Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZ am Sonntag4. August 2019
Kultur

Heute bitte


nicht wie


immer


E


igentlichkönnte ich
mich jafreuen.Der
Pizzaiolo amBelle-
vue begrüsst mich
wie einen alten
Bekannten. Mehr
noch: Er schiebt dieSortevon
Pizzaschnitz, die ich bei ihm
gern esse, in den Ofen, ohne
meineBestellung abzuwarten.
Prosciutto e funghi.Als ichvor
langer, langer Zeit das schät-
zungsweise dritte Mal bei ihm
war,fragte er:«Wie immer?»,
und mein damaliges Nicken hat
er offenbar als «von jetzt an
immerwie immer» ausgelegt.
Mir soll esrecht sein.Ich ver-
pflege michgern hier,wenn ich
viel Hunger undwenig Zeit habe.
Lieber als beim Grossverteiler,
der übrigensweder gut noch
günstig ist und mich zudem zu
einer Art der Nahrungsaufnahme
nötigt, die einesMenschenvon
Bildung undGeschmack nicht
würdig ist. AmBellevue kann ich
sitzen, am liebsten auf der halb-
rundenHolzbank, notfalls auf
einem der zusammengeketteten
Stühle, und ich muss mir das
heisseitalienischeRestebrot
nicht auf dieWeise zuführen, für
die dasSchweizerdeutsche den
Begriff «in Grind inetrucke»
bereithält.Ich trage stets einen
unzerbrechlichenTeller,Besteck
und eine Stoffserviette bei mir,
denn meine gute alteLeder-
mappe mit denvielenFächern
ist auch einPicknickkoffer.Des-
halb kann ichgepflegt essen und
mir das Treiben auf dem Platz
ansehen, während das junge
Volk um mich herum sich die
wie Teppiche zusammengeroll-
ten Pizzen aus dem Karton in die
Mäuler stopft, dassMozzarella
undTomatensauce nur so über
Hemd undHose tropfen.
Nunfragen Sie sich sicher,
wieso ich dieseKolumne mit
demSatz «Eigentlichkönnte ich
mich jafreuen» begonnen habe.
«Warum ‹eigentlich›,werden Sie
sagen; derKerl freut sich doch
rundum!»Doch ganz so einfach
ist es nicht. Es schmeichelt mir
zwar, dass man meineGewohn-
heiten kennt. Gleichwohl will ich
nichtfestgelegtwerden. Es
könnte ja sein, dass mir der Sinn
auch einmal nachPizza mit
Salami und grilliertemGemüse
steht – oder nach einer mit Man-
darinen aus derDose. Nicht,weil
ich diegern esse, sondernweil
MaxGoldt geschrieben hat, das
sei die affigstePizza überhaupt.
Will sagen:Wer die probiert hat,
der kann mitreden – sowie einer,
der imDschungelcamp über-
nachtet, eine Psychoanalyse
absolviert oder einen Artikelvon
Sloterdijk ganzgelesen hat.
Ich werde meinemPizzaiolo,
wenn er mir schonvon weitem
zuwinkt,gestikulierend zuver-
stehengeben, dass ich ihm heute
etwas sagen muss, bevor er die
Pizza mitSchinken undPilzen
belegt. «Diesmal mit Mandari-
nen!»,werde ichrufen. Natürlich
wird er bedauernd beteuern, die
habe er nicht, doch daswird ihm
nichts nützen, denn schon habe
ich aus den Tiefen meiner Mappe
einSchälchen mit den sirupsüs-
senSchnitzengezogen.
Wenn derPizzabäcker mich
danach immer noch grüsst, ist er
tatsächlich meinFreund.

