Die Zeit - 08.08.2019

(C. Jardin) #1

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Dass sie sich zu viel zumutet. Sie ist 65 geworden, da ist
man heutzutage noch ganz gut bei ein an der, und sie hat
bestimmt auch eine gute ärztliche Versorgung. Aber wenn
ich mir die Wochen anschaue, die sie hinter sich hat, ist
das teilweise unmenschlich. Das hat nicht nur mit Frau
Merkel etwas zu tun. Ich habe das an mir selbst gesehen.
Als Familienministerin, und das ist im Vergleich ein klei-
nes Ressort, war ich in einer Woche mal in 17 unterschied-
lichen Städten, teilweise im Ausland. Und ich habe ja in je-
der Stadt etwas gemacht! Da wissen Sie nicht mehr, wo Sie
sind – und wem bringt das was? Kann man da noch nach-
denken? Ich erinnere mich, dass Hans Ulrich Kempski
von der Süddeutschen Zeitung beschrieben hat, wie Brandt
nach seinem Auftritt in Erfurt von Journalisten bedrängt
wurde, das einzuordnen. Und dann sagte Willy Brandt:
»Geben Sie mir zehn Tage Zeit, um mal nachzudenken.«
Stellen Sie sich mal vor, heute würde ein Politiker oder
eine Politikerin Ihnen sagen: Geben Sie mir doch mal bitte
zehn Tage Zeit, um über irgendein wesentliches Ereignis
nachzudenken und das einzuordnen. Sie würden denjeni-
gen oder diejenige für verrückt erklären. Das bringt uns
allen nichts, wenn man Politiker und Politikerinnen im
Hamsterrad rotieren lässt.
Tut die Kanzlerin Ihnen leid?
Leidtun ... nein, denn das ist ja dann doch irgendwo ihre
freie Entscheidung. Und es ist auch ihre Entscheidung,
wie lange sie das machen will und wie sie mit ihrem ge-
sundheitlichen Bulletin umgeht. Journalisten haben in
meinen Augen jedes Recht der Welt, nachzufragen, ob das
eine ernste Erkrankung ist. Aber sie müssen sich damit zu-
friedengeben, wenn ihnen gesagt wird: Nein, es ist keine
ernste Erkrankung.
Merkel hatte immer den Anspruch, dass sie es anders ma-
chen will mit dem Aufhören als die Kanzler vor ihr. Bisher
waren das immer Männer, die nicht gut loslassen konnten.
Würden Sie sagen, sie hat auch den richtigen Zeitpunkt ver-
passt, aufzuhören?
Sie hat immerhin selbst gesagt, ich kandidiere nicht mehr.
Allerdings hatte auch kein Mensch etwas anderes an-
genommen. Und jetzt ist sie eine Gefangene. Sie weiß,
dass die SPD niemand anders von der Union wählen wird,
wenn sie vor Ende der Legislatur aufhört. Also steckt sie
auf Gedeih und Verderb fest: Solange diese Groko dauert,
muss sie auch da sein.
Es gab dieses Bild der drei Frauen nebeneinander, Ursula
von der Leyen, die neue EU-Kommissionschefin, Merkel,
Kanzlerin, Annegret Kramp-Karrenbauer, Parteichefin und
jetzt auch Verteidigungsministerin. Das ist gefeiert worden
als Erfolg Merkels. Was sagen Sie?
Ich sage: Glück gehabt.
Wer hat Glück gehabt?
Frau Merkel. Sie hat Glück gehabt, dass diese Unfall serie so
ausgegangen ist. Frau von der Leyen wird sicherlich das eine
oder andere auf europäischer Ebene gut machen. Aber sie
ist alles andere gewesen als Merkels Wunschkandidatin, und

Annegret Kramp-Karrenbauer ist auch sicherlich nicht ihre
Wunschkandidatin als Verteidigungsministerin gewesen.
Wenn Sie das Bild sehen, sagen Sie dann: Wurscht, tolles
Ergebnis, ich freue mich, ein Sieg für die Frauen?
Ich weiß noch gar nicht, ob’s einer ist. Ich frage mich bei
Angela Merkel: Was hat sie denn in diesen ganzen Jahren
eigentlich wirklich selbst gewollt? Sie hat viele Krisen gut
bewältigt. Auf europäischer Ebene hat sie wohl am meisten
gewollt. Aber innenpolitisch wüsste ich nicht unbedingt,
was das wirklich war. Ich sehe nicht, welches Thema sie
wirklich bewegt. Wofür sie gekämpft hat.
Was denken Sie über all die jungen Frauen, die momen-
tan sehr laut und sichtbar kämpfen, über die »Fridays for
Future«?
Die finde ich gut. Ich finde, dass diese Generation jetzt ihre
Interessen vertreten muss, und die SPD muss schauen, dass
sie da den Anschluss nicht verliert.
Die 17-jährige Renate Schmidt wäre bei den »Fridays for
Future«-Demos dabei gewesen?
Ja. Ich habe sogar ein Buch geschrieben: Lasst unsere Kin-
der wählen. Es dürfen bei uns Menschen wählen, deren ge-
samte Angelegenheiten unter Betreuung stehen, also etwa
ein dementer 88-Jähriger in einem Altenheim. Und eine
15-Jährige aufgeschlossene »Fridays for Future«-Aktivistin,
die darf nicht wählen? Das ist doch absurd!
Sie haben fünf Enkel, vier davon sind Enkelinnen. Welche
Frau würden Sie denen als Vorbild empfehlen?
Dafür brauchen die mich nicht. Die finden in ihrer Gene-
ration die richtigen Leute, da bin ich ganz sicher.
Sind Sie heute, mit 75, eine größere Feministin, als Sie es
vielleicht mit 50 waren oder mit 35?
Das ist ziemlich gleich geblieben. Aber ich ärgere mich
heute vielleicht noch mehr, dass immer noch so wenig
junge Frauen, die so viel mehr Bildungschancen haben, aus
diesen Chancen genügend machen. Das ist mir unbegreif-
lich! Das verbreitete Lebensmodell ist immer noch: Es gibt
einen Hauptverdiener, das ist der Mann. Und dann gibt
es eine Zuverdienerin, die ist teilzeitbeschäftigt, das ist die
Ehefrau. Und zwar nicht etwa, weil sie von ihrem Mann
dazu geprügelt wird, nein, freiwillig, freiwillig!
Sind die Frauen zu bequem?
Manchmal ja.
Oder wollen sie es zu sehr allen recht machen? Da kommen
wir wieder auf den Anfang unseres Gesprächs.
Ja, sie übernehmen Verpflichtungen, weil sie nicht mit ih-
rem Partner rechtzeitig drüber sprechen, wie das eigentlich
ist, wenn Kinder kommen.
Sie haben mal gesagt, dass Sie immer ein bisschen zwischen
den Frauen und den Männern stehen, in so einer Mittelrolle.
Aus Sicht hundertprozentiger Feministinnen hatte ich
wohl häufig zu viel Verständnis für die Männer, und andere
Probleme waren mir genauso wichtig wie die Gleichstel-
lung. Aber ich würde mich niemals vom Feminismus tren-
nen lassen. Ich würde sagen: Immer wenn Feministinnen
Foto picture alliance beschimpft werden, dann bin ich eine Feministin.

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