Neue Zürcher Zeitung - 04.08.2019

(Darren Dugan) #1

NZZamSonntag4. August 2019


Schweiz 7


ALAMY

EinSchaufenstermit
BrautkleiderninMi trovica
imNordenKosovos.

PETER

KLAUNZER

/ KEYSTONE

BundesanwaltMichaelLauber
lässt denStreitmitder Aufsicht
beieinemMedienauftritt
eskalieren.(Bern, 10.Mai2019)

Parlamentariersinddarüber


erbostundirritiert,dassd er


Bundesanwalt gege ndie


AufsichtsbehördevorGericht


gezogenist.Sie sehendas


Vertrauenschwerbe schädigt.


AndreasSchmid


Bundesanwalt Michael Lauber
hat vor Bundesverwaltungs-
gericht einen Sieg errungen. Er
hat erwirkt, dass dieBehörde zur
Aufsicht über die Bundesanwalt-
schaft (AB-BA) selber ein Diszipli-
narverfahrengegen ihn führen
muss. Dieexterne Fachperson,
die damit betrautworden war, sei
nicht dazu legitimiert, entschie-
den die Richter in St.Gallen.
Laubers Anwälte, derrenom-
mierte Strafverteidiger Lorenz
Erni und dessen Büropartnerin
FrancescaCaputo, wehrten sich
dagegen, dass die Aufsichts-
behörde dasVerfahren an den
emeritierten Staats- undVerwal-
tungsrechtsprofessorPeter Hänni


delegiert hatte. Drei Monate
nachdem die Aufsicht den
Beschluss für eine Disziplinar-
untersuchunggegen Lauberge-
troffen hat, muss sie nunvon
vorne damit beginnen.
Was in derGerichtskommis-
sion der eidgenössischen Räte für

Ärger sorgt, ist jedochvielmehr
der Umstand, dass Bundesanwalt
Lauber im Streit mit der Auf-
sichtsbehörde den Rechtsweg
eingeschlagen hat und ansGe-
richtgelangt ist. «DiesesVerhal-
ten ist inakzeptabel und bedauer-
lich», sagtKommissionspräsident
Jean-PaulGschwind. Der CVP-
Nationalrat aus demJura fügt an,
man habe diesesVorgehen Lau-
bers allerdings erwarten müssen.
Auch wenn derKommission
nun kaumwie erwartet einZwi-
schenbericht zum Disziplinarver-
fahrenvorliegenwerde, wenn sie
über denWahlvorschlag berate,
halte man am Zeitplanfest, be-
tont Gschwind. EndeAugust oder
AnfangSeptemberwill das Gre-
mium darüber befinden, ob es
dem ParlamentLauber für eine
dritte Amtsperiodevon 2020 bis
2023 empfehlenwill. Gschwind
sagt:«Wie der Entscheid ausfal-
len wird, ist derzeit nicht abzu-
sehen.» DieWahl des Bundes-
anwalts soll die Bundesversamm-

lung in derHerbstsession, am


  1. September,vornehmen.
    Der Berner SP-Nationalrat Mat-
    thiasAebischer, der ebenfalls der
    Gerichtskommission angehört,
    sieht die Glaubwürdigkeitvon
    Bundesanwaltschaft und AB-BA
    beschädigt. «Der Kleinkrieg ist für
    das Ansehen dieser Institutionen
    verheerend», sagtAebischer.
    Das zerrüt tete Verhältnis zwi-
    schen BundesanwaltLauber und
    der Aufsichtsbehörde beschäftigt
    inzwischen auch dieGeschäfts-
    prüfungskommissionen. Deren
    für die Bundesanwaltschaft zu-
    ständige Subkommissionen seien
    daran, eine Inspektion zum Zu-
    sammenspiel zwischen AB-BA
    und Bundesanwaltschaft durch-
    zuführen, sagt derBerner SP-
    Ständerat Hans Stöckli.Der Präsi-
    dent der ständerätlichen Sub-
    kommission sagt: DieTermine für
    die Anhörung derProtagonisten
    seien bestimmt. «Im Rahmen der
    Inspektionwerden wir auch be-
    urteilen müssen, ob die AB-BA


Dritte mitAufsichtsaufgaben be-
auftragen darf oder ob sie dazu
ermächtigtwerden sollte.»
Dass BundesanwaltLauber das
Bundesverwaltungsgericht ange-
rufen und seine Parteirechte
wahrgenommen habe, stehe ihm
zwar zu, hält Stöcklifest. «Da-
durchwird die Wiederherstellung
des gegenseitigen Vertrauens
zwischen Bundesanwalt undAuf-
sichtsbehörde aber noch an-
spruchsvoller und dringlicher.»
Stöckli intere ssiert sich auch da-
für, wer Laubers Anwälte bezahlt:
«Ich werde dieseFrage bei nächs-
ter Gelegenheit stellen», sagt der
SP-Politiker.Wie sichLaubers
Gang ansGericht auf dessenWie-
derwahlchancen auswirke, ist
laut Stöckli schwierig zu beurtei-
len. Jedenfalls sei dasFunktionie-
ren der Bundesanwaltschaftge-
währleistet, dennLaubers Stell-
vertreterRuedi Montanari und
Jacques Rayroud habe das Parla-
ment bereits für diekommende
Amtsperiodegewählt.

