Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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Tipps


Riesen in Bregenz


Thomas Schütte.Kunsthaus Bregenz, bis




    1. Publikation imOktober.★★★★★




In Bregenz sind Riesen eingefallen. Sie ste-
hen auf demzentralen Platz um Theater und
Kunsthaus. Einer trägt seinGesicht in der
Hand, ein anderer hält eine schlappeFahne
vor sich hin. Und ein Urvieh mit demKopf
eines Pferdes und demSchwanz einerRobbe
stösstgelegentlichWasserdampf durch seine
Tapirnüstern.Bedroht muss sich dieFest-
spielstadt amBodensee dennoch nicht füh-
len.Auchwenn dergesichtslose Mann eine
Jakobinermütze trägt, istvon Revolution
nichts zu spüren. ImGegenteil: DieFüsse der
beiden Männer stecken im Matsch ihrer
riesigenSockelfest. ThomasSchütte, einer
derwichtigstenKünstler unsererTage, sieht
in den übervier Meter hohenKolossen aus
Bronze«Suchende». Statt Helden oderHerr-
scherzeigt erVerunsicherte undFragende.
Der in Düsseldorf lebende Bildhauer,
Maler, Grafiker, Zeichner und Architekt
(*1954) reagiert mitfeinemHumor auf die
eigene Zeit. Als«Seismograf, der die Ereig-
nisse mitzittert» hat er seinSelbstverständ-
nis alsKünstler einmal beschrieben. Inwel-
cherVielfalt er das tut,zeigt die Bregenzer
Ausstellung.Modelle fürteilweiserealisierte
Bauten,wie etwa seine Skulpturenhalle in
Neuss bei Düsseldorf, sind ebenso zu sehen
wie eineAuswahlvon wuchtigenFrauen-
skulpturen auf Eisentischen, die aufVorläu-
fer wie Rodin,Picasso oderJeff KoonsBezug
nehmen.Bevor man im oberstenGeschoss
auf drei «Männer imWind» trifft: monumen-
tale Bronzen, dievon Spielzeugfiguren abge-
leitet wurden und mit ihrenwulstigenKör-
pern und Kindergesichtern wie Gestalten aus
einem Albtraumwirken, dessenGeschichte
wir nicht mehrkennen.
Umgeben sind sievon Tuschezeichnungen
von Blues-Musikern.Schütte sagt in einem
Gespräch mitKunsthaus-Direktor Thomas
D. Trummer, dasser siegemacht habe, als er
gemerkt habe, dass er noch etwas fürdie
Wände der Galerie brauche, in derer die
Figuren in NewYork zeigte. Er lud sich nachts
Fotos von Musikern auf den Computer und
zeichnete sie ab. Was in jeweilswenigen
Minuten entstand, ist nicht nur einprivates
Album des eigenen musikalischenKosmos, es
wird in Bregenz auch zueinemwunderbaren
Gesprächspartnerfür die bronzenen Riesen.
DieMelancholie des Blues,die Sehnsucht und
Verletzlichkeit der in schnellen Strichen um-
rissenenGesichter finden sichauch in den
krudenGestalten.Gerhard Mack

Ausstellung


Kurz und knapp


Thomas Schütte: «Drittes Tier», 20 17.

TH OMAS SCHÜTTE/ PRO LITTERIS / KUNSTHAUS BREGENZ

Kurz und knapp


Skin★★★★✩
Bryon (JamieBell) ist Mitglied
des rechts extremen Vinlanders
Social Club.Als er sich verliebt,
beginnt er sich zu hinterfragen.
Das ergreifende Drama beruht
auf derwahren Geschichte von
Bryon. Erschrieb das Drehbuch
zusammen mit dem jüdischen
Regisseur Guy Nattiv.(dbc.)

Compañeros - La noche de
12 años★★★★✩
1973, Militärdiktatur in Uru-
guay: Drei Männer der Tupa-
maros-Guerillaversuchen als
Gefangene des Regimeszwölf
Jahre langschwerste physische
und psychischeFolter zu über-
stehen. Ein klaustrophobischer,
visuellundschauspielerisch
starkerFilm-Essay.(ebs.)

Fast& Furious: Hobbs & Shaw
★★✩✩✩
Ein Cyborg (Idris Elba) will mit
einem Supervirus dieMensch-
heit vernichten, Hobbs(Dway-
ne Johnson) und Shaw (Jason
Statham) müssen dasverhin-
dern. Testosteron-Kino nach
Rezept fürFans von röhrenden
Motoren, Waffen,Explosionen,
Muskelbergen und dekorativen
Frauen in Nebenrollen.(dbc.)

Freundliche
Übernahme

Parasite.★★★★★
Südkorea 2019, 132 Min.Von:
Joon-ho Bong. MitKang-ho Song,
Yeo-jeongJo, Woo-sik Choi.

