Handelsblatt - 30.07.2019

(Nandana) #1

massenweise mechanische, sich stän-


dig wiederholende Aufgaben über-


nehmen.


Ursprung der Clickworker


Die Anfänge des Clickworkings gehen


auf das Jahr 2005 zurück, als Ama-


zon seine Crowdsourcing-Plattform


Mechanical Turk (MTurk) ins Leben


rief. Dort konnten Unternehmen digi-


tale Kleinstarbeiten an Freelancer auf


der ganzen Welt auslagern. Anfangs


mussten diese beispielsweise für


Start-ups wie das Bewertungsportal


Yelp Inhalte kuratieren oder Kunden-


bewertungen redigieren. Kurze Zeit


später gründeten sich immer mehr


Crowdsourcing-Plattformen, wie zum


Beispiel Mighty AI, Hive und Play-


ment, die aufwendige Aufgaben im


Clickworking-Bereich übernehmen.


Wie aus dem Nichts wurden diese


Start-ups ab 2017 dann mit Aufträgen


aus der Autoindustrie überflutet. Seit


Februar 2019 hat Mighty AI eine


Kooperation mit der University Mi-


chigan in Zusammenarbeit mit GM,


Ford, Honda, Toyota, Intel, LG und


Verizon.


Über das Internet kann sich jeder


bei den Plattformen anmelden und


zum Clickworker werden. Nach der


Anmeldung durchlaufen die Nutzer


kurze Tutorials, sammeln mit ersten


Kleinaufträgen Erfahrungspunkte


und arbeiten sich so hoch zu den lu-


krativeren Aufgaben. Zwischen den


Clickworkern aus der Crowd und den


Auftraggebern aus der Autobranche


gibt es keinen unmittelbaren Kon-


takt. Die Autokonzerne senden Vi-


deo-Rohdaten an die Plattformen,


diese wiederum teilen sie in kleine


Ausschnitte auf. Jeder Videoaus-


schnitt ist ein Auftrag, den ein Click-


worker, der auf dem Portal angemel-
det ist, entgegennehmen kann. Für
jeden Auftrag werden in Regel ein
paar wenige Dollar bezahlt.
Viele dieser „Labeler“ kommen
derzeit aus Venezuela, wie eine Analy-
se der Hans-Böckler-Stiftung zeigt.
75 Prozent des Gesamt-Traffics auf
den Portalen Mighty AI und Hive
stammen aus dem südamerikani-
schen Land. Parallel zur drastischen
Verschlechterung der wirtschaftlichen
Lage in Venezuela ließen sich immer
mehr Menschen dort zu Clickworkern
„ausbilden“. Der Grund dafür ist
nachvollziehbar: Die Clickworking-
Portale zahlen in der Regel in US-Dol-
lar. Es gilt: Je größer die wirtschaftli-
che Not eines Landes, desto höher ist
auch die Bereitschaft der Einwohner,
zum Clickworker zu werden.
Christian Papsdorf, Professor an
der TU Chemnitz und Experte für

Techniksoziologie, kritisiert, dass
Clickworker unsichere Arbeitsver-
hältnisse eingingen, die an die Früh-
zeit der Industrialisierung erinnern
würden, als Stundenlöhner für gerin-
ge Gehälter ausgebeutet wurden –
mit einem Unterschied: „Nun haben
wir es mit Minutenlöhnern zu tun.“
Demetrio Aiello, Leiter des For-
schungsbereichs Künstliche Intelli-
genz und Robotik bei Continental,
sieht bei der Entwicklung der KI für
das autonome Fahren bislang aller-
dings keine Alternative zur menschli-
chen Arbeitskraft. „Maschinelles Ler-
nen funktioniert nur im Zusammen-
spiel mit dem Menschen“, sagt Aiello.
„Er muss die Bilder interpretieren,
die während der Testfahrten auf -
genommen werden.“ Erschwerend
hinzu kommen die hohen Sicher-
heitsanforderungen. „Im Gegensatz
zum Labeling von Daten im Enter-
tainmentbereich ist der Qualitäts -
anspruch beim autonomen Fahren
deutlich höher“, erklärt Aiello. Des-
wegen wurden Versuche, Videoauf-
nahmen mithilfe des Amazon-Diens-
tes MTurk zu labeln, schnell einge-
stellt, da er für die hohen Ansprüche
nicht ausreicht. Continental greift auf
Spezialfirmen zurück. Eines dieser
Partnerunternehmen ist Sama source.

Autofirmen profitieren
2008 als Non-Profit-Organisation ge-
gründet, ist das Unternehmen aus
San Francisco zu einer der wichtigs-
ten Anlaufstellen für die Autokonzer-
ne geworden. Neben Continental
zählen unter anderem General Mo-
tors, Ford und seit Ende 2018 auch
Volkswagen zu den Kunden von Sa-
masource, dessen Clickworker aus
Entwicklungsländern wie Kenia, Cos-
ta Rica und Uganda kommen. Darü-
ber sprechen wollen aber die we-
nigsten.
VW teilt lediglich mit, dass man
sich aus „Wettbewerbsgründen“
nicht dazu äußern könne. BMW hält
sich ebenfalls bedeckt. Daimler will
weder Investitionssummen noch die
Namen der Dienstleister nennen, ob-
wohl eine kurze Internetrecherche
reicht, um herauszufinden, dass der
Stuttgarter Autobauer unter anderem
auf Clickworker des indischen Unter-
nehmens Infolks zurückgreift.
Samasource erklärt, dass man mit
mehreren Unternehmen aus der Au-
tobranche zusammenarbeite. Doch
„aus Gründen der Vertraulichkeit
geben wir den Umfang unserer Auf-
träge nicht weiter“, schreibt das Un-
ternehmen auf Anfrage. Auch ver-
schweigt Samasource, was es kostet,
einstündiges Videomaterial für das
autonome Fahren zu labeln. Dafür
versichert das Unternehmen, dass
im Gegensatz zu den Crowdsour-
cing-Plattformen wie Mighty AI oder
Hive alle Clickworker Vollzeitarbeits-

