Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

  1. August 2019 DIE ZEIT No 33


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In Berlin wird ein 17-Jähriger im


unterricht von vier Mitschülern brutal


zusammengeschlagen. Das Leben an


der schule soll nun auf ungewöhnliche


Weise beruhigt werden


Zwischen


Recht und


Rache


Illustration: Studio Pong für DIE ZEIT


RECHT & UNRECHT


räume liegen in ersten stock eines Flachbaus direkt
ne ben ein an der, wenn es zur Pause klingelt, ver-
schmelzen die Klassen zu einem strom, darin auch
Nadim und Ahmad. teile des unterrichts finden
in Kursen statt, in denen sich die Klassen mischen.
um die Lage zu entspannen, hat sich Nadim vor
den Ferien mehrere Wochen krankgemeldet, aber
auf Dauer ist das keine Lösung. »Wir haben ein
großes gelände, aber irgendwann laufen die sich
über den Weg«, sagt Frau Hempel.
Nach dem Überfall suspendierte die Rektorin
die vier schläger für zehn tage, bestellte die Eltern
ein, meldete den Fall der schulaufsicht. Für die
Klasse 9.1 setzte sie zwei Projekttage mit einer
Mentorin an und organisierte einen täter-Opfer-
Ausgleich. Aber Nadim wollte nicht ausgleichen.
Er wollte, dass die täter bestraft werden.
Er solle den schlägern verzeihen, sagten sie ihm
in der schule.
Er könne nicht verzeihen, antwortete Nadim,
»die haben meine Ehre zerstört«. Die vier sollten
von der schule fliegen.
»Das wird nicht passieren«, sagte Frau Hempel.
»Ich will, dass die vier eine gerechte strafe er-
halten«, sagte Nadim. Aber was ist gerecht?

»Ich bin innerlich sehr zerrissen«,
sagt die Direktorin der Schule

»In syrien«, sagt Nadims Vater, »hätten wir die
situation mit Blutrache zwischen den Familien ge-
regelt. Die Familie des Opfers wäre zur Familie des
täters gegangen und hätte das geklärt, die Polizei
mischt sich nicht ein.« Klären heißt: Der Vater des
Opfers hätte den Jugendlichen eine Abreibung
verpasst. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Die Eltern vertrauen darauf, dass der deutsche
Rechtsstaat den Fall regelt, sie wollen sich an die
Regeln halten, »auch wenn es sehr, sehr lange
dauert, bis ein solcher Fall in Deutschland geklärt
wird«, wie Nadims Vater klagt. Die staatsanwalt-
schaft ermittelt noch immer wegen gefährlicher
Körperverletzung. In ähnlichen Fällen stellen die
Behörden solche Verfahren gerne mal ein.
Nadims Vater wäre schon zufrieden, wenn ein
gericht den schlägern sozialarbeit als strafe auf-
brummen würde. Bleibt es bei mahnenden Wor-
ten oder wird das Verfahren gar eingestellt, ist
nicht klar, wie die Familie reagieren wird. Ihm
wäre danach, zurückzuschlagen, sagt Nadim, »aber
dann würde ich meine Eltern ver raten«. Die Fami-
lie schwankt zwischen Recht und Rache.

Frau Hempel, die Direktorin, sitzt in ihrem
Büro und sagt, sie könne Nadim verstehen, »es
geht hier auch um Ehre und gesichtsverlust, aus
seiner sicht hat er sein gesicht verloren«. Einer-
seits brauchen die täter eine schulische strafe, jen-
seits der strafrechtlichen Ermittlungen; die zehn-
tägige suspendierung scheint der tat kaum ange-
messen. Andererseits will Frau Hempel den schü-
lern, die zugeschlagen haben, noch eine Chance
geben. »Wenn es schüler wären, die nicht ange-
kommen sind, wäre es leichter. Aber die vier, um
die es hier geht, sind alle gut angekommen. Ich bin
innerlich sehr zerrissen.«
Die ungewöhnliche Maßnahme des gerichts
hat zwar gewirkt, indem sie den Druck aus dem
Konflikt genommen hat. Aber sie hat keine ge-
rechtigkeit geschaffen. sie ist ein Instrument zur
De eska la tion, das flankiert werden muss durch
eine pädagogische strafe. Nadim sagt, die vier
schläger »fühlten sich krass, weil sie mich schlagen
konnten, die sind jetzt extralaut«. Er habe Angst,
dass es zu einem neuen Zusammenstoß komme
und »ich ausraste und die Kontrolle verliere«. Er
würde gerne aufs gymnasium wechseln, das Abi-
tur machen; wenn er schon von der schule muss,
dann soll es sich für ihn lohnen. Aber das verwei-
gert die schulaufsicht bislang.
Ahmad sagt, er und die drei anderen hätten
sich nicht entschuldigt, jeder solle einfach seiner
Wege gehen.
Manchmal, wenn unvermittelt die tür zum
Klassenzimmer aufgehe, erzählt Nadim, laufe in
seinem Kopf wieder und wieder ab, was an jenem
Mittwoch im April geschah. Er sagt: »An dieser
schule werde ich keine Zukunft haben.«

