Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

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NZZ am Sonntag4. August 2019
Schweiz

Classepolitique


Ueli Maurer,Redner, spricht mit
gespaltener Zunge. DerBundes-
präsidentreferierte am 1. August
zum Rahmenvertrag mit der EU
und sagte dabei, auch derPunkt
der «automatischen Rechtsüber-
nahme»sei nochkeineswegs
geregelt. Ebenso ungeregelt
scheint die Kommunikation im
Bundesrat. Schliesslich predigt
Kollege Cassis durchs ganze
Land, derVertrag umfasse eben
keine automatische Rechtsüber-
nahme,sondern eine dynami-
sche, bei der dasVolk das letzte
Wort habe. Doch bei aller Dyna-
mik von Cassis – Maurer hört da
offenbar automatischweg.

Martin Neukom,Neuling, sucht
Profil. Wer in den letzten Tagen
den Zürcher Regierungsrat über

die englische Seitevon Google
suchte, stiess zwar auf dessen
Biografie, die aber mit einem
Bild von ParteikollegeBastien
Girodversehenwar. Derlei irre-
führende Werbungscheint bei
den Grünen mittlerweile System
zu haben: Auchwo bish er Top-
model Tamy Glauser draufstand,
taucht nun als Nationalrats-
kandidatin plötzlich Kantons-
rätin Esther Guyer auf.

A


n derFeier zum 1.August war die
Stimmung in Häggenschwil
bedrückt. EndeJuli war bekannt
geworden, dass dasrussische Erd-
gas-Unternehmen Gazprom dasFest mit
sieben MillionenFranken unterstützt.Der
Gemeindepräsident erklärte zunächst, er
habe nichtsvon der Spendegewusst, dann

kündigte er eine Untersuchung an.Schliess-
lich hielt erfest, dass durch die umstrittene
Partnerschaft das Ziel der Häggenschwiler
1.-August-Feier, nämlich dieVermittlung der
Stärken des St. GallerFürstenlandes, infrage
gestelltwerdenkönnte. Der Gemeindepräsi-
dent blies das Gazprom-Sponsoring ab. Eine
Fahne imWind ist einAusbund an Standhaf-
tigkeitverglichen mit diesemPolitiker.
Einmalwurde ruchbar, dass er heimlich
das Bürgerrecht der Nachbargemeinde
Wittenbach angenommen hatte. Als man in
der «Krone» darüber zu tuscheln anfing, gab
er das Bürgerrecht umgehend zurück und
erklärte, er sei Häggenschwiler mitLeib und
Seele. Unvergessen auch derMoment, in
dem er dieTotalrevision desGemeindegeset-
zes mit der Hilfevon bunten Klötzen zu
erklärenversuchte. Es war schrecklich pein-
lich.Was demGemeindepräsidenten aber
niemand sagte, denn erfand dieIdee furcht-
bar originell. Er findet auch seinSofa mit
dem bunten Stoffmuster schön:Wenn man

dievielen hellblauen Blumen lange genug
anschaut, ist der Effekt ähnlichwie nach
demKonsum dreier Haschisch-Joints. Das
Problem desGemeindepräsidenten ist, dass
er dazu neigt, dieMeinung derPerson zu
übernehmen, mit der er zuletztgesprochen
hat.Wenn man täglich mitvierzigMenschen
spricht – derPräsident ist ein aufgeschlosse-
nerTyp –kommt da so einiges zusammen.
Seine Stimmung hat sichverschlechtert,
seit eine Parteikollegin in denGemeinderat
gewähltworden ist. Sie lassekeineGelegen-
heit aus, um ihm seinenWankelmutvorzu-
halten. Sieweise ihn auf dieWidersprüche in
seinen Argumenten hin und nehme ihn
überhaupt zunehmend an die Kandare.Der
Gemeindepräsident ist niedergeschlagen
und hofft, dass sich seine Stimmung am
grossen HäggenschwilerHerbstfest aufhel-
lenwird. Als Sponsor haben sich derWodka-
produzentBeluga und derWaffenhersteller
Heckler &Koch angemeldet.Der Präsident
zögert,wem er nun den Zuschlaggeben soll.