kräfte seien, ausgestattet mit einer
Kranken- und Rentenversicherung.
Kay Talmi, Geschäftsführer von
Hella Aglaia, geht mit dem Thema
Clickworking hingegen deutlich offe-
ner um. „Das Anlernen von Deep-
Learning-Systemen ist ein sehr auf-
wendiger, aber notwendiger Prozess,
der sich leider nicht automatisieren
lässt“, sagt Talmi.
Das Tochterunternehmen des
Lippstädter Zulieferers Hella beschäf-
tigt sich seit 1998 mit der Program-
mierung von Software für Fahrer -
assistenzsysteme. Im Ullsteinhaus in
Berlin arbeiten über 400 Mitarbeiter
täglich an der Verbesserung der Pro-
grammcodes und erleben, wie das
autonome Fahren immer größeres
Gewicht bekommt und das Sammeln
und Auswerten von Daten immer
wichtiger wird. Hella Aglaia greift
deswegen auf fast 600 Clickworker
zurück, um Video-Rohdaten zu la-
beln. Etwa 15 davon arbeiten vor Ort
in Berlin. 100 sitzen auf den Philippi-
nen, die über eine Partnerfirma aus-
schließlich für Hella arbeiten. Rund
400 stellt Samasource zur Verfügung.
Auf einem Bildschirm zeigt Talmi,
wie eine Verkehrsszene nach einer
vollständigen semantischen Segmen-
tierung aussieht. Um die abgebilde-
ten Autos sind lila Rahmen gezeich-
net, die Straße ist grün markiert, Ge-
bäude sind rot. „Ohne Labeler würde
das autonome Fahren nicht nur
kaum bezahlbar sein, es würde
schlichtweg nicht funktionieren“,
sagt Talmi.
Sowohl Hella als auch Continental
versuchen, durch den ständigen Aus-
tausch mit ihren Partnerfirmen einen
hohen Qualitätsstandard zu errei-
chen und ausbeuterische Arbeits -
bedingungen unter den Clickworkern
zu vermeiden. Dennoch sieht die
Hans-Böckler-Stiftung Nachholbe-
darf, sollen Menschen einmal von
dieser Arbeit leben können.

40 Dollar Monatslohn


Das monatliche Einkommen vieler
Clickworker, die semantische Seg-
mentierungen für die Autoindustrie
durchführen, liegt bei 30 bis 40 Dol-
lar. Die Stiftung kritisiert zudem, dass
nur selten offen über das Clickwor-
king gesprochen werde. Im gegen-
wärtigen Hype um die KI werde die
Trainingsleistung der Crowd sogar
ausgeblendet, um die Technik beein-
druckender erscheinen zu lassen.
„Die öffentliche Diskussion verirrt
sich bei der KI in der mythisch über-
höhten Vorstellung, es handle sich
dabei um eine menschenähnliche,
generelle Intelligenz“, heißt es in der
Studie.
Christian Papsdorf von der TU
Chemnitz kritisiert, dass sich die Un-
ternehmen ihrer Verantwortung ent-
ziehen würden und die Clickworker
mit ihren gesundheitlichen Proble-
men allein ließen. Aufgrund der sich
wiederholenden Arbeitsschritte, die
größte Präzision verlangen, sind Seh-
nenscheidenentzündungen keine Sel-
tenheit.
Understand.ai hat außerdem die
Erfahrung gemacht, dass Menschen
nicht in Vollzeit fokussiert Bilder la-
beln können. Deshalb versucht das
Berliner Start-up, den menschlichen
Einsatz zu begrenzen. Chef Mengler
will den Prozess des Labelns noch
stärker automatisieren.
Damit bleibt den Clickworkern auf
der ganzen Welt am Ende nur die
Gewissheit, dass sie die KI so lange
befähigen, bis diese irgendwann die
Fähigkeit entwickelt, das Labeln
selbst zu übernehmen. Letztlich wer-
den sich die Clickworker selbst weg-
automatisieren.

REUTERS

Nun haben


wir es


mit Minuten-


löhnern zu


tun.


Christian Papsdorf
Professor an der
TU Chemnitz

Jedes Objekt,


das für das


autonome


Fahren


relevant ist,


muss markiert


werden – und


zwar zum Teil


pixelgenau.


Marc Mengler
CEO Understand.ai

Globale Konkurrenz um Jobs
Herkunft der Besucher von Online-Plattformen 2018, die Crowdworker
für die Erfassung von Trainingsdaten für autonomes Fahren vermitteln

Hive
Micro

6,0 %
Indien

75,9 %
Venezuela

1,8 %
Vietnam

Spare 5


4,1 %
Kolumbien

76,2 %
Venezuela

2,5 %
Mexiko

Remo-
task

31,1 %
Philippinen

15,0 %
Vene-
zuela

10,5 %
Kenia

HANDELSBLATT Fehlende zu 100 % = Sonstige • Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

Unternehmen & Märkte
DIENSTAG, 30. JULI 2019, NR. 144


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