KommissionwirftLauberinakzeptablesVerhaltenvor


Früherregistriertedie Fach-
stelleZwangsheiratvorallem
ZulaufvonunfreiwilligVerhei-
ratetenausSyrien,Afghanistan,
SriLan ka,der TürkeiundMaze-
donien.Dieshatsichseit 2018
geändert,wieAnuSivaganesan,
diePräsidentinderFachstelle,
ausführt:«Seitherbetreuenwir
ammeistenBetroffeneaus
Kosovo.»ImerstenHalbjahr
2019hättensich56 albanisch-
sprachigePersonenausdem
Landberatenlassen.2018habe
man102 FälleausKosovo –von

Zwangsheir ateninKosovo


SpürbareRadikalisierung


total352Dossiers–geführt.
«DieHäufungvonBetroffenen
ausdieserRegionistneu,das
gabesinden19Jahrendes
BestehensderFachstellezuvor
nie.» BeidenKosovarinnen–
mehrheitlichwerdenFrauen
gezwungen–kommtlautder
ExpertinreligiösenHeiraten
einewesentlicheBedeutungzu.
InKosovo gebeestrotzGegen-
steuerderRegierungTenden-
zenzurgesellschaftlichenRadi-
kalisierung,diesichnunhier
bemerkbarmachten.(asc.)

AndreasSchmid


Die junge Frau wirkt bei einem
Treffenverzweifelt und ist den
Tränen nahe, als sie ihreGe-
schichte erzählt. Siewill nicht mit
dem Mann zusammen sein, mit
dem sieverheiratet ist. Er ist ihr
Cousin, lebt in einem Flüchtlings-
lager und möchte zu ihr in die
Schweiz ziehen undwie sie den
rote n Pass erhalten.So stellen es
sich auch dieVerwandtenvor –
Mutter, Vater und Grosseltern. Sie
setzen die19-Jährige unter Druck.
Als Kind war sie mit ihrerFami-
lie aus einem Bürgerkriegsland in
die Schweiz gefl üchtet. Im Alter
von 13 Jahrenwurde sie mit ihrem
damals 21-jährigen Cousinreli-
giösverlobt, amTelefon gab sie
ihm dasJawort. DreiJahre später,
als sie16 war, heiratete n sie im
Land, in dem erwohnt. Ein gros-
ses Hochzeitsfest folgte zwei
Jahre später. Sie kenne ihren
Mannwenig, habe ihn in ihrem
Leben gesamthaftrund zweiein-
halbMonate lang gesehen, sagt
die Frau, die in derSchweiz eine
Lehre abgeschlossen hat und nun
in ihremBeruf arbeitet. «Wir tra-
fen uns jeweils in denSommer-
ferien undverbrachten mit unse-
ren Familien zweiWochen am
selben Ort; mehr nicht.»


In derSc hweizin tegriert


Sie wolle ihrLeben inFreiheit
führen,kein Kopftuch tragen,
sich hierweit erbilden und arbei-
ten. Ihren Partner suche sie sich
selber aus, hält dieFrau fest, die
gut Schweizerdeutsch spricht.
Doch dieFamilie dränge dara uf
und erwarte, dass ihr Ehemann,
mit dem sie nur über die sozialen
Netzwerke und hin undwieder


Ehenvon


Minderjährigen:


