Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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wir waren also insgesamt 30 Jahre beteiligt. Das heißt, die
jetzigen Zustände sind von uns in erheblichem Maß mit­
gestaltet worden. Die Gesellschaft ist offener geworden, sie
hat in der Bildungspolitik, der Vereinbarkeit von Familie
und Beruf durch das Zutun der SPD einen Riesensprung
nach vorn gemacht. Aber in dieser Zeit ist die Schere zwi­
schen Arm und Reich weiter aufgegangen. Das ist unge­
recht und schadet außerdem der Wirtschaft. Und deshalb
muss gefragt werden: Woran liegt das eigentlich?

War der Impuls von Kevin Kühnert richtig, die Eigentums-
verhältnisse grundsätzlich infrage zu stellen?


Ich halte nicht sämtliche seiner Ideen für das Gelbe vom Ei.
Aber die Frage zu stellen, wem die Globalisierung eigent­
lich nutzt und was man tun müsste, damit sie möglichst
allen nutzt und nicht nur einigen wenigen, ist richtig. Bei
der Digitalisierung geraten wir auf dasselbe Gleis. Darüber
nachzudenken und Lösungen zu finden heißt, die neue
Systemfrage zu stellen.
Nun bewerben sich verschiedene Teams in Doppelspitzen


um den Parteivorsitz, so eine Art politisches Menuett. Wie
finden Sie das?


Ich halte es für gut, dass die Partei die Chance hat, da mit­
zubestimmen. Ich habe weder etwas gegen eine Doppel­
spitze noch gegen eine Einzelperson, die den Parteivorsitz
übernimmt. Fest steht: Ob einer oder zwei, sie brauchen
einen langen Atem, um uns wieder unseren Markenkern
finden zu lassen.

Was ist der Markenkern?
Der Markenkern ist die soziale Gerechtigkeit, und die ist
durch diese große Ungleichheit zutiefst verletzt. Wir ha­
ben uns gesellschaftspolitisch ein ganzes Stück nach links
bewegt. Das ist gut. Aber wir haben uns gleichzeitig sozial­
politisch ein Stück zu weit nach rechts bewegt, und das ist
schlecht. Den durchschnittlichen Arbeitnehmer, die durch­
schnittliche Arbeitnehmerin interessiert die Ehe für alle nur


marginal. Das heißt nicht, dass das falsch ist. Im Gegenteil,
es ist richtig. Aber das haken die Leute als Nebensache ab.
Bei der Ehe für alle gab’s unter Martin Schulz einen Jubel, als
ob wir das Großereignis des Jahrhunderts zu feiern hätten.
Das war es aber nicht. Was die meisten mehr interessiert, ist:
Wie sieht meine Altersversorgung aus, wie komme ich über
den Monat, wie kriege ich meine Kinderbetreuung geregelt?
Wenn man Ihnen folgt, kann man nur zu dem Schluss
kommen, dass die SPD aus der großen Koa li tion rausmuss.
Die SPD hätte 2013 nicht mehr reingedurft. Obwohl ich
damals dafür gestimmt habe. Sigmar Gabriel hat uns da­
mals wirklich weich geknetet, anders kann man’s nicht sa­
gen. Und als Pragmatikerin dachte ich, es sei richtig. Aber
das war ... (zögert) das war eine Groko zu viel.
Haben Sie manchmal Angst um die SPD?
Ja, schon.
Noch mal werden Sie nicht für eine große Koa li tion stim-
men?
Nein.
Kann man sich überhaupt vorstellen, dass eine Parteifüh-
rung gewählt wird, die für die Fortführung der Regierung ist?
Es soll ja eine Bewertung der bisherigen Arbeit in der gro­
ßen Koa li tion vorgenommen werden und auch, ob noch
so viel Gemeinsamkeit da ist, dass es bis 2021 langt. Ich
sehe die großen Projekte nicht, mal abgesehen von der
Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, und da wird die
Union, wider besseres Wissen, wohl nicht zustimmen.
Martin Schulz hat gesagt, dass 80 Prozent unseres Wahl­
programms sich im Vertrag der großen Koa li tion befinden.
Das stimmt. Aber das zeigt nur, dass unsere Forderungen
zu bescheiden waren. Wenn man von 50 Jahren, ich sag’s
noch mal, über 30 mitgemischt hat, hat man irgendwann
den Kompromiss schon verinnerlicht. Ein bisschen mehr
Radikalität täte meiner guten alten SPD gut.
Radikalität in welcher Richtung?
Wie erreiche ich soziale Gerechtigkeit? Durch die Steuer­
politik und durch Transferleistungen. Es muss Umver­
teilung geben. Eigentum verpflichtet, das steht auch im
Grundgesetz. Und das muss man mit Leben füllen. Dass
jemand eine Immobilie kauft und die, ohne dass er irgend­
was dazu beiträgt, ein halbes Jahr später 20, vielleicht so­
gar 50 Prozent mehr wert ist, ist kein Menschenrecht. Und
das hat nichts mit Enteignung zu tun, sondern mit Ge­
rechtigkeit. Da radikaler zu sein schändet die SPD wahr­
haftig nicht! Und zum Markenkern gehört die Wieder­
entdeckung der Friedens­ und Entspannungspolitik statt
fantasieloser Debatten um Zwei­Prozent­Ziele bei den
Rüstungsausgaben.
Wir würden hier gerne einmal gleichzeitig zurück und nach
vorn springen. Sie haben vorhin erwähnt, welchen Bammel
Sie hatten, vor Leuten wie Brandt oder Wehner zu spre-
chen, und haben auch einmal erzählt, Sie hätten oft Bauch-
krämpfe gehabt, also richtig körperliche Reaktionen. Als
Sie die Bilder der zitternden Kanzlerin gesehen haben: Was
haben Sie da gedacht?

Mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl
(li.) und dem Münchner Oberbürgermeister
Georg Kronawitter 1991 auf dem Oktoberfest

Foto

picture alliance
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