*Name von der Redaktion geändert

A


m 3. April dieses Jahres, ei-
nem Mittwoch, öffnet sich
kurz nach unterrichtsbeginn
die tür zum Klassenraum
der 9.1 der schule am staa-
kener Kleeblatt in spandau,
ganz im Westen Berlins,
dort, wo ein paar Meter weiter Brandenburg be-
ginnt. Es ist gegen 8.25 uhr, Frank Wasserfeld*
hat gerade erst mit dem geschichtsunterricht
begonnen, aber die vier Jugendlichen, die he-
reinstürmen, kommen nicht zu spät. sie haben
auf diesen Augenblick gewartet. sie wissen, zu
wem sie wollen. Zu Nadim, einem der schüler.
Nadim, 17 Jahre alt, sitzt in der zweiten Rei-
he und blättert durch eine geschichtsarbeit, die
ihm der Lehrer gerade zurückgegeben hat, so
schildert er es in einem gedächtnisprotokoll.
Die vier Jugendlichen passieren die sitzreihen,
wortlos, wie sich der Lehrer später erinnert. Was
dann vor den gut zwanzig Augenzeugen pas-
siert, ist weitgehend unstrittig: Die Jugendlichen
werfen Nadim zu Boden, sie schlagen auf ihn
ein, sie treten ihn, einer ergreift laut Zeugen-
aussagen einen stuhl und drischt damit auf
Nadims Rücken. Der Lehrer schaut wie paraly-
siert zu, er wird später angeben, die täter hätten
»sehr ruhig« und »kaltblütig« gewirkt.
Etwa drei Minuten dauert die gewaltorgie,
sie endet erst, als ein zweiter Lehrer den Klas-
senraum betritt und die schläger zurückdrän-
gen kann. Einer von ihnen, ein Jugendlicher
namens Ahmad*, ruft Nadim noch nach: »Mit
uns legt sich keiner an!«
Nadim muss zwei tage ins Krankenhaus, der
Polizeibericht vermerkt Hämatome an der lin-
ken schläfe und hinter dem linken Ohr, das
rechte Augenlid sei »blutunterlaufen und ange-
schwollen«. Nadim gibt an, er habe schmerzen
an der rechten schulter und an den Rippen, er
kann nicht liegen, ohne dass es wehtut. Die
Ärzte dia gnos ti zie ren ein schädel-Hirn-trauma
ersten grades. Der Junge wird auf sta tion 5 des
Evangelischen Waldkrankenhauses behandelt.
Vier Monate sind mittlerweile vergangen,
Nadims schmerzen sind abgeklungen, aber an
der schule am staakener Kleeblatt, einer inte-
grierten sekundarschule, ist der Zwischenfall
noch immer allgegenwärtig. Denn drei der
schläger, Edis*, Luis* und Hermann*, stammen
aus Nadims Klasse, der vierte, Ahmad, besucht
die Nachbarklasse. Diese Woche hat in Berlin
das neue schuljahr begonnen, täter und Opfer
sehen sich tagtäglich, sie begegnen sich im Klas-
senzimmer, auf dem gang, auf dem Hof.
gewalt in schulen ist kein neues Phänomen,
auch nicht in Klassenräumen und während des
unterrichts. Neu aber ist, wie in diesem Fall die
Betroffenen reagiert haben.
Nadims Berliner Rechtsanwalt Andreas
schulz hat beim Familiengericht eine soge-
nannte gewaltschutzverfügung erwirkt, einen
richter lichen Beschluss, mit dem das Opfer vor
einem der täter geschützt werden soll. Ahmad
aus der Parallelklasse, den Nadim für den Rä-
delsführer hält, muss seit der schlägerei min-
destens fünf Meter Abstand zu Nadim wahren.
Der Anwalt hat damit eine schutzzone um
Nadim geschaffen.
Das juristische Werkzeug stammt eigentlich
aus dem Familienrecht, es soll verletzte Frauen
vor prügelnden Ehemännern schützen, Kinder
vor gewalttätigen Eltern, Opfer vor wütenden
stalkern. In der schulpolitik ist dies Neuland.
Bislang ist kein größerer ähnlicher Fall be-
kannt, in dem eine gewaltschutzverfügung ein-
gesetzt wurde.
Was heißt es für die schule, wenn ein schü-
ler einem anderen nicht mehr zu nahe kommen
darf? Ist der Erlass einer gewaltschutzverfügung
ein effizientes Mittel, um gewalt an schulen
einzudämmen? und was ist eine gerechte strafe
für einen derart brutalen gewaltausbruch?