Francesco Benini


Häggenschwil bläst1.-August-Sponsoring ab


Showdown


Ueli
Maurer

FOTO

S: KEYSTONE

, RUCKSTUHL

Martin
Neukom

Der Bund lässt in einerStudie
klären,ob er die heute
geltendeNulltoleranz für
Cannabis imStrassenverkehr
lockernsoll.
Daniel Friedli

Was beim Alkohol schon lange
derFall ist, soll künftig auch für
Cannabisgelten.Der Bund lässt
derzeit abklären, ob er im Stras-
senverkehr einen neuen,toleran-
teren Grenzwert für das psycho-
aktiveund berauschende THC
einführen soll. Das Bundesamt
für Gesundheit hat dazu vor
wenigenTagen eine Studiege-
startet. Diese sollzeigen, abwel-
chenWerten und fürwie lange
Zeit THC im Blut dieFahrtüch-
tigkeit effektiv beeinträchtigt.
Gleichzeitig haben dieAutoren
denAuftrag, aus den Studien-
resultaten wenn möglich Emp-
fehlungen für einen neuen Grenz-
wert abzuleiten.
Anlass für die Studie ist das
Aufkommen des legalen, THC-
armen Hanfs.Seit 2017 dürfen in
derSchweiz Hanf-Zigaretten mit
einem THC-Gehalt von unter
einemProzentlegal konsumiert
werden. Dieses sogenannte CBD-
Gras gilt als nicht berauschend
und darf deshalb alsTabakersatz-
produktverkauftwerden.
Dessen ungeachtet gilt aber im
Strassenverkehr betreffendCan-
nabisprodukte immer noch eine
Nulltoleranz. In derPraxis bedeu-
tet dies, dass einFahrzeuglenker
nicht mehr als 1,5 Mikrogramm
THC pro Liter Blut aufweisen
darf. DasProblem: DieserWert
liegt derart nahe bei null, dass
Rauchervon CBD-ProduktenGe-
fahr laufen, ihn auch dann zu
überschreiten, wenn sie garkeine
berauschendeWirkungverspü-
ren oder diese schon langewieder
nachgelassen hat. Aus diesem
Grund raten dieBehörden heute
davon ab, nach dem Rauchenvon
CBD-Gras mit demAuto oder
anderenFahrzeugen zufahren.
In denAugen des Bundesamtes
fürGesundheit ist diese Situation
«rechtlich unbefriedigend»,wie
Sektionsleiter Markus Jann
schreibt.Deshalb suchen dieVer-
antwortlichen nun nach Alterna-
tiven. AndereLänder haben sol-
che bereitsgefunden.Sogilt etwa
im Vereinigten Königreich ein
Grenzwertvon 2,0 Mikrogramm
THC pro Liter Blut, in den Nieder-
landen sind es 3,0 Mikrogramm.
Bis imFrühling 2020will der
Bund nungenauerwissen,wiedie
Schweizreagierenkönnte.