Zugabe


ManfredPapst


EinRuckgeht durchdie


britischeMusikszene


Songs über dasBrexit -Chaos, brennendeHochhäuser,Berufsheuchler:Zorn undZeitgeist


dominieren dieAuswahlliste des Mercury-Preises.Von HanspeterKünzler


P


olitisch droht Grossbritannien im
Chaos zuversinken. der neuePre-
mierminister scheint das eher
beschleunigen alsverhindern zu
wollen. Da ist eskein Wunder, dass auch die
Musiker nochweniger auf harmonischeTöne
setzen als ohnehin üblich.Wie angeheizt die
Stimmung in der Szene ist,zeigt sich beson-
ders deutlich bei den Nominierungen für den
diesjährigenMercury-Preis.Für dieVerlei-
hung sind böse politischeSeitenhiebevorge-
plant. Die Listewird von Nominierten domi-
niert, deren Alben sich mit den sozialen und
politischenWidersprüchen beschäftigen, die
Grossbritannien derzeit im Griff haben.
EinRuckgeht durch dieMusikszene, und
derMercury-Preis istkein schlechter Ort, um
den deutlich zu machen. Erwurde 1992erst-
malsverliehen und soll im Unterschied zu
vielen anderenAwardswederkommerziel-
len Erfolg belohnen noch sich auf bestimmte
Stilrichtungen konzentrieren. NeueMusik,
Folk, hartgesottenerJazz und afrikanische
Klängefinden ebenso Platzwie Sting und
SimplyRed, sofern dieKünstler einen per-
sönlichenBezug zu Grossbritannien aufwei-
sen.Den Preis sollte das beste Album des
Jahres erhalten, das musikalisch oder thema-
tisch Akzente setzt.

Depression, Umweltschutz
Das kamvieleJahre nur bedingt zumAus-
druck. Die Entscheidung tätigte ein kleines
Komitee, das bei derAuswahl der Sieger
selten über den Rand desrockigen und pop-
pigen Mainstreams hinausblickte. Die Liste
derfrühenGewinner war sokonventionell,
dassGorillaz imJahr 2001verlangten, aus
der Nominiertenlistegestrichen zuwerden;
manwolle nicht einLeben lang einen «toten
Albatros» um den Hals tragen. Nun hat sich
das Bild deutlichgeändert. Die Umstruktu-
rierung desAuswahlkomitees brachte fri-
schenWind. Statt anonymen Experten
gehören dem 12-köpfigenKomitee nebst
Radio-DJ undVertretern derMusikpresse
inzwischen auchKünstler an. DiesesJahr
sind esJorja Smith, Gaz Coombes, Stormzy
undJamie Cullum.Auchwenn darin unter
anderem Elektronika,Folk undHeavy Metal
fehlen, ist ihnen mit ihrer Liste so etwaswie
einBarometer des nationalen musikalischen
Aufbruchsgelungen.
Die politische Situation mitDonald Trump
auf der anderenSeite desAtlantiks und dem