DieFamilievon Ki-taek (Kang-ho
Song) sitzt buchstäblich in der
Scheisse:Während einesGewit-
ters wird ihreKellerwohnung
mit Abwassergeflutet, das aus
den Gullys auf die Strassen
dringt. Sie sitzen im Dreck der-
jenigen, die es sich leistenkön-
nen,weiter oben in der Stadt zu
wohnen.So wie dieFamilie Park,
für die zuerst nur Ki-taeksSohn
Kim Gi-u arbeitet: Er bringt der
Tochter Englisch bei – und heim-
lich noch zwei, drei andere
Dinge. Als Mrs. Park Kim Gi-u
von ihrem schwierigen kleinen

Kino


Sohn erzählt, den sie für ein
Kunstgenie hält, empfiehlt Kim
Gi-u ihr kurzerhand die sehr
begabteKunstpädagoginJessica.
Dass diese seineSchwester ist,
sagt er nicht.Jessicawird einge-
stellt.Weil es so einfach ist, bei
den ParksGeld zuverdienen,
sorgen dieGeschwister mit ein
paar Tricks dafür, dass die Parks
auch bald einen neuen Chauf-
feur und eine neue Haushälterin
brauchen. Es läuft alles nach
Plan für die «Parasiten», als die
die stets höflichen Parks ihre
Angestellten letztlich sehen, bis
eines Nachts die entlassene
Haushälterin zurückkehrt.
Die Tragikomödie des süd-
koreanischenRegisseursJoon-
hoBongist in dessenHeimat
angesiedelt,könnte aber überall
auf derWelt spielen,weil die
Unterschiede zwischen Arm und
Reich überall grösserwerden.

Joon-hosAuseinandersetzung
mit derZweiklassengesellschaft
istwitzig statt moralisch und
bewegt sichformal auf einer
vertikalenAchse: Ki-taeksFami-
lie steigt hoch zu den Parks und
hinunter in ihreKellerwohnung.
DiesesAuf- und Absteigenwie-
derholt sich auch innerhalb der
Villa:Ausser dem sichtbarenTeil
aus Glas undBeton gibt es in
diesem Haus auch einenKeller.
Und unterhalb desKellers einen
Bunker. Die Parks habenkeine
Ahnung, überwessenKöpfen sie
sich bewegen. Siewissen nicht,
dass das Flackern der einen
Lampekein Wackelkontakt ist,
sondern ein stummer Hilfe-
schrei.Auch nicht, dass der
Geist, der ihren kleinenSohn
traumatisiert hat,kein ätheri-
schesWesen ist, sondernviel-
mehr etwas, das die Parks nicht
sehenwollen.Denise Bucher

DieFamilievon Ki-taek (Kang-ho Song, 2.v. l.) hat einen Plan, um der Armutzuentkommen.

Musi k imZürcher


Zauberrund


Klassiksommer★★★★★
Serenaden imPark:Vill a Schön-
berg, Züri ch (bei Regen: Kirche
Enge).VivianeChassot (Akkor-
deon),7. August,19.30 Uhr.

ImHerbstwerden die Zürcher
wieder in dieTonhalle Maag
strömen, irgendwannvielleicht
auchwieder in die alteTonhalle.
Und ja:Dort wird grossartig
musiziert.Wer aber dieserTage
dasVergnügen hatte, im Park der
VillaSchönberg zu sitzen oder zu
liegen, der begriff, dassKonzerte
eben längst nicht nur diePro-
duktionvon wohlgeformten
Tönen sind. Im Parkgeht es um

Bühne


vielerleiGenüsse. Die Unge-
zwungenheit und Natürlichkeit
bei diesenSerenaden ist für
ZürcherVerhältnissegeradezu
einzigartig. Sierührtwohl daher,
dass alleBesucher undBesuche-
rinnen irgendetwas in diesem
Zauberrund unglaublich schön
finden: die einen dieMusik, die
anderen dieWiese und die die
Villa umgarnendenBäume, die
dritten ihre mitgebrachten
Scotch Eggs und den sprudeln-
denLambrusco, dievierten den
Platz auf derPicknick-Decke, die
fünften den Kartenpreisvon
20 Franken.
Die Stadt lädt zu diesenKon-
zerten,FrankHorn gestaltet die
hochamüsanten Programme:
bald unterhaltend, bald seriös,
bald überraschend. Und biswei-

lenwie beim letztenKonzert
diesesSommers alles miteinan-
der. Dann nämlich spielt die
Schweizer Akkordeonistin
Viviane Chassot mit dem Pacific
QuartetViennaWerkevon
Brahms, Dvořak undPiazzolla.
Aufgepasst: Die Sitzplätze
sind begrenzt, dochwer eine
Decke mitnimmt, kann auf der
Wiese immer Platz finden,wenn
er minime akustische Abstriche
in Kauf nimmt.Auf dem eigenen
Liegestuhl sitzt man gar auf den
«teuersten» Plätzen.
Und nebenbei:Keiner muss
sein Essen selbst mitbringen:
«Serenadenbuffet mit Essen und
Trinken in der Orangerie, gleich
nebenan» heisst es in der schö-
nen Sprache derVeranstalter.
ChristianBerzins

J. Statham, D. Johnson.

Das S-ensemble locktedie
Zürcherinnen und Zürcher in
denPark derVilla Schönberg.