Mehr


Gnade bei


Cannabis


am Steuer


René Donzé


Wencheng Liu hat eineIdee:«Wir
könnten uns an dieseSäulen stel-
len», sagt sie zumPressefotogra-
fen. «Das gäbe einetolleAuf-
nahme.» Die junge Frau scheint in
Bildern zu denken.Seit wir hier
sind,fotografiert sie sich und
FreundinYujiaoYangpausenlos,
beide zeigen ein perfektes
Lächeln im makellosenGesicht.
Der Fotografwinkt ab. Erwill
keinegestellten Bilder der klei-
nenReisegruppe, diewir beglei-
ten.Doch kaum richtet er sein
Objektiv auf dieTouristinnen,
werfen sie sich inPose.
Sonntagmorgen, 9 Uhr 30.Wir
stehen mit derFamilie Cheng und
den beiden jungen Frauen in der
Halle der ETH Zürich.Vater Yaoz-
hong Cheng nimmt ein Pan-
oramabild auf. Stolz, hier zu sein,
woAlbert Einstein lehrte und
Wilhelm Conrad Röntgen stu-
dierte. «DieSchweiz hat soviele
Nobelpreisträger», sagt er. Cheng
ist Anästhesist, seineFrauJuan
Lei Krankenschwester. Sohn
Tianyubesucht die sechste Klas-
se.«Wir wollen, dass er dieWelt
sieht», sagt Cheng. DieSchweiz
wählte er auf Empfehlungvon
Freunden. DreiMonatslöhne ha-
be ihn die achttägigeSchweizer-
reise mit derFamiliegekostet.
Der Sohn trägt Ohrhörer. Ihnfas-
ziniert dasDesign des Abfall-
eimers und desVeloständersvor
der ETH.Beideswird geknipst.

Beachtliches Potenzial
Die fünf Chinesengehören zu der
am stärksten wachsenden Grup-
pevon Touristen. 1,7 Millionen
Übernachtungen aus Chinaver-
zeichneten dieSchweizerHotels
201 8. Damit stehen die Chinesen
hinter den Schweizern, Deut-
schen und Amerikanern anvier-
ter Stelle. 2005 zählte man erst
2200 00 chinesische Logier-
nächte. Die Chinesenfallen auf.
Vor allem,wenn sie in Massen
auftreten. Im Frühling etwa
kamen 12 000 aufs Mal in die
Schweiz; es war eineBelohnung
ihres Arbeitgebers. DieMedien
berichteten.Overtourismwurde
auch in derSchweiz zum Thema.
Doch 78 Prozent der Chinesen
reisen allein oder in kleinen Grup-
pen bis zu fünfPersonen in die
Schweiz. «Es besteht ein klarer
Trend zum Individualtouris-
mus», sagt Nana Liu. Sie ist bei
ZürichTourismus zuständig für
China,Korea und Südostasien. In
Zürich seien 70 Prozentindivi-
duell unterwegs.Auf die Grup-
pentouristen, die Europa in sie-
benTagen absolvierten,folge

Chinesen reisen öfter individuell


eine neueGeneration.«Sie sind
jung,können Englisch und stellen
sich ihre Reise selber zusammen»,
sagt Liu. 2018generierten chine-
sischeTouristen 656Millionen
Franken Umsatz in derSchweiz.
Pro Kopf undTag gaben sie 380
Franken aus. Das Wachstums-
potenzial sei noch beachtlich,
schreibtSchweizTourismus.
Familie Cheng hat für ihreRei-
se einReisebüro inEcublensge-
wählt.Dort durfte sieReiseziele
aus einer Liste aussuchen. Die
ETHwerde oftgewünscht, sagt
Reiseleiter JinghuaYu. Ebenso
dieBahnhofstrasse und derSee.
Dochweil esregnet, dehntYuden
Besuch in der ETH aus und er-
gänzt ihn mit einem Abstecher
ins Zoologische Museum. Der
Sohn linst durch Mikroskope. Die
beiden jungen Frauen bestaunen
das ausgestopfte Einhorn.

Bilder alsStatussymbol
Etwas lernen.Auch das sei ein
neuer Trend bei Chinesen aufRei-
sen, sagtTourismusfachfrau Liu.
«In China ist die Kindererziehung
daswichtigste.» Einmalwünschte
eine Reisegruppe den Besuch
in einer Kehrichtverbrennungs-

anlage. Neuerdings hat dasLan-
desmuseum Zürich einenAudio-
guide auf Chinesisch; auch den
Stadtrundgang gibt es in dieser
Sprache.«Wir haben ihn etwas
angepasst: mehr Anekdoten,
mehrFotospots», sagt Liu.
An diesem Sonntagmorgen
wären Zürichs Plätze menschen-
leer, gäbe eskeineTouristen.
Erstmals seitWochen entleert
sich der Himmel im Dauerregen.
11 Uhr:Weiss hebt sich der Rad-
dampfer«Stadt Rapperswil»vom
Grau des Zürichsees und des Him-
mels ab. «Nach einem chinesi-
schen Sprichwort bringtRegen
Glück undReichtum», erklärt
Wencheng Liu und lächelt.
Unser Kleinbus parkiert am
Stadthausquai. Schnell füllen
sich die Parkplätze mitCars. In
grossen und kleinen Trauben be-
wegen sich dieSchirme über den

