NZZ am Sonntag4. August 2019
Kultur 51
Wirsind alle selbstschuld
Die Serie «Years andYears»führtvorAugen,wiedieWeltinfünfzehnJahren aussehenkönnte,wennwir
nichtstungege nEntwicklungen,diesichheuteschonabzeichnen.Von DeniseBucher
W
ie soll das blossweit ergehen?
Das fragt man sich öfter,wenn
man die Zeitungweglegt oder
- wahrscheinlicher –vom Bild-
schirm aufblickt.Genau dieseFrage liegt der
britischen HBO-Miniserie«Years andYears»
von Russell T Davies zugrunde, die 2019
beginnt und fünfzehnJahre in die Zukunft
blickt. Davies spielt durch,wie unsere
Gesellschaft sich entwickelnkönnte ange-
sichts der zunehmenden Ungleichheit, des
erstarkendenPopulismus und Rassismus,
der zunehmendenHomophobie, des Klima-
wandels und der zunehmenden digitalen
Überwachung. DieSerie ist eineAcht erbahn-
fahrt an spekulativer Fiktion, fühlt sich aber
nicht anwie Science-Fiction,weil die
Geschichte zu sehr in Diskursen undProble-
men unsererGegenwart verankert ist.
Im Zentrum steht dieFamilieLyons, deren
Oberhaupt ist die Urgrossmutter Muriel
(AnneReid). Man lernt sie in der inatem-
losemTempo erzählten erstenFolge kennen,
die fünfJahre in die Zukunft rast. 2020wird
Trumpwiedergewählt, kurz daraufwirft er
eine Atombombe auf eine Militärbasisvor
China ab. Die nördlichenPolkappen sind
geschmolzen,Putin hat die Ukraine annek-
tiert, was unzähligeMenschen zur Flucht
zwingt. Einervon ihnen istVictor (Maxim
Baldry), der seineHeimat wege n des Kriegs
und mehr nochwege n seinerHomosexuali-
tät verlassen musste. Erverliebt sich in einen
der Lyons undwird Teil derFamilie.Muriels
UrenkelinBethany lässt sich ein Smartphone
in die Hand implantieren. Damitwird die
PopulistinVivienne Rooks (Emma Thompson)weiss, wie man die Massenverführt.
Hackerin zu einer derwenigen, die sich
gege n die IndustrielleVivienneRook (Emma
Thompson)wehren können.Rook – so blond
wie MarineLe Pen, Donald Trump undBoris
Johnson –weiss, wie man mit Big Data die
Massen manipuliert, undgewinnt als Anfüh-
rerin der populistischen«4 Stars»-Partei
immer mehr Macht.
Es geschieht soviel in «Years andYears»,
dass manche der aufgegriffenen Themen
sich verlieren oder nicht dieAufmerksamkeit
erhalten, die man sich erhofft hätte. DieSerie
wirkt darum manchmalwie ein fiebriger
Traum und ist insofern eine akkurate Refle-
xion unsererGegenwart. Immerwenn das
Erzähltempo etwas nachlässt, hat man Zeit,
sich mit einerWelt vertraut zu machen, die
man nachwie vor für undenkbar hält,weil
man sich nichtvorstellen kann,wie einfach
es ist,von Populistenverführt zuwerd en, die
das Ende derDemokratie und damitweit er
wachsende Ungleichheit herbeiführenkönn-
ten. In «Years andYears» teilen baldZäune
mit bewachten Durchgängen die Städte in
Zonen,welche die Armen undFremden –
laut Rook Kriminelle –von den anderenfern-
halten sollen. Immigranten werd en inLager
gesperrt; mit Störsendern in der Nähe der
Lager kapptRook den Handyempfang. Iso-
liert und hilflos warten dieMenschen auf
ihre Ausschaffung. Es ist, als ob Davies mit
Rook und den ihr gleichgesinnten Politikern
SteveBannons Traum wahr machenwürde.
Als dieser noch TrumpsBerater war, sagte er
einmal: «Bevor man eineGesellschaft umfor-
men kann, muss man siezerstören.»
«Years andYears» führtvor Augen, wie
einfach das sein kann.Voraussetzung ist,
dass der anhaltende Alarmismus uns ent-
weder gleichgültig oder ängstlichgenug und
dadurch empfänglich macht für die schein-
bar einfachenLösungen, mit denenPopulis-
ten uns umwerben – sowie eine derLyons,
die aufRook hereinfällt und später die Kon-
sequenzen ihres Tuns am eigenenLeib zu
spüren bekommt.
Weil «Years andYears» so nahe an unserer
Realität bleibt, ist dieSerie erschütternd – all
den schwarzhumorigen und sogar hoff-
nungsvollenMomenten zum Trotz. Die
Frage ist, ob Davies seinPublikum damit zu
Einsichten bringen kann, zu denen seine
Figurenkommen.So erinnert die Matriar-
chin Muriel am Ende daran: Es liegt an uns,
wie es weit ergeht. Anderen dieSchuld zu
geben und zu glauben, das eigene Handeln
habe nichts zu tun mit demGeschehen auf
der Welt, ist bequem undfeige.
Der Engländer
(*19 63 ) schreibt seit
1991 Serien, etwa
«Dr. Who» (2005)
oder «AVeryEnglish
Scandal» (2 01 8).
Hugh Grant spielt
darin den schwulen
Chef der damaligen
LiberalParty.
Russell TDavies
Liebe Mobiliar,
gibt’s grosse
Gefühle
nur im Kino?
MayaRochat,fotografiertvon
PeterLindbergh
Emotionen bewegenunsereZukunft.
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fürdie Zukunft derSchweiz.