Die meisten Schüler sind Migranten.
Ein Drittel macht keinen Abschluss

»tja«, sagt Katrin Hempel und verschränkt die
Arme. Hempel sitzt in ihrem Zimmer im ersten
stock der spandauer schule, die tür ist von
innen gepolstert, um den Lärm abzuhalten.
Hempel ist seit 16 Jahren Lehrerin an der schu-
le, inzwischen als Rektorin, eine resolute Frau
mit kräftigem Händedruck und selbstbewusst
toupierten Haaren, die wirkt, als wisse sie nor-
malerweise, was sie tut.
Aber dieses Mal ist auch Frau Hempel rat-
los. »Einen solchen Zwischenfall hatten wir
noch nie«, sagt die Rektorin, »das ist so fatal,
dass das passiert ist. Die ganze Klasse stand
unter schock.«
Die schule am staakener Kleeblatt hat 300
schüler und liegt in einem Industriegebiet, sie
lebt davon, dass ihr schüler zugewiesen wer-
den. Frau Hempel sagt: »Wir sind keine über-
nachgefragte schule.« Drei von vier Ju gend-
lichen haben Mi gra tions hin ter grund, serbien,
China, Iran, Russland, thailand sind nur eini-
ge der Länder, aus denen die schüler stammen.
Etwa ein Drittel von ihnen schafft den mittle-
ren schulabschluss, ein weiteres Drittel die Be-
rufsbildungsreife, die man früher Hauptschul-
abschluss nannte. Das letzte Drittel verlässt die
schule ohne Abschluss. Man kann sagen, dass
die schule viel für ihre schüler tut, der schu-
lische Alltag aber nicht immer ganz leicht zu
bewältigen ist.