Allein insMuseum stat t in Horden aufs Jungfraujoch: Chinesische Touristen entdecken


die Schweiz zunehmendauf eigeneFaust. Unterwegs mitFamilie Cheng


Münsterhof. Tianyus Jauchzer
mischt sich mit denSchreien der
Möwen, die er füttert.Mutter Lei
hält mit einer Hand denSchirm
über ihrenSohn, mit der anderen
das Handy. Paradeplatz.Swiss
Banks. Trams.Heimatwerk: Die
Kameras halten allesfest.
«Bilder aus derSchweiz sind
ein Statussymbol», sagt Liu im
Sitzungszimmervon ZürichTou-
rismus. Das nutzen dieTouristi-
ker. Sie laden chinesische Influ-
encer ein, die auch andereSeiten
derSchweizzeigen sollen. Ein
neuesVideo eines jungen Paars
wurde innert dreiWochen schon
gegen 700000-mal angeschaut:
Man sieht die Rigi, dasSchloss
Rapperswil, die beiden beim
Stand-up-Paddling und auf einer
E-Bike-Tour in Zürich-West.So
will man auch Druckvon Hot-
spotswie demJungfraujoch oder
Luzern nehmen.SogarWinter-
thur mit seinenMuseenkomme
bei den Chinesen gut an, sagt Liu.

Travel like alocal
12 Uhr 30.Familie Cheng ist auf
demJuckerhof angelangt.Auf
dem Erlebnisbauernhof am Pfäf-
fikerseewollte man unter dem Ti-
tel «Travel like a local»Geissen
streicheln und durchs Apfel-
baumlabyrinth irren.Doch – aus
Zeitmangel, wir sind eine Stunde
hinter Programm – bleibt es beim
Essen. «Allyou can eat» für 36
Franken.Auf denTellern türmt
sich Kabissalat nebenBasilikum-
Rüebli, Hörnli, Hackfleisch,
Brombeeren,Heidelbeeren und
Maisbrötli. ZumDessert gibt es
Schoko-Geburtstagskuchen.Mut-
ter Lei, die heute 40wird, faltet
die Hände, schliesst dieAugen,
um sich etwas zuwünschen, be-
vor sie die dreiKerzen ausbläst.
Der Kuchen bleibt zur Hälfte
liegen. Die Blase drückt und der
nächsteTerminruft.Bei Victor-
inox in Brunnenwerden die fünf
Chinesen einen Einblick in die
Produktion desSchweizerSack-
messers erhalten. Es ist erst der
Auftakt zu einer langen Schwei-
zer Tournee: Angesagt ist laut
Tourguide Yu Shopping in
Luzern, Paragliding in Interlaken
(nur der Bub), Spazieren am Mat-
terhorn, Flanieren amGenfersee,
einBesuchvon Schloss Chillon,
Bundeshaus und Einstein-
museum.Schon jetzt aber ist
Vater Cheng begeistert.Sofried-
lich sei die Schweiz und so
freundlich seien dieLeute. Am
Abend postet er ein Bild auf der
chinesischenSocial-Media-Platt-
formWeChat:SeineFamilie in
der ETH, inklusivePressefotograf
undJournalist.

PASCAL MORA

In der ETH-Halle:Vater Cheng
fotografiert, seine Reisekollegin
Yang und Reiseführer Yu
schauen auf ihre Handys.
(Zürich,28. Juli 2019)

Der Sohn trägt
Ohrhörer. Ihn
fasziniert das
Design des
Abfalleimers.
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