplanten Werken sind erschienen. «Natür-
lich kann ich nicht behaupten, dass alleMen-
schen, die in den entsprechenden Urkunden
erwähntwerden, mit mirverwandt sind»,
sagtSchobinger, «aber immerhin heissen sie
so.» Das Entziffern der historischenTexte hat
er sich selber beigebracht, und er hat den
Anspruch, dass seinefamiliengeschichtliche
Arbeitwissenschaftlichen Ansprüchen
genügt. Dass er nicht einfach,wie er es in
seinem Alter ohneweitereskönnte, seinen
Lebensabendgeniesst, erklärt er mit seinem
ererbten Arbeitsethos. «Auchwenn man sich
wie ichvom Gottesglauben abgewandt hat


  • denZwingli in sich ist man noch langenicht
    los», sagt er lachend.
    Damit er seineVorhaben in dieTat umset-
    zen kann, legt sichViktorSchobinger jeweils
    einJahresprogramm an.Zwölf Wochen
    gelten der Sprachforschung,weitere zwölf
    derGenealogie.Wenn das Krimischreiben
    dran ist, steht er um fünf oder halb sechs Uhr
    morgens auf und beginnt sofort mit der
    Arbeit. «DasTagwerk ist erst beendet,wenn
    ichzehnSeiten im Kasten habe. Daranver-
    suche ich mich eisern zu halten.» Unterbro-
    chenwird die Arbeit lediglich durch das Mit-
    tagessen im nahegelegenen Stammlokal.
    «Ich habe einerollende Planung», fügtScho-
    binger mit seinem typischenHumor an,
    «aber einesTages hat es sich ausgerollt.»
    Obwohl ViktorSchobinger ein akribischer
    Mensch ist, zählt er sich nicht zu den Sprach-
    pflegern und schon gar nicht zu denPuristen
    unter ihnen.Seine grammatischenWerke
    folgen zwar normativen Prinzipien, aber als
    Autor pflegt erkeinenretrovertierten Dia-
    lekt. Erfragt nicht, obWendungen alt oder
    neu, schön oder hässlich seien.Was von den
    Leutengebrauchtwird, nimmt er auf.
    Simenon hat seinen Maigret mindestens
    einmal pensioniert, es dann aberwieder
    vergessen. SherlockHolmes durfte an den
    Reichenbachfällen nicht umkommen,weil
    seineFans bei Arthur ConanDoyle protes-
    tierten.AuchSchobinger lässt Ääschme noch
    nicht sterben. In seinerPublikationsliste
    trägt der Krimi «De Ääschme und sin letschte
    Fall» denVermerk «Erscheint,wenn ichtot
    bin». Im jüngstenBandwird übrigens ein
    Journalist umgebracht.«Sie lebengefähr-
    lich!», sagt derAutor zum Abschied.


114


So viele Titel
umfasst die Liste
der Publikationen
Vikt or Schobingers.
Sie zählt Krimis,
philologische und
historische Werke.

1137


Mit diesem Jahr
beginnt die Chronik,
die der Autorzur
Geschichte der
Familie Schobinger
erstellt hat.

8


So viele Tage nimmt
die Niederschrift
eines Krimis für den
Autor in Anspruch,
nachdemdieRecher-
chen erfolgt sind.

Herr der Bücher

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