Nadim zog 2016 nach spandau, und in ge-
wisser Weise steht seine Biografie für die vieler
Jugendlicher, die in den vergangenen Jahren
nach Deutschland kamen: sein Vater stammt
aus syrien, aus einer Kleinstadt an der grenze
zur türkei, er arbeitete dort als Apotheker für
Bayer und war ein angesehener Mann. Nadims
Mutter kommt aus der ukraine, dort wurde
auch Nadim geboren, ehe die Familie nach sy-
rien zog. »Ich wurde als Russe erzogen und füh-
le mich auch so«, sagt Nadim. »Die Araber sind
nicht meine Freunde.«
Nadim sitzt zusammen mit seinen Eltern auf
einer Couch in der Kanzlei seines Anwalts, ein
sportlicher Junge mit lavaschwarzem Haar,
weinrotem La coste- Polo shirt und skaterturn-
schuhen. Nadims Vater trägt Wildlederslipper
und zurückgegelte Haare, die tief liegenden
Augen zeugen von langen Arbeitstagen.
Als der Bürgerkrieg in syrien 2014 eskalier-
te, beschloss die Familie, ihr Leben in syrien
aufzugeben und nach Deutschland zu fliehen,
der Vater hatte ja mal eine Anstellung beim
deutschen Bayer-Konzern. »Ich bin hierherge-
kommen, um meine Kinder vor der si tua tion in
syrien zu schützen«, sagt Nadims Vater. Aber
Bayer wollte ihm keine Wiederanstellung ge-
ben, und so schlug er sich als Barkeeper und
Paketbote durch. seit zwei Jahren arbeitet er als
Lkw-Fahrer, er ist stolz darauf, die Familie
alleine ernähren zu können. Die Ausländer-
behörde bewilligte ihm einen sekundärschutz,
ein Antrag auf unbefristete Aufenthaltsgeneh-
migung läuft.
In spandau an der schule zählte Nadim
schnell zu den Hoffnungsträgern: Notenschnitt
von etwa 2, Klassensprecher, Mitglied der Fuß-
ball-Ag. sein Deutsch ist besser als das vieler
Deutscher, sein Russisch perfekt, Arabisch
spricht er leidlich. Er spielt klassische gitarre
und sagt, er wolle entweder Pharmazie studieren
oder Anwalt werden. seine In te gra tion, so
scheint es, ist eine Erfolgsgeschichte.
In der schule galt Nadim als Wortführer,
und wenn jemand einen anderen schüler
schlecht behandelte, ging er schon mal dazwi-
schen. »Ich bin kein troublemaker, aber ich ver-
suche, Leute zu beschützen«, sagt er. »Ich mi-
sche mich ein, wenn ich sehe, dass jemand
schwächer ist« – wie in den tagen vor der schlä-
gerei, in einem streit um Cybermobbing, der
offenbar zum Auslöser für den Überfall wurde.
Im Internet waren plötzlich sehr intime
Fotos eines Mädchens aus der Klasse 9.1 aufge-
taucht, die jemand ohne ihr Wissen hochgela-
den hatte. Nadim beschuldigte »die Jungs« und
stellte sie zur Rede. Es kam zu einem hitzigen
Wortgefecht.
Die Jungs, das sind: die beiden Deutschen
Luis und Edis und Hermann aus Rumänien,
zum tatzeitpunkt alle 16 Jahre alt, sowie Ah-
mad, dessen Familie ebenfalls aus syrien ge-
flüchtet ist. Früher hingen sie gemeinsam mit
Nadim ab, spielten Fußball, machten unsinn.
Doch irgendwann löste sich Nadim aus der
gruppe. »Die Jungs haben sich verändert«, be-
hauptet Nadim. »Nadim hat sich verändert«,
behauptet Ahmad. Was genau zwischen den
Jugendlichen geschah, ist schwer zu beurteilen.
Jedenfalls, das erzählen mehrere der Beteiligten,
habe Ahmad daraufhin die Rolle des Anführers
übernommen.
Ein Foto vom tattag zeigt einen Hünen mit
dichtem schwarzem Kinnbart. Offiziell ist Ah-
mad 17, aber die Lehrer gehen davon aus, dass
er ein bis zwei Jahre älter ist. Er genießt keinen
schlechten Ruf, er sei »ein großer tanzbär«, sagt
eine Lehrerin nicht ohne sympathie. Vor eini-
ger Zeit gab es schon mal ein Drama um ihn,
ein Mädchen aus seiner Klasse hatte mit ihm
angebandelt, ihr großer Bruder mischte sich ein
und drohte Ahmad. Der streit eskalierte so hef-
tig, dass Ahmad für ein Jahr auf eine andere
schule wechseln musste.
und nun der Überfall auf Nadim. »Ich weiß,
dass das behindert war«, sagt Ahmad. »Wir wa-
ren außer Kontrolle.«
Ahmad und die drei anderen schläger hätten
»völlig unterschätzt, was sie tun und was das
auslöst«, sagt der sozialarbeiter an der schule,
thomas stretzke, der mit allen tatbeteiligten
gesprochen hat und täter wie Opfer aus der
Fußball-Ag kennt. »Nadim hat viel richtig ge-
macht, durch seinen Anwalt ist der Konflikt in
geordnete Bahnen gelenkt worden.« Im Be-
schluss des gerichtes heißt es: »sollte es zu
einem zufälligen oder auf andere Weise erfolgten
Zusammentreffen kommen, hat der Antrags-
gegner sofort einen Abstand von mindestens
fünf Metern herzustellen.« seitdem kreisen Na-
dim und Ahmad um ein an der wie zwei entfernte
Planeten eines sternensystems.
Die Anordnung des gerichts habe dazu ge-
führt, dass die si tua tion deeskaliert worden sei,
sagt der sozialarbeiter stretzke. Für Nadim habe
sie ein gefühl der sicherheit geschaffen. und
den tätern sei bewusst geworden, was sie getan
hätten; Ahmad habe die Auflage des gerichts
akzeptiert und gebe sich Mühe, Nadim aus dem
Weg zu gehen. »In diesem Fall war die gewalt-
schutzverfügung ein gutes Mittel.« Nadims An-
walt Andreas schulz nennt die Verfügung ein
»alternatives Instrument gegenüber konventio-
nellen Dis zi pli nar maß nah men«, das es zu er-
proben gelte.
Im Alltag wird die Auflage freilich kaum
über längere Zeit einzuhalten sein. Die Klassen-

Illustration: Lea Dohle

VERBRECHEN
DER KRIMINALPODCAST

EIN PODCAST ÜBER VERBRECHEN –
UND WAS SIE ÜBER DIE
MENSCHHEIT ERZÄHLEN
JETZT ANHÖREN:
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VON HOLGER STARK

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