Brexit-Chaos daheim (mitAusnahmevon
Who-Sänger Roger Daltrey undMorrissey
stellte sich dieMusikwelt praktischgeschlos-
sen hinter dieRemain-Bewegung) habe
wenigstens eine positiveSeite, erklärte
MartinGoldschmidt, Direktor des Indie-
Labels CookingVinyl, schonvor geraumer
Zeit: «Zu langehabenwir uns mitfader, blei-
cherMusik begnügen müssen.Der Zorn und
dieFrustration junger Menschen über die
Situation, in derwir uns befinden,werden
die musikalischeLandschaft umpflügen.»
DieMercury-Liste gibt ihmrecht.Sogar
die aufkommerziellerEbene höchst erfolg-
reichenFoals, nominiert für «Everything Not
Saved Will Be Lost Part 1», beschäftigen sich
auf diesem Hit-Album mit Themenwie
Depressionen, Umweltschutz und politischer
Unsicherheit. Dass sich punkige Gitarren,
gepaart mit eingängigenRefrains und leiden-
schaftlichemGebrüll, ausgezeichnet dazu
eignen, Zorn zu markieren,wissenwir spä-
testens seitJohnnyRotten und «GodSave
the Queen».
Es überraschtwenig, dass angesichts der
Ohnmachtsgefühle, die die chaotische Bre-
xit-Politik derTory-Parteirundumgeweckt
hat, eine neueWellevon Punk-BandsAuf-
windverspürt. Gleich zweiBands aus dieser
Eckesind auf derMercury-Listevertreten.
DieIdles aus Bristol machen ihrePosition
schon mit dem Albumtitel «Joyas anAct of
Resistance» deutlich.Textlich äusserst prä-
zise, nehmen sie klassischePunk-Themen
wie das Arbeitslosendasein imHochhaus
und Drogenelend unter die Lupe, setzen sich
aber auchvehementgegen Rassismus und
Xenophobie zurWehr.Aus Dublin stammen
Fontaines DC, die mit dem klanglichenVoka-
bularvon The Smiths und TheFall wort-
gewaltig ein DublinvollerverlogenerBerufs-
heuchler beschreiben. Die beiden Alben
erfinden das Rad nicht neu, strotzen abervor
Energie (Idles) und herrlich düsteren Unter-
tönen (Fontaines DC).
Während infrüherenJahren Nominierun-
gen aus demJazz-Bereich kaum mehr als
eine Alibifunktion hatten, ist dieLageheuer
völlig anders. In den Klubsvon Ost- und Süd-
london ist ein junges Netzvon Jazz-Kollekti-
ven herangewachsen, die in ihren Stücken
oft brisante Themen ansprechen. Es dürfte
derJury nicht leichtgefallen sein, aus einer
langen Reihevon bemerkenswerten Alben
ein einziges auszusuchen. «Driftglass»vom

SEED-Ensemble beschäftigt sich unter ande-
rem mit Rassismus («Darkies») und den poli-
tischenVerknüpfungen undVertuschungen,
die um die Brandkatastrophe des Grenfell
Tower aufgedecktwurden.

«Nothing great about Britain»
Gleich drei Rapper tauchen auf derMercury-
Liste auf – ein Zeichen dafür,wie die briti-
sche Szene nicht zuletzt dank dem Einfluss
und Erfolgvon Grime-Stimmenwie Stormzy
und Skepta neueRelevanzgewonnen hat.
«Grey Area» ist das dritte Album der Rappe-
rin Little Simz, die sich unter anderem mit
Gewalttätigkeit und Ungleichheit zwischen
denGeschlechtern befasst. Und der 24-jäh-
rige Slowthaizeigte mit seinemDebüt-
Album, dass das britischePublikum sich
selbstkritischeGedanken anhört. Es hiess
«Nothing Great About Britain» und landete in
denTop 10. Daveschliesslich hat mit «Psy-
chodrama» einkomplexes Albumgeschaf-
fen, dessen musikalischesVokabularweit
über die Grenzen des Hip-Hops hinausreicht.
MitAusnahme der chromgleissendenPop-
band 1975 passen auch dierestlichen Nomi-
nierungen nicht in herkömmlicheSchubla-
den.Besonders auffällig sind die subtilen
R&B-Liedervon Nao und der furiosePost-
ProgressiveRockvon Black Midi.Für einmal
wird eineMercury-Shortlist nicht nur der
ursprünglichen Zielsetzung desMercury-
Preisesgerecht, sondern auch dem Zeitgeist.

Legte mit «Psychodrama»ein
komplexes Albumvor: der junge
Hip-Hop-Sänger Dave, hier bei
seinem Auftritt am Glastonbury
Festival. (30.Juni 2019)

© BEGGARS

DieBand Black Midi
inszeniert sich mit
Avatar-Bildern aus
dem Computer:
Matt Kwasniewski-
Kelvin, Geordie
Greep, Cameron Pic-
ton und Morgan
Simpson(v.l.).

Es überrascht
wenig, dass eine
neueWelle von
Punk-Bands
Aufwind verspürt.
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