Unheilvolle


Prax is


telefonisch inKontakt stehe, end-
lich zu ihr ziehenkönne. «Ichwill
das nicht, kann das meinerMut-
ter aber kaum sagen.» Umso
schwieriger ist das,weil die Ehe
inzwischen gültig ist. Mit der
Volljährigkeit derFrau wurde sie
legalisiert odergeheilt,wie es in
der Fachsprache heisst.
Die FachstelleZwangsheirat ist
als Kompetenzzentrum des Bun-
des häufig mit derartigen
Notsituationenkonfrontiert. Zu-
sehends hat sie es mitBetroffe-
nen zu tun, die als Minderjährige
vermähltwurden. Es sind dieses
Jahr bis jetzt 36Prozent der be-
handeltenFälle, wie Präsidentin
Anu Sivaganesan sagt. «Der Anteil
der gemeldeten Minderjährigen-
Ehen beträgt erstmals über ein
Drittel.»Auch dieGesamtzahl
allerBeratungen derFachstelle
Zwangsheirat steigtkont inuier-

lich;vergangenes Jahr wurden
über 350 Hilfesuchende – gross-
mehrheitlichFrauen – betreut.
Sie stammen etwa ausSyrien,
dem Irak, Pakistan, der Türkei,
Afghanistan oder Ex-Jugoslawien
(siehe Kasten) und sind oft in der
Schweiz aufgewachsen.
Was den Umgang mitVermäh-
lungen von Minderjährigen be-
trifft, sind Zivilstands- und Migra-
tionsbehörden zuständig. Weil
Heiraten in derSchweiz erst ab 18
erlaubt ist, beschränkt sich das
Problem auf Ehen, die imAusland
vereinbartworden sind.
Die Zivilstandsbehörde des
Kantons Bern stosse im Rahmen
der Anerkennungsverfahrenvon
neuen Eheschliessungen proJahr
auf durchschnittlichzehn Fälle
von Minderjährigen-Ehen, sagt
ArnoldMesserlivom Zi vilstands-
dienst. Klagen, die das Amt
wegen solcherHeiraten einst ein-
gereicht habe, seien alle nicht
weit erverfolgtworden, hältMes-
serlifest. Behörden undGerichte
hätten diese Ehen alsgeheilt be-
urteilt, nachdem dieBetroffenen
volljähriggeworden waren.
Dies sei dann problematisch,
wenn jemand nicht mehrverhei-
ratet seinwolle, es jedoch zum
Beispielwegen des Drucks der
Familie nicht wage, sich zu tren-

nen, sagtMesserli. «In solchen
Fällen ist eineHeilungfatal und
nichtwünschenswert.»
Minderjährigen-Ehen bereiten
der Fachstelle Zwangsheirat
grosseSorgen. Das liegt auch dar-
an, dass in derSchweiz Vermäh-
lungen, die unter 18-Jährige im
Ausland eingingen, anerkannt
werden, sobald die Partnervoll-
jährigwerden. Dies, obwohl man
hier erst ab18 Jahren heiraten
darf. «Heilungen er weisen sich in
der Praxis oft als äusserst proble-
matisch», sagt Sivaganesan.
Um eine Ehe aufzulösen,
müsstenZwangsverheiratete dies
über Zivilstandsbehörden und
Gerichte erwirken. «Betroffene
können dies im Altervon 18 Jah-
ren aber kaum durchsetzen, denn
sie würden sich damitgegen ihre
eigenen Familien auflehnen»,
stellt Sivaganesanfest. Deshalb
fordert sie, dass dieSchweiz Min-
derjährigen-Heiraten nicht mit
dem Erreichen derVolljährigkeit
der Betroffenen legalisiert, son-
dern erst siebenJahre später.
Eine solchegesetzlicheFrist
würde dasProblem laut Sivaga-
nesanwesentlich entschärfen.
«Unter Zwang Verheiratete hätten
im Erwachsenenalter länger Zeit,
sich aus der Partnerschaft zu
lösen.»Wenn die Ehen aber funk-

Migrantinnen,diealsJugendliche


imAuslandverheiratetwurden,


könnenhierihreunfreiwilligen


Vermählungenkaumauflösen


tionierten,könnten die Paare sie
nach Ablauf derFrist gültig ma-
chen. Sivaganesan sagt, die
Wartezeit sei in derSchweiz kein
grossesProblem,weil Partner un-
abhängigvom Zi vilstand zusam-
menleben dürften.

EinKompromissvorschlag
Als problematisch erweise sich
die Praxis in derSchweiz auch
deshalb,weil mit der spätere n
Heilung der Ehenvon Minder-
jährigen der Zeitpunkt derHeirat
ganz ausgeblendetwerde, sagt
Sivaganesan.So würden selbst im
Kindesalter geschlossene Ver-
mählungen anerkannt, sobald die
Partnervolljährig seien. Mit der
Wartefrist gäbe es einenKompro-
miss. Sivaganesan hältfest: Man
wolle Zwangsheiraten verhin-
dern; nicht aber ältere Paare mit
Kindern strafen, die sich minder-
jährig imAuslandvermählt hat-
ten, seitJahren zusammenlebten
und dies auchwollten.

Zusehend shat sie
esmitBetrof fenen
zutun,dieals
Minderjährige
vermähltwurden.
Free download pdf