Erich Hackl: Im Leben mehr
Glück.Reden und Schriften.
Diogenes, Züri ch 2019. 424S.,
um Fr. 38.–.★★★★✩

Seit vielen Jahrenkennen wir
den oberösterreichischen Autor
Erich Hackl als gewandten und
engagierten Er zähler. In fünf-
undzwanzig Sprachen liegensei-
ne Werkevor. Besonders mit den
Erzählungen «Aurora s Anlass»
und «Abschiedvon Sidonie», die
in seiner Heimat Schullektüre
sind, hat er die Aufmerksamkeit
einer internationalen Leser-
schaft gewonnen. Um die litera-
rischen Moden des Tagesküm-
mert sich der Steyrer nicht. Er
schreibt eine klare, griffige Spra-
che und greift,was seine Stoffe
betrifft,oft aufwahre Begeben-
heiten zurück. In der Sammlung
von Essays und Reden, die zu

seinem65.Geburtstag erschienen
sind,zeigt sich Hackl, der Germa-
nistik und Hispanistikstudiert hat,
in beiden Kulturkreisen zu Hause
ist undteils in Wien,teils in Madrid
lebt, als einer, der sich auf die kriti-
sche Beobachtungversteht, vor
allemaberaufs Loben. Sover-
schieden die Anlässe seiner Texte
sind – wir finden Laudationes und
Nekrologe, Nachworte und Remi-
niszenzen, auch Plädoyers fürver-
gessene Kollegen –,so persönlich
und damit einheitlich ist der Ton.
Es geht Hackl um dienendeVer-
mittlung. Hinter dem Titel «Von
der Angst, dass einem einer
abhandenkommt»verbirgt sich
eine Würdigung des Schweizer
AutorsNiklaus Meienberg, der
«Besuch beieineralten Schachtel»
ist einfaszinierendes Gespräch
mit derfast hundertjährigenThea
Lüftig in Argentinien.(pap.)

Litera tur


SerenaFisseau,VincentPeirani:
So Quiet.ACT/Musikvertrieb.
★★★★✩.

Den französischenAkkordeon-
virtuosen VincentPeirani muss
man in Jazzkreisen nicht mehrvor-
stellen. Mit dem Pianisten Michael
Wollny, dem Saxofonisten Emile
Parisien undanderen hat der 19 80
in Nizza geborene Musikerschon
bemerkenswerte Einspielungen
vorgelegt. Ein Neuling beiseinem
Münchner Stammlabel ACT ist
dagegen die Sängerin Serena
Fisseau. Sie hat französische und
indonesische Wurzeln, eine sanfte,
bisweilen etwas piepsige Stimme,
und sie istPeiranisLebenspartne-
rin. Als praktizierende Eltern sin-
gen die beiden ihren Kindern Enzo
und Izao Liedervor. Aus dieser
Praxis haben sie die Idee zu ihrem
Album «So Quiet» entwickelt. Es

zählt zu jenen Produktionen, die
in keine Schublade passen. Es
gibtzwar leise Anklänge an den
Jazz, etwa wenn Fisseau und
Peirani Standards wie «What A
Wonderful World» oder «Over
the Rainbow» intonieren, aber
auch das Chanson istvertreten,
beispielsweise mit «La Javanaise»
von Serge Gainsbourg und «La
Tendresse», dem Lied, dasBour-
vil 1963 berühmt mac hte. Tradi-
tionelle Melodien ausFrankreich
und Indonesienfehlenso wenig
wie das portugiesisch gesun-
gene «Luiza»von Antônio Carlos
Jobim und derBeatles-Song
«And I Love You». Die Musik ist
meist ruhig,so wie der Titeles
verspricht. Lediglich einschlä-
fernd aber ist sie nicht. Auch mit
lebendigen Rh ythmen und sanf-
ten Synkopenweiss sie uns zu
verführen.(pap.)

Weltmusik


Heinz Holliger, György Kurtag:
Zwiegespräche.ECM 2019
★★★★★

80 Jahre alt ist der Komponist,
Dirigent und Oboist HeinzHolliger
im Frühling geworden und ent-
locktseinemHolzblasinstrument
immer noch wundersamwarme
Töne. «Zwiegespräche» lautet eine
CD, auf der Werke des Schweizers
und des Ungarn György Kurtag
(*19 26) zu entdecken sind, die
«Brüder»ehren sichgegenseitig.
Es sind Werke, die zuBotschaften
undBekenntnissen werden. Zu
hören ist aber auch Holligers 19 99
revidierte Oboensonatevon
1956/57. Der Komponist ist als
Oboist, Englischhornist und Pia-
nist zu erleben. Es wird auf dieser
stimmungsvollen und überaus
vielfältigen Aufnahme aber auch
gesungen undrezitiert.(bez.)

Klassik


Passen inkeine Schublade:
SerenaFisseau undVincent
Peirani.

SYLVAIN GR

